150 Jahre nach der Gleichstellung sind die rund 18 000 Schweizer Jüdinnen und Juden ein integraler Bestandteil dieses Landes. Ihre Geschichte ist eine Erfolgsgeschichte, die jedoch mit enormen Anstrengungen verbunden war. Antisemitismus, Sicherheit und Religionsfreiheit bleiben zentrale Herausforderungen.
Seit über einem Jahr zieht der Schweizerische Israelitische Gemeindebund SIG mit einer Ausstellung zu «150 Jahren Gleichberechtigung Schweizer Juden» durch die Schweiz. Die Ausstellung hat eine Hauptaussage: Heute gestalten die rund 18 000 Schweizer Jüdinnen und Juden Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Kultur mit. Und: Schweizer Jüdinnen und Juden sind ganz normale Schweizer Bürgerinnen und Bürger. Wir sind nicht einfach gut integriert – wir sind ein integraler Bestandteil dieses Landes und dieser Gesellschaft geworden. Im Zusammenhang mit dieser Ausstellung betonen wir immer wieder, dass die Geschichte der Schweizer Juden seit der Gleichberechtigung eine Erfolgsgeschichte sei, eine Erfolgsgeschichte jedoch, in der es immer wieder Rückschläge gegeben hat: Der Weg zum heutigen Status war mit enormen Anstrengungen verbunden.
Wichtig ist hier zu betonen: Den Jüdinnen und Juden in der Schweiz geht es im Allgemeinen gut, sie sind respektiert, können ihre Religion meist frei leben und sich entfalten und sie leisten ihren Beitrag für eine offene und tolerante Gesellschaft. Und dennoch ist nicht alles einfach nur gut für die Schweizer Juden. Wir leben in einer Zeit zunehmender Herausforderungen, für Minderheiten allgemein, aber auch für die jüdische Gemeinschaft. In den letzten Jahren sehen wir uns vor allem mit drei Herausforderungen konfrontiert. Antisemitismus, Sicherheit und Religionsfreiheit sind die Schlagworte, die hier kurz geschildert werden.
Nicht neu ist der Antisemitismus, dem wir immer wieder begegnen. Der Antisemitismus sucht sich andere Ventile und Ausdrucksformen. Zwischen 10 und 20 Prozent der Schweizer Bevölkerung ist gegenüber Juden voreingenommen. Es gibt auch heute noch ein latentes Antisemitismus-Potential, das in Wellen an die Oberfläche dringt. Wenn Israel und die Palästinenser bewaffnete Konflikte austragen, erhalten wir jeweils Hass-Briefe von meist anonymen Personen. In den sozialen Medien wird Hass verbreitet oder gar zu Gewalt aufgerufen. Teilweise steckt hinter Antisemitismus schiere Unwissenheit. Unwissenheit lässt sich mit Bildung und Prävention verringern. Der SIG leistet seinen Beitrag dazu mit seinem Dialogprojekt Likrat. Wenn es um Prävention geht, sollte aber auch der Bund mehr tun, vor allem dort, wo er Jugendliche erreichen könnte, so zum Beispiel in den sozialen Medien.
Es mag absurd klingen, aber oft scheint es so, als habe sich die jüdische Gemeinschaft an den unterschwelligen und perfiden Antisemitismus gewöhnt. Neu sind weder der Antisemitismus, noch seine Ausdrucksformen. Während in der Deutschschweiz im Jahr 2014 viele antisemitische Vorfälle im Zusammenhang mit dem Gaza-Krieg registriert wurden, und ein wesentlicher Teil der Täter Muslime waren, stand das Jahr 2016 unter anderen Vorzeichen. Die gravierenden Vorfälle wurden aus dem rechtsextremen Spektrum registriert. Im Oktober 2016 fand in der Ostschweiz ein Konzert mit einschlägigen Neonazi-Bands statt. Daran nahmen rund 5000 Personen teil. Mehrere Bands, die an dem Anlass aufgetreten sind, haben Lieder mit antisemitischen Inhalten im Repertoire. Fotos vom Anlass zeigen Konzertbesucher, die den Hitlergruss machen. Ein weiterer gravierender Fall, der im Jahr 2016 publik wurde, ist ebenfalls der rechtsextremen Szene zuzuordnen: Mitglieder einer Neonazi-Band drohten in einem ihrer Songs Vertretern des SIG mit Mord. Zudem kündigen sie Bombenanschläge auf jüdische Einrichtungen in Zürich an.
Die Gefahr von Anschlägen ist auch in der Schweiz gestiegen. Heute kann es jeden überall treffen. Und es trifft leider auch uns Jüdinnen und Juden. Wir bleiben ein primäres Ziel. Die Behörden sagen schon seit mehreren Jahren, dass die Terrorgefahr gestiegen sei, und dass Juden und jüdische Einrichtungen wie Synagogen oder Gemeindehäuser besonders gefährdet seien. Die jüdischen Gemeinden, die es sich leisten können, investieren Unsummen in die Sicherheit. Einige unserer Synagogen und Gemeindehäuser gleichen Festungen. Kinder, die in jüdische Schulen gehen, passieren Sicherheitsschleusen und Wachpersonal, und sie üben, sich bei Angriffen richtig zu verhalten.
Im November 2016 wurde der Bericht über die Massnahmen des Bundes gegen Antisemitismus in der Schweiz veröffentlicht. Im Bericht wird zwar betont, dass der Staat gegenüber der jüdischen Gemeinschaft eine Schutzpflicht habe und dass die jüdischen Einrichtungen durch Terror besonders gefährdet seien. Auch wird festgehalten, dass der Schutz von jüdischen Einrichtungen eine Angelegenheit von nationaler Tragweite sei. Doch leider erwähnt dieser Bericht vor allem, was der Bund nichts tun könne, und es fehlten konkrete Informationen darüber, was der Staat tun kann.
Um zu klären, wo der Staat mehr tun könnte, hat der SIG beim Zürcher alt Regierungsrat Markus Notter ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben. Dieses kommt klar zum Schluss, dass die Verfassungsgrundlage besteht, die es erlaubt, den Schutz der jüdischen Gemeinschaft zu verstärken und ihre Sicherheitsanstrengungen mehr zu unterstützen. Unterstützung erhielt die jüdische Gemeinschaft auch vom Ständerat. Mitte März 2017 hat dieser die Motion «Schutz religiöser Gemeinschaften vor terroristischer und extremistischer Gewalt» von Daniel Jositsch ohne Gegenstimme angenommen. Das sind Zeichen, die uns Mut machen. Der politische Wille, die Situation zu verbessern, scheint da zu sein. Der Weg zum Ziel ist aber noch ein langer; die Herausforderungen bleiben. Inzwischen sind auch Bund und Kantone daran, pragmatische Lösungen auszuarbeiten. Eine davon ist die Idee einer Arbeitsgruppe, in welcher Vertreter des Bundes, der Kantone und der jüdischen Gemeinschaft Einsitz nehmen sollen. Der SIG begrüsst diese Idee und bietet Hand für eine konstruktive Zusammenarbeit.
Seit einigen Jahren wird die lange geltende Prämisse, wonach Religionsfreiheit ein wichtiges Gut ist, in Frage gestellt. Die Religionsfreiheit ist ein Grundrecht und wird durch die Bundesverfassung und die Europäische Menschenrechtskonvention garantiert. Sie ist ein wesentliches Element des demokratischen Rechtsstaats und gilt genauso für Minderheitsreligionen, welche auch weiterhin gegen Diskriminierung in der Religionsausübung geschützt werden müssen. Auch wenn uns bewusst ist, dass die Religionsfreiheit nicht absolut gilt und eingeschränkt werden kann, wenn sie mit anderen Grundrechten in Konflikt kommt, so soll dies kein Freibrief dafür sein, dieses Grundrecht per se einzuschränken.
Tatsache ist auch, dass die Bedeutung der Religion für viele Menschen abnimmt. Das Verständnis für religiöse Bedürfnisse schwindet. Schuldispensationen an jüdischen Feiertagen waren früher kein Problem, heute werden sie immer öfter verweigert. Forderungen nach strengeren Regeln zielen zwar meist auf die Muslime. Wer nach Kopftuchverboten ruft, bedenkt dabei oft nicht, dass damit auch die jüdische Kopfbedeckung ins Visier kommt.
Der hier geschilderte Fokus auf zentrale Problemfelder sollte die positiven Errungenschaften nicht in den Schatten stellen. Die jüdische Gemeinschaft ist in der Schweiz weitgehend akzeptiert. Und dort, wo es Probleme gibt, stellen wir uns diesen, indem wir uns gegen Antisemitismus und Vorurteile wehren und uns mit Vehemenz für unsere Anliegen einsetzen. Wir sind zuversichtlich, dass wir als kleine Minderheit diesen Herausforderungen gewachsen sind. Deshalb setzen wir uns weiterhin für eine offene und tolerante Schweiz ein, die ihre Minderheiten als Bereicherung versteht.
Les défis de la communauté juive de Suisse
(Kurzversion)
Le sfide della comunità ebraica in Svizzera
(Kurzversion)