Autor
Dr. Christian Mathis ist Professor für Didaktik des Sachunterrichts an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz.
christian.mathis@fhnw.ch
Ein neues Lehrmittel für die Primarstufe setzt auf das Lernen an und mit Biografien. Anhand von Lebensgeschichten von jüdischen Frauen und Männern, die zur Zeit des Nationalsozialismus als zehn- bis dreizehnjährige Kinder in die Schweiz geflüchtet waren, wird der Holocaust in der Primarschule auf der individuellen Ebene thematisiert.
«Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung», stellte der Philosoph Theodor W. Adorno in Erziehung nach Auschwitz fest und setzte den bis heute zentralen Bezugspunkt der Diskussion über die Frage, ob der Holocaust in der Primarschule thematisiert werden soll. Oft wird dabei zu wenig beachtet, dass Adorno in dieser Rede unterstreicht, dass sich diese Erziehung auf die frühe Kindheit konzentrieren soll.
Die Shoah ist zwar nicht Lehrplaninhalt auf der Primarstufe, die Themen Zweiter Weltkrieg und Holocaust beschäftigen und interessieren jedoch manche Schülerinnen und Schüler bereits auf der Primarstufe. Bringen beispielsweise Kinder der fünften Klasse die Frage in die Schule, ob es stimme, dass Hitler fast so viele Menschen, wie heute in der Schweiz leben, umgebracht, vergast und verbrannt hat, sollte die Lehrperson darauf reagieren. Geht sie nicht darauf ein, werden Primarschulkindern gesellschaftlich wichtige Themen wie Holocaust und Nationalsozialismus vorenthalten. Detlef Pech spricht diesbezüglich von einem «Entmündigungsprozess». Um einer solchen Entwicklung vorzubeugen, wird derzeit von der Pädagogischen Hochschule FHNW mit Unterstützung der Fachstelle für Rassismusbekämpfung (EDI) und weiteren Stiftungen und dem Lehrmittelverlag Zürich ein geeignetes stufenadäquates Lehrmittel entwickelt.
Die Entwicklung des Lehrmittels basiert auf Erkenntnissen aus einer empirischen Studie zu Vorstellungen von Schülerinnen und Schülern fünfter Klassen zum Holocaust (Mathis & Urech 2013). Wir konnten zeigen, dass Kinder mit dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg im ausserschulischen Kontext konfrontiert werden: Fast alle nennen ihre Grosseltern als Quelle ihres Wissens. Auch Eltern – insbesondere die Mütter – antworten auf konkrete Fragen der Kinder. Daneben schliessen sie meist durch etwas ältere Kinder mit der Thematik Bekanntschaft. Neben dem Fernsehen – oft schauen die Kinder gemeinsam mit dem Vater fern – werden auch Bücher genannt, die häufig aus der Schulbibliothek stammen. Andere kommen über für ihre Altersgruppe in vielen Fällen nicht freigegebene Computerspiele mit dem Nationalsozialismus in Kontakt.
Die meisten Kinder wissen, dass die Schweiz Deutschland den Eisenbahntransit mit Waren gestattete. Ihnen ist also bewusst, dass die «unbeteiligte» Schweiz gar nicht so unbeteiligt war. Als Grund dafür nennen sie die Angst vor einem deutschen Einmarsch. Diese Angst legitimiert für die Kinder das Verhalten der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs, ihr Lavieren zwischen Anpassung und Widerstand. Erst nachdem die Schülerinnen und Schüler selber im Interview die Juden als Opfergruppe genannt hatten, wurden sie gefragt, was denn mit den Juden passiert sei. Auffällig war, dass ein grosser Teil der Kinder zuerst Begriffe wie «jagen», «erschiessen» und «vergasen» erwähnte. «Ja er hat sie eingesperrt und dann glaube ich mit Gas umgebracht oder so. Und auch erschossen vielleicht», meinte etwa ein Junge.
Für Raul Hilberg folgte der Vernichtungsprozess der Juden «einem inhärenten Schema» und umfasste «drei organisch aufeinander folgende Schritte»: «Definition-Konzentration-Vernichtung». Die Schülerinnen und Schüler haben vor allem eine Vorstellung von der dritten Phase. Zu den Strukturen und Mechanismen der nationalsozialistischen Herrschaft, der systematischen Verfolgung und Ermordung von Menschen fehlen diese jedoch fast ganz.
Der Holocaust ist für die Primarschülerinnen und -schüler eine Folge von Hitlers Verfolgungs- und Vernichtungswillen, welcher in erster Linie auf dessen religiös geprägten «Antipathie» gegenüber den Juden basiert. Die Person Adolf Hitler ist ein zentraler Dreh- und Angelpunkt der Schülervorstellungen. Andrea Becher sprach in diesem Zusammenhang von Hitler(zentr)ismus. Er ist der Übermächtige, der Verführer, der Gefürchtete, und er ist auch der Judenverfolger und der Hauptschuldige. Darin liegt einerseits ein Grund für das Fokussieren auf die Phase der Vernichtung. In den Vorstellungen der Kinder hat Hitler selbst als historischer Akteur auf allen Ebenen der Judenvernichtung gehandelt. Hitler ist in ihrer Vorstellung aktiv bei der Judenverfolgung, dem Holocaust als Ausführender dabei gewesen. Er hat die Juden «gejagt», «eingesperrt», «gefoltert», «erschossen», «vergast», «getötet». Andererseits verhindert der Hitler(zentr)ismus
den Aufbau korrekter Vorstellungen über die Struktur der nationalsozialistischen Herrschaft und die Durchsetzung der Judenpolitik.
In den Vorstellungen der Kinder unterscheiden sich «Juden» vor allem durch ihren Glauben von «uns». Von dieser «anderen Religion» haben die Kinder jedoch weder eine konkrete noch ein korrekte Vorstellung. Für einige Kinder schlägt sich diese Andersartigkeit im Aussehen nieder: «Ich glaube einfach nicht, dass die eine weisse Hautfarbe haben, sondern eine andere dunklere, und dann hat er die ausrotten wollen, weil er [Hitler] nur noch eine Rasse von Menschen haben wollte. Halt eben die Weissen.» Dieser Junge folgt hier der Argumentation der Nationalsozialisten und bezeichnet die Juden als Rasse. Für die Schülerinnen und Schüler gehören «wir» zu den Weissen und die Juden zu den «Nicht-Weissen». Zudem kolportieren einige Kinder antisemitische Stereotype: «[...] der Holocaust/ also [er hat] die Juden versucht umzubringen, weil sie reiche Geschäftsmänner waren und Geld hatten und Öl natürlich auch».
Zwei Erkenntnisse waren für die Gestaltung des Lehrmittels leitend: Den Kindern ist nicht bewusst, dass die Ausgrenzung und Entrechtung schrittweise erfolgte und dass nicht Hitler die Juden selbst eingesammelt und umgebracht hat. Zudem haben sie kaum eine Vorstellung, wer diese «Juden» überhaupt waren. Mit dem Konzept Lernen mit und an Biografien, das in den letzten Jahren breite Akzeptanz gefunden hat, soll die Thematik des Holocaust in der Primarschule auf der individuellen Ebene angegangen werden. Dabei steht die «Lebensmitte» einzelner Personen oder Gruppen im Zentrum. Die Individuen sind konkrete Persönlichkeiten, deren Perspektiven auf das Geschehen während ihrer jeweiligen Lebensabschnitte konsequent hervorgehoben werden. Durch den biografischen Zugang wird Kindern ermöglicht, sich in Perspektivenübernahme zu üben und Empathie zu entwickeln.
Für unser Lehrmittel haben wir Lebensgeschichten von jüdischen Frauen und Männern gesammelt, die als damals zehn- bis dreizehnjährige Kinder in die Schweiz geflüchtet waren. Die Schülerinnen und Schüler arbeiten konkret mit Lesekarten. Auf diesen befinden sich die nacherzählten Abschnitte der Lebensgeschichten der jüdischen Flüchtlingskinder mit je konkreten biografischen Aspekten (Ausgrenzung, Flucht, Ankunft u.a.). Zusätzlich sind Aufgaben zum Verständnis, Vernetzen und Weiterforschen formuliert. Zudem wurde die Lebensgeschichte eines aktuellen Flüchtlingskindes analog zu den historischen Beispielen aufgearbeitet.
Indem der Blick auf die individuelle Vergangenheit gerichtet wird, können die Lebensgeschichten der Flüchtlingskinder der Vergangenheit (bzw. Gegenwart) mit der eigenen Geschichte und Kindheit in Verbindung gebracht werden. Eine doppelte Bedeutung nimmt dabei das Vergleichen ein: Beim Herausarbeiten von Gemeinsamkeiten und Unterschieden, die möglicherweise befremdend wirken, können erstens «empathische Momente» entstehen. Zweitens werden die Lebensgeschichten mit den gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen, Ereignissen und Strukturen der Zeit verknüpft. So hilft etwa das Erstellen einer Zeitleiste, in welcher die lebensgeschichtlichen Ereignisse mit relevanten Eckdaten aus der Ereignisgeschichte eingearbeitet werden, die Bedeutung gesellschaftspolitischer Entwicklungen mit denjenigen auf individueller biografischer Ebene zu verknüpfen. Insbesondere die systematische Durchsetzung von laufend neu eingeführten Gesetzen und Massnahmen soll dabei als Bezugspunkt dienen. Es geht also um die Kontextualisierung des Individuellen im Allgemeinen. Als Massstab für die Werturteile der Schülerinnen und Schüler in der Gegenwart dient ihnen die Arbeit mit der von der Schweiz ratifizierten UN-Kinderrechtskonvention.
Das Lehrmittel wird derzeit im Unterricht in den Kantonen Aargau und Basel-Stadt erprobt und ist voraussichtlich ab Dezember 2017 beim Zürcher Lehrmittelverlag erhältlich.
Bibliografie:
Adorno, Theodor W. (131971): Erziehung nach Auschwitz, in: Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969, Frankfurt am Main.
Becher, Andrea (2009): Die Zeit des Holocaust in Vorstellungen von Grundschulkindern. Eine empirische Untersuchung im Kontext Holocaust Education, Oldenburg 2009.
Becher, Andrea (2010): «Juden sind hier unerwünscht». Kindheit im Nationalsozialismus anhand biografischer Zeugnisse, in: Weltwissen Sachunterricht, 1, S. 36-41.
Hilberg, Raul (91999): Die Vernichtung der europäischen Juden, 3 Bde., Frankfurt am Main.
Mathis, Christian & Urech, Natalie (2013): «... da hat man sie in Häuser eingesperrt und Gas reingetan». Vorstellungen von Schweizer Primarschülerinnen und -schülern zum Holocaust. In: Peter Gautschi, Meik Zülsdorf-Kersting, Béatrice Ziegler (Hrsg.): Shoa und Schule. Lehren und Lernen im 21. Jahrhundert, Zürich, S. 37-52.
Pech, Detlef (2006): unfassbar(,) ungeklärt. Reflexionen über sachunterrichtliche Bedeutungen einer Auseinandersetzung mit dem Holocaust in der Grundschule, in: Detlef Pech, Marcus Rauterberg, Katharina Stoklas (Hrsg.), Möglichkeiten und Relevanz der Auseinandersetzung mit dem Holocaust im Sachunterricht der Grundschule, www.widerstreit-sachunterricht.de, 3. beiheft, Frankfurt am Main, S. 58.