TANGRAM 48

Die Psychologie hinter der Polarisierung: Welche Rolle spielen Social Media?

Autor

Matthieu Vétois ist Doktor der Sozialpsychologie an der Universität Genf. Matthieu.Vetois@unige.ch

Soziale Netzwerke sind für die Verbreitung von Informationen und die soziale Interaktion unverzichtbar geworden. Aufgrund ihrer Funktionsweise stehen sie auch im Mittelpunkt eines kritischen Phänomens: der Polarisierung von Meinungen. Wenn wir den Ursprung und die Erscheinungsformen der Polarisierung besser verstehen, gelingt es uns, Strategien zu entwerfen, mit denen sich Polarisierungen vermeiden und der Online-Dialog konstruktiver gestalten lassen.

Viele aktuelle Themen polarisieren die Gesellschaft und führen zu heftigen Reaktionen in den sozialen Medien. Oft sind die Voten kategorisch, spaltend, lassen wenig Raum für Differenzierungen. Über Social Media werden auch schockierende und oft aus dem Kontext gerissene Informationen und Bilder verbreitet, was zusätzlich für Spannungen sorgt. Darüber hinaus sind politische Online-Diskussionen häufig von Feindseligkeit, Beleidigungen und Diskriminierung, insbesondere rassistischer Art, geprägt.

Auch zersetzt die Fülle an parteiischen – per Definition spaltenden – Inhalten und Falschinformationen, die in sozialen Netzwerken kursieren, das Vertrauen in die Fakten. Die Menschen ziehen sich in Bubbles zurück, was die Fronten polarisiert und es schwierig macht, sich auszutauschen, einander zu verstehen oder einen Konsens zu finden und zu bilden.

Doch was genau versteht man unter «Polarisierung» und was sind die Ursachen dafür? Soziale Netzwerke werden oft beschuldigt, das Phänomen zu verstärken, aber was genau ist ihre Rolle im Prozess, was sind die Folgen? Und schliesslich: Was ist zu tun, damit weniger polarisiert wird? Der vorliegende Artikel geht diesen Fragen aus dem Blickwinkel der Sozialpsychologie nach.

Die herangezogene Literatur bezieht sich hauptsächlich auf die USA und Westeuropa. Daher spiegelt die hier eingenommene Perspektive den soziokulturellen und politischen Kontext dieser Länder wider. Ganz allgemein gilt auch: Themen, die in einigen Ländern polarisierend wirken, können in anderen gesellschaftlich breit akzeptiert sein.

Polarisierung: Definition und zugrunde liegende Dynamik

Die Polarisierung zeigt sich sowohl in den Beziehungen zwischen Gruppen als auch im individuellen Verhalten innerhalb dieser Gruppen. Sie umfasst affektive, kognitive und motivationale Dimensionen, die insgesamt zu ihrer Stärkung beitragen (Jost et al. 2022).

In den Beziehungen zwischen Gruppen tritt eine Polarisierung dann auf, wenn sich kollektive Überzeugungen und Verhaltensweisen radikalisieren und sich eine Gruppe gegen eine andere stellt. Auf der individuellen Ebene äussert sie sich in einer Radikalisierung der Positionen, einer verstärkten Identifikation mit einer Gruppe sowie einer Ablehnung und Delegitimierung von Ideen, die von denjenigen unserer Gruppe abweichen.

Die Polarisierung kann eine affektive Dimension annehmen, wenn die Mitglieder gegnerischer Gruppen sich nicht nur in ihren Ideen gegeneinander abgrenzen, sondern auch Gefühle der Feindseligkeit entwickeln. In diesem Stadium können Individuen Emotionen wie Wut und Antipathie gegenüber Mitgliedern der anderen Gruppe empfinden, wodurch Spannungen und Konflikte verschärft werden. Als Reaktion auf die Schwierigkeiten oder das Leid von Mitgliedern der gegnerischen Gruppe können sie Befriedigung oder sogar Freude empfinden. Im Gegensatz dazu neigen Individuen dazu, mehr Empathie und Sympathie für die Mitglieder ihrer eigenen Gruppe aufzubringen und sich stärker zu empören, wenn sie Ungerechtigkeiten erleiden (Zaki 2014). In diesem Sinne tragen Emotionen zur Verstärkung der Polarisierung bei, da sie je nach Gruppenzugehörigkeit selektiv und differenziert erlebt werden.

Auch kognitive Verzerrungen spielen eine wichtige Rolle beim Phänomen der Polarisierung (Jost et al. 2022). Die Bestätigungsverzerrung (Confirmation Bias) veranlasst Individuen, Informationen, die ihre Überzeugungen bestätigen, zu bevorzugen, und Informationen, die ihnen entgegenlaufen, zu ignorieren: Diese verzerrte Auslegung der Realität stärkt ihre Überzeugungen. Die Illusion der Objektivität führt ausserdem dazu, dass Menschen eigene Verzerrungen unterschätzen, was die Fähigkeit, ihre Meinungen kritisch zu hinterfragen, einschränkt. Ausserdem entwickeln sie oft eine stereotype Wahrnehmung der Mitglieder der Gegengruppe, was mit verallgemeinerten oder auch festgefahrenen Ansichten einhergeht.

Auf der motivationalen Ebene schliesslich neigen Individuen dazu, ihre Überzeugungen und die ihrer Gruppe zu verteidigen, um ihr Selbstwertgefühl zu bewahren, was die Unterschiede verstärkt und die Offenheit für andere Meinungen schmälert.

Polarisierung in sozialen Netzwerken: die Rolle von Emotionen und Moral

Das Geschäftsmodell der sozialen Netzwerke, das im Erregen und Monetarisieren von Aufmerksamkeit besteht, spielt eine Schlüsselrolle bei der Polarisierung von Meinungen (Van Bavel et al. 2024). Wegen unserer Neigung, bevorzugt auf Reize zu reagieren, die emotional (Wut, Angst, Empathie) und moralisch (zweiwertige Urteile wie gut und böse) sind, rufen Inhalte, die solche Reize auslösen, besonders viel Social-Media-Engagement hervor und werden daher von diesen Plattformen bevorzugt (Brady et al. 2017). Dieser Mechanismus hat unter anderem dazu geführt, dass das Foto von Aylan Kurdi, dem syrischen Kind, das auf der Flucht aus seinem Land tot am Strand aufgefunden wurde, viral ging und die Empathie und Solidarität mit geflüchteten Menschen steigerte (Smith et al. 2018).

Diese Dynamik kann jedoch auch zu einer Verschärfung von Spaltungen und Konflikten führen. Da sie schockieren und Empörung erzeugen können, haben politische Postings, die Begriffe enthalten, die emotional («Hass», «Schande» usw.) oder moralisch («Krieg», «bestrafen» usw.) konnotiert sind, eine höhere Wahrscheinlichkeit, geteilt zu werden und somit viral zu gehen (Brady et al. 2017). Die Fokussierung auf emotionale und moralische Inhalte nährt die politische Spaltung, während differenziertere und weniger sensationsheischende Informationen weniger Aufmerksamkeit erregen.

Die Algorithmen sozialer Netzwerke machen sich unsere Neigung zunutze, stark auf emotionale und moralische Reize zu reagieren, indem sie die Verbreitung der Inhalte fördern, die am stärksten emotional aufgeladen sind und am ehesten moralische Reaktionen hervorrufen. Diese Inhalte werden so zu übernormalen Schlüsselreizen («supranormal stimuli») (Robertson et al. 2024). So gesehen ist auch Fastfood ein übernormaler Reiz, da es eine extreme Version von Lebensmitteln darstellt, die unsere angeborene Vorliebe für kalorienreiches Essen befriedigen.

Hinzu kommt, dass der Grossteil der in sozialen Netzwerken veröffentlichten Inhalte von einer Minderheit mit besonders extremen Ansichten erstellt wird. Eine Studie aus dem Jahr 2019 ergab, dass 97 Prozent der politischen Postings auf Twitter von nur 10 Prozent der am stärksten polarisierten und engagierten Nutzenden stammten, wodurch gemässigtere Meinungen der Mehrheit ausgeblendet werden (Atske 2019). So vermitteln die sozialen Netzwerke den Eindruck einer Gesellschaft, die stärker polarisiert zu sein scheint, als sie es tatsächlich ist.

Unklar ist, ob soziale Netzwerke die Entstehung von Echokammern fördern, in denen der oder die Einzelne nur Informationen sieht, die mit den eigenen Ansichten übereinstimmen. Die wissenschaftliche Literatur zum Thema ist uneinig. Auf der einen Seite zirkulieren moralische und emotionale Inhalte vor allem innerhalb derselben politischen Gruppen, was die Idee der Echokammern bestätigt (Brady et al. 2017). Auf der anderen Seite setzen soziale Netzwerke die Menschen einer Vielzahl von divergierenden Perspektiven aus, was paradoxerweise die Polarisierung verstärken kann (Bail 2023).

Konflikte, Identitätsdynamiken und soziale Netzwerke

Konflikte und ausgesprochene Feindseligkeit zwischen Gruppen erhöhen das Social-Media-Engagement (Rathje et al. 2021). Angehörige gegnerischer Gruppen zu kritisieren oder lächerlich zu machen, ist daher ein wirksames Mittel, um Aufmerksamkeit zu erregen. Die Erwähnung politischer Gegnerinnen und Gegner in sozialen Netzwerken löst in der Tat intensive emotionale Reaktionen wie Wut oder Spott aus, verstärkt das Engagement und trägt zur Polarisierung bei.

Soziale Netzwerke eignen sich auch, um Treue zu einer bestimmten Gruppe zu demonstrieren und diejenigen zu tadeln, die von den in der Gruppe geteilten Normen abweichen (Van Bavel et al. 2024). So kann das Sich-Empören über ein politisches Thema nicht nur dem Bedürfnis entsprechen, seine Meinung zu äussern, sondern auch dazu dienen, die eigene ideologische Ausrichtung und die Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu signalisieren. Ausserdem stärkt Empörung über und Kritik an Personen, die von den Gruppennormen abweichen oder sich gegen die Gruppe stellen, indirekt den Ruf als loyales und zuverlässiges Mitglied der Gruppe, was wiederum zu einem höheren sozialen Status führt. Aufgrund ihrer Funktionsweise begünstigen soziale Netzwerke bestimmte Formen des Engagements wie moralische Empörung, «Shaming» und Vergeltung gegen diejenigen, die vermeintlich die Gruppenwerte missachten.

Schliesslich enthemmt die Anonymität in sozialen Netzwerken auch manche Menschen, die sich ermutigt fühlen, Meinungen und Emotionen zu äussern, die sie im persönlichen Gespräch aus Angst nicht aussprechen würden (Nitschinsk et al. 2022). Die relative Straffreiheit im Netz begünstigt feindseliges Verhalten, während rückverfolgbare Kommentare in der Regel weniger hetzerisch sind (Cho et al. 2015).

Die Auswirkungen der Polarisierung auf soziale Netzwerke

Auch wenn soziale Netzwerke eine starke «wahrgenommene» Polarisierung begünstigen, ist diese nicht unbedingt repräsentativ für die «tatsächliche» Polarisierung. Denn die Mehrheit hat oft eine breiter abgestützte, weniger dezidierte Meinung als jene, die in Netzwerken geäussert wird, oder sie hat gar keine Meinung. Die Wahrnehmung einer starken Polarisierung kann jedoch Menschen mit gemässigten Meinungen davon abhalten, sich in sozialen Netzwerken zu äussern, aus Angst, von Personen mit schärferen Ansichten angegriffen zu werden (Bail 2023).

Die häufige Exposition gegenüber polarisierten Diskursen in sozialen Netzwerken fördert darüber hinaus eine dichotome Denkweise, die differenzierte Urteile einschränkt (Jackson et al. 2023). Auf der affektiven Ebene kann eine Überexposition an emotionalen Inhalten zu Hilflosigkeit oder auch zu einem Verlust von Empathie für das Leiden anderer führen (Robertson et al. 2024). Darüber hinaus desensibilisiert die wiederholte Exposition gegenüber Online-Hassreden, insbesondere gegen Migranten oder Menschen muslimischen Glaubens, für die Tragweite solcher Aussagen, wodurch die Toleranz gegenüber Diskriminierung und Vorurteilen steigt (Bilewicz et al. 2020). In Frankreich hat eine Studie gezeigt, dass die häufige Exposition gegenüber negativen Medieninhalten über Einwanderung, insbesondere in sozialen Netzwerken, den Glauben daran stärkt, dass die einwanderungsfeindliche Ideologie der extremen Rechten verbreitet und populär ist, das emotionale Unbehagen gegenüber dieser Ideologie verringert und ihre Unterstützung erhöht (Vétois et al. 2024). Das legt nahe, dass soziale Netzwerke zur Normalisierung extremer und diskriminierender Diskurse beitragen können.

Wie lässt sich die Polarisierung in sozialen Medien verringern?

Polarisierung in sozialen Netzwerken muss nicht sein, es gibt Lösungen, um ihr entgegenzuwirken. So untersuchte eine Studie die Effektivität von Faktencheckern bei der Bekämpfung von parteipolitischen Desinformationen über Zuwanderung (Hameleers et al. 2020). Sie zeigte, dass die Polarisierung dank der Faktenchecks tatsächlich reduziert werden konnte: Die Zustimmung zu Falschinformationen liess nach und gleichzeitig wurden die Positionen gemässigter geäussert. Eine neuere Studie wies zudem nach, dass eine empathische Perspektive und eine konfliktfreie Haltung in sozialen Netzwerken die Feindseligkeit gegenüber Mitgliedern einer gegnerischen politischen Gruppe verringern kann (Saveski et al. 2022). Schliesslich belegt eine weitere Studie die Bedeutung von intellektueller Bescheidenheit für die Abschwächung von Polarisierung, also die Fähigkeit, sich und anderen einzugestehen, dass Überzeugungen und Wissen auch falsch und begrenzt sein können (Knöchelmann et al. 2024). Laut dieser Studie waren Teilnehmende, die intellektuelle Bescheidenheit zeigten, weniger feindselig gegenüber Menschen mit anderen Ansichten. Darüber hinaus stärke intellektuelle Bescheidenheit eine positivere Sicht auf die gegnerischen politischen Gruppen und die Bereitschaft zu einem interfraktionellen Dialog.

Fazit: der Polarisierung kritisch begegnen

Eine sozialpsychologische Analyse der Problematik zeigt insgesamt, dass soziale Netzwerke einen Nährboden für Polarisierung bieten: Die Viralität emotionaler, moralischer und extremer Inhalte, das Bedürfnis der Nutzenden, ihre Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu signalisieren, und ihre Neigung, die Werte dieser Gruppe zu verteidigen, bilden einen explosiven Cocktail. Die Literatur zeigt jedoch auch, dass es möglich ist, diese Polarisierung abzuschwächen, indem man den Einsatz von Faktencheckern fördert, Empathie stärkt, die Distanzierung von polarisierenden Inhalten unterstützt und intellektuelle Bescheidenheit kultiviert.

Dennoch ist es wichtig, die Polarisierung und die Interventionen zu ihrer Vermeidung kritisch zu betrachten. Heute werden viele soziale Konflikte unter dem Aspekt der Polarisierung analysiert. Dieser Ansatz setzt jedoch implizit voraus, dass die polarisierten Gruppen gleichberechtigt sind, was nicht immer der Fall ist. In Wirklichkeit bestehen oft Ungleichheiten zwischen diesen Gruppen. So führt etwa der Kampf für Grundrechte, gegen Unterdrückung und Diskriminierung häufig zu Polarisierungen. In diesen Kontexten fordern die Mitglieder benachteiligter Gruppen die Anerkennung ihrer Rechte, während sich die Mitglieder privilegierter Gruppen dagegen wehren, um den Status quo zu ihren Gunsten zu erhalten. In solchen Fällen ist es relevant zu fragen, ob das Problem in der Polarisierung selbst oder eher in den Ungleichheiten zwischen den Gruppen liegt. Tritt die Polarisierung zwischen Gruppen mit ungleichem Status auf, muss der Nutzen von Interventionen zur Verringerung der Polarisierung infrage gestellt werden.

Untersuchungen haben gezeigt, dass in solchen Situationen die Mitglieder polarisierter Gruppen zu ermutigen, Kontakte zu knüpfen und eine konfliktfreie Perspektive einzunehmen, den ungleichen Status quo nicht verändert. Im Gegenteil: Solche Interventionen lenkten von den politischen Massnahmen ab, die notwendig sind, um Gleichheit herzustellen und die Unterdrückung der benachteiligten Gruppe zu beenden (Hakim et al., 2023). Es kann zudem paternalistisch wirken, Mitglieder von Gruppen, deren Rechte verletzt werden, zu intellektueller Bescheidenheit aufzurufen, selbst wenn ihr Kampf zu Polarisierungen führt. Derartige Interventionen scheinen besser geeignet, wenn die polarisierten Gruppen gleichberechtigt sind.

Die Quellen und bibliographischen Hinweise sind im PDF angegeben.