Autorin
Annette Brunschwig ist Historikerin und Autorin von «Heimat Biel – Geschichte der Juden in einer Schweizer Stadt vom Spätmittelalter bis 1945».
annette@brunschwig.net
Die Stadt Biel hat die Juden seit Mitte des 19. Jahrhunderts mit offenen Armen empfangen. Dies zeigte sich vor allem in den dunklen Jahren des Nationalsozialismus, als sich die rote Stadtregierung heftig gegen den sich ausbreitenden Antisemitismus wehrte. Ein Beispiel dafür, wie das Verhalten von Behörden die Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung prägt.
Vom Mittelalter bis zum Einmarsch der napoleonischen Truppen 1798 gehörte Biel zum Fürstbistum Basel. Der Fürstbischof war sowohl weltliches auch als religiöses Oberhaupt. Mehrmals versuchte Biel, sich vom Fürstbischof zu lösen und sich der Eigenossenschaft anzuschliessen, aber die eidgenössischen Stände gewährten Biel nur zeitweise den Status eines zugewandten Ortes. Nach 1815 wurde Biel dem Kanton Bern zugeteilt.
Zwischen 1305 und 1451 wohnten mehrere jüdische Familien in Biel. Sie hatten, wie zu jener Zeit im Deutschen Reich üblich, einen Sonderstatus. Der städtische Rat erteilte ihnen einen Burgrechtsvertrag (eine Art Aufenthaltsbewilligung) mit Sonderrechten und -pflichten. Schon damals war der Rat grosszügig und gewährte den Juden einen für sie günstigen Vertrag, der ihnen viel Spielraum in Bezug auf Lebensumstände und Handel liess. Mitte des 15. Jahrhunderts wurden die Juden aus Biel vertrieben – möglicherweise auf Druck der eidgenössischen Orte, von denen die meisten zu diesem Zeitpunkt bereits alle ihre Juden vertrieben hatten.
Die Entwicklung Biels verlief im 17. und 18. Jahrhundert ähnlich wie jene anderer Kleinstädte. Die Stadt nahm im 17. Jahrhundert zwar protestantische Migranten aus Frankreich auf, begrenzte aber sonst die Aufnahme von Neubürgern. Wirtschaftliche Schwierigkeiten lösten Mitte des 19. Jahrhunderts ein grosses Umdenken in der Stadt aus. Biel erliess den Neuzuzügern das Einsassengeld (eine Aufnahmegebühr) und öffnete seine Tore den meist französischsprachigen Uhrenarbeitern. Als Folge davon wurde die Stadt zweisprachig; die Einwohnerzahl verdoppelte sich in kurzer Zeit.
In der frühen Neuzeit hielten sich Juden nur kurzfristig in der Stadt auf und hinterliessen kaum Spuren in den städtischen Akten. Zusammen mit den französischen Uhrenarbeitern zogen Mitte des 19. Jahrhunderts auch elsässische Juden nach Biel. Sie waren Vieh- und Pferdehändler, betrieben Ladengeschäfte und betätigten sich als Uhrenfabrikanten. Um 1900 lebten rund 400 Juden in Biel. Ausgelöst durch Pogrome Anfang des 20. Jahrhunderts im zaristischen Russland, suchten viele russische Juden ihr Heil im Westen. In vielen westeuropäischen Städten, so auch in Biel, entstanden ostjüdische Gemeinden, die sich von den Juden aus Westeuropa unterschieden. Die osteuropäischen Juden stammten aus dem extrem rückständigen, wenig industrialisierten Russland und waren meist viel religiöser als die akkulturierten Juden aus Westeuropa.
Schon 1848 wurde der jüdische Uhrmacher Louis Gerson aus Dresden als Einsasse in Biel aufgenommen. Er heiratete eine Christin und wurde ein erfolgreicher Uhrenfabrikant. 1866 wurde er in die Primarschulkommission gewählt, dies zu einem Zeitpunkt, in dem andere Kantone noch nicht einmal daran dachten, den Juden die freie Niederlassung zu gewähren. Möglicherweise war Louis Gerson einer der ersten Juden in der Schweiz, die in ein politisches Amt gewählt wurden.
Bemerkenswert ist auch die politische Karriere des jüdischen Uhrenfabrikanten René Blum-Goschler. Er war Mitglied des Parti radical romand, wurde 1897 in die städtische Steuerkommission, 1901 in die Finanzkommission und 1904 in die Geschäftsprüfungskommission gewählt. Als 1908 der Stadtrat erstmals nach dem Proporzsystem gewählt wurde, errang er einen Sitz im Stadtrat (in Biel die Legislative), dem er bis 1918 angehörte. Weitere politische Ämter hatten der Viehhändler Isaak Battegay, der Kaufmann David Picard-Levy, sowie Salomon Hess, Achille Dreyfuss, Jules Picard und Moïse Levy.
Bis 1916 wurden in Biel nur wenige Juden eingebürgert. Mehrere Einbürgerungsgesuche lehnte der Stadtrat ab, beispielsweise mit der Begründung, der Gesuchsteller beschäftige auswärtige israelitische Landsleute zu Schundpreisen und fabriziere minderwertige Uhrenprodukte. Mehr als 40 Juden liessen sich damals in kleineren Ortschaften im Umkreis von Biel einbürgern, so in Aegerten, Orpund oder Renan. Ab 1916 änderte Biel seine Einbürgerungspolitik. Zwischen 1916 und 1936 konnten sich über 40 jüdische Einzelpersonen und Familien in Biel einbürgern lassen. Die Einbürgerung kostete 300 Franken, für Jugendliche weniger. Das war sehr billig, bedenkt man, dass das benachbarte solothurnische Starrkirch schon 1882 tausend Franken verlangte. Die Stadt Biel nahm in der Zwischenkriegszeit mehr Juden ins Bürgerrecht auf als der ganze Kanton Solothurn zusammen.
1921 errangen die Sozialdemokraten in Stadt- und Gemeinderat eine Mehrheit. Unter Führung des Stadtpräsidenten Guido Müller begann eine neue Zeit für das «rote Biel». Als Antifaschist kämpfte Guido Müller auch im Nationalrat, dem er von 1925 bis 1943 angehörte, gegen die Flüchtlingspolitik des Bundesrates; er wehrte sich auch vehement gegen die Einführung des Judenstempels durch den Bundesrat.
1942 begannen die Deutschen in grossem Umfang Juden aus Belgien, Holland und Frankreich in den Osten zu deportieren. Nachdem die Wehrmacht im November 1942 in die bis dahin unbesetzte Zone Frankreichs einmarschiert war, forcierten die Nazis die Deportationen aus Südfrankreich. Viele jüdische Flüchtlinge versuchten in die Schweiz zu flüchten. Obwohl nur einem Teil von ihnen die Flucht gelang, überschritten zwischen Juni 1942 und März 1943 rund 9300 Flüchtlinge «illegal» die Schweizer Grenze.
Die Behörden verteilten die Flüchtlinge auf verschiedene Lager. Eines davon lag in Büren an der Aare, nur wenige Kilometer von Biel entfernt. Das «Conzentrationslager Büren an der Aare» unterstand der Armee. Das Leben im Lager war streng geordnet; die Flüchtlinge hatten fast keinen Ausgang; der Kontakt mit der Zivilbevölkerung und Besuche von aussen waren verboten. Gesundheitlich ging es den Flüchtlingen schlecht. Die meisten hatten nur ihre Sommerkleider bei sich; sie froren im Winter in den schlecht geheizten alten Militärbaracken. Die Internierten litten unter chronischem Hunger, waren erkältet und hatten Blasenprobleme. Gemäss UEK galten die verschiedenen Lagerkommandanten und ein Teil des Personals von Büren als notorische Antisemiten.
Im Herbst 1942 begannen die jüdischen Gemeinden von Biel und La Chaux-de-Fonds, unter ihren Mitgliedern Kleider, Schuhe, Wäsche und andere Artikel des täglichen Bedarfs für die Menschen in Büren zu sammeln. Im November 1942 lud der sozialdemokratische Stadtpräsident Guido Müller zu einer Konferenz ein, an welcher Gelder für die Flüchtlingshilfe gesammelt werden sollte. Er schrieb einen flammenden Aufruf: «Unser Volk ist gesonnen, das Asylrecht hoch zu halten. Es weiss, dass die Hilfe für die gehetzten Flüchtige Schweizer- und Christenpflicht ist. […] Wir Bieler wollen der Sammlung Erfolg verschaffen.» Ein neu gebildetes Komitee sammelte bei Firmen und Privatpersonen Naturalgaben, bei Ärzten und Apotheken Arzneimittel und gebrauchte Instrumente. Guido Müller beantragte dem Stadtrat, dem Komitee 2000 Franken für die Flüchtlingshilfe zukommen zu lassen. Am 16. Dezember 1942 machte das Komitee einen Aufruf an alle Lehrer und Rektoren, sämtliche Schüler über die aktuelle Not in Büren zu informieren und sie aufzufordern, «noch vor Schulschluss alles Entbehrliche zu Hause oder bei Bekannten zu sammeln und in die Schule zu bringen, [da] über tausend Insassen – Kinder, Frauen, Männer – vom Säugling bis zum Greisenalter – nachts in den wenig geheizten Baracken auf Strohlager frieren.» Die Bieler Flüchtlingshilfe führte im Januar 1943 eine Geldsammlung durch und brachte 8200 Franken zusammen, mit den jüdischen Geldern kamen insgesamt 10 000 Franken zusammen.
Der Faschismus und der Nationalsozialismus fanden im sozialdemokratischen Biel wenig Gehör. Es gab nur vereinzelt judenfeindliche Äusserungen, gegen Nazi-Plakate schritt Guido Müller sofort ein. Tätlicher Antisemitismus kam überhaupt nicht vor. Im Gegensatz zu Solothurn, wo ein beträchtlicher administrativer Antisemitismus herrschte, blieb dieser in Biel aus. Dies zeigt sich auch an der grossen Anzahl von Einbürgerungen, die Biel in den zwanziger und dreissiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts vorgenommen hatte.
Wenn man die Geschichte der Bieler Juden überblickt, fällt auf, wie entspannt das Verhältnis der Bieler zu den Juden in ihrer Stadt war und ist: keine Verfolgung im Mittelalter, kein administrativer Antisemitismus in den zwanziger und dreissiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, dafür grosse Hilfsbereitschaft und ein grosser Einsatz zu Zeiten der Flüchtlingsnot. Mit dem Sozialdemokraten Guido Müller, der von 1921 bis 1947 Stadtpräsident war, hatte Biel in der Zeit des Terrors des Nationalsozialismus einen wichtigen Kämpfer gegen den Antisemitismus und einen Verteidiger der Menschenrechte. Die Stadt ist auch ein Beispiel dafür, wie das Verhalten einer Regierung die Bevölkerung prägt und wie stark ein Stadtpräsident als Vorbild wirkt. Nicht zuletzt war aus der ursprünglich deutschsprachigen Stadt im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts eine zweisprachige Stadt geworden, die weit herum als Ideal für das friedliche Zusammenleben zweier Sprachgruppen galt. Auch dies ist ein Zeichen für Konsens.
Tolérance politique zéro pour les antisémites
(Kurzversion)
Tolleranza politica zero per gli antisemiti
(Kurzversion)