Autoren
Hannan Salamat, Kulturwissenschaftlerin, kreiert und kuratiert Räume in deutschsprachigen Regionen, die sich mit pluraler Demokratie, Erinnerungskultur, Intersektionalität und Verbundenheit auseinandersetzen. Sie ist seit 2019 bei der Stiftung ZIID.
Dina Wyler hat in Zürich und Boston Politikwissenschaften, internationale Beziehungen und Religion studiert. Ihre Schwerpunkte sind Antisemitismus, (jüdischer) Pluralismus und Schweizer Erinnerungskultur.
Die heutige Gesellschaft ist multipolarisiert und unsere Identitäten mehrdimensional. Daher lohnt sich die Frage, wie der Zusammenhalt in der Gesellschaft gestärkt werden kann. Hannan Salamat und Dina Wyler über ihre Arbeit im Zürcher Institut für interreligiösen Dialog.
Das Zürcher Institut für Interreligiösen Dialog (ZIID) leistet seit vielen Jahren einen kontinuierlichen Beitrag zum gegenseitigen Verständnis und zur Förderung des Zusammenlebens in unserer pluralistischen und mehrperspektivischen Gesellschaft. Lag der Fokus des ZIID anfänglich noch auf der «Erkundung des Anderen», seiner religiösen Rituale und Feiertage, liegt der Schwerpunkt heute auf der grundlegenden Frage, welche Rolle religiöse Pluralität in der Gesellschaft spielt. Aufgrund dieser Entwicklungen stossen wir bei unserer Arbeit immer noch auf ein etwas veraltetes Bild des interreligiösen Dialogs als theologisches Gespräch zwischen einem Rabbi, einem Pfarrer und einem Iman. Diese Gespräche sind wichtig und finden immer noch statt. Unsere Arbeit zielt jedoch auf ein breiteres Publikum ab mit komplexen und vielschichtigen religiösen Identitäten – also auf die post-migrantische Gesellschaft, welche die Schweiz heute ist. Es geht darum, die stereotype Vorstellung von homogenen, nebeneinander existierenden Religionsgemeinschaften zu hinterfragen und einen Dialog zu fördern, der die individuellen religiösen Erfahrungen und Identitäten der Menschen in den Mittelpunkt stellt. Man kann nämlich eine religiöse Identität haben, ohne sich als religiös zu definieren oder Teil einer organisierten Religionsgemeinschaft zu sein. Auch kann diese Identität aufgrund von rassistischen Fremdzuschreibungen Menschen von aussen herangetragen werden – wie z. B. aufgrund des Aussehens als Muslimin oder Muslim gelesen zu werden.
In der Schweiz sind bestehende Projekte oft auf der Ebene der Begegnung angesiedelt, was sicherlich wichtig ist und einen bedeutenden Anfang darstellen kann. Um den strukturellen Herausforderungen von Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus entgegenzuwirken, reichen Begegnungen allein jedoch nicht aus. Hier setzt das Projekt «not_your_bubble» des ZIID an. Das Projekt bietet eine Plattform an der Schnittstelle zu Kultur, Politik und Zivilgesellschaft und erschliesst neue Räume für junge, engagierte Menschen, die den öffentlichen Diskurs mitgestalten wollen. Mit unterschiedlichen kulturellen Veranstaltungen werden muslimische, jüdische und postmigrantische Perspektiven sichtbar gemacht, und sie treten selbstbestimmt in den Dialog. Ein Kernanliegen des Projektes ist, Themen selbst zu setzen und aus dem Reaktionsmodus, welche jüdische und muslimische Menschen oftmals erfahren, auszusteigen. Dabei entstehen Formate wie beispielsweise das «Transalpine Festival», an dem deutsche, österreichische und Schweizer Kunstschaffende, Initiativen und Kollektive übergreifende Themenschwerpunkte setzten. Mit der Schaffung von neuen Kategorien und der Verschiebung der Perspektive von Differenzen hin zu Ermächtigungen kann der nächste Schritt nach der Identitätspolitik vollzogen werden. Neben Panelgesprächen diente insbesondere Kunst als Medium, um Räume zu schaffen, in denen das binäre Denken überwunden werden kann. Alle Veranstaltungen bezogen sich inhaltlich aufeinander und wurden intersektional konzipiert. Dadurch entstanden gemischte Räume im Publikum, in denen sowohl jüdische als auch muslimische Teilnehmende sassen. Solche Erfahrungen zu schaffen ist elementar, um der Polarisierung entgegenzuwirken. Viele Teilnehmende berichteten nach dem Festival, dass sie sich selten in Räumen so sicher gefühlt hätten und dass ihre Perspektiven und Identitäten gesehen und gehört worden seien. Wer nicht in solchen intersektionalen Gemeinschaften aktiv ist, läuft eher Gefahr, in partikulares Denken abzudriften.
Nach dem 7. Oktober 2023 riefen die breite Öffentlichkeit und vor allem Medienschaffende verstärkt nach sichtbaren jüdisch-muslimischen Allianzen und interreligiösem Frieden. Entsprechend wurden in öffentlichen Diskussionen viel Erwartung und Druck auf den interreligiösen Dialog ausgeübt. Diese Erwartungen stehen jedoch im krassen Widerspruch zu den vorhandenen Ressourcen: So waren in Deutschland im Sommer 2023 öffentliche Gelder für die entsprechende Bildungsarbeit gekürzt worden. Auch in der Schweiz wird diese Arbeit von öffentlicher Seite kaum finanziert. Es genügt eben nicht, erst dann zu fördern, wenn die Not bereits akut ist. Diese Arbeit innerhalb der Communities braucht Zeit und sollte nicht erst in der Krise gefördert und vor allem eingefordert werden. Aufgrund dieser Gegebenheiten gestaltete sich die Suche nach «sichtbaren» Allianzen nach dem 7. Oktober 2023 als Herausforderung – auch in der Schweiz. Gerne zeigte man auf diejenigen Projekte, die zerbrochen oder gescheitert waren. Letztlich führte dieser öffentliche Erwartungsdruck dazu, dass die oftmals noch jungen und fragilen Allianzen erkannten, dass sie sich dem öffentlichen Raum entziehen müssen, um tiefere Wurzeln schlagen zu können und am Positionierungsdruck von aussen nicht zu zerbrechen.
Was in den vergangenen Monaten auf jüdisch-muslimische Themen projiziert wurde, zeigt im Grund die Polarisierung der Gesellschaft und die allgemein fehlende Dialog- und Pluralitätskompetenz. Dialog- und Pluralitätskompetenz bedeutet, Ambiguitäten auszuhalten, Gleichzeitigkeiten anzuerkennen und sich die gegenseitigen Erfahrungen und Perspektiven nicht abzusprechen. Diese Arbeit sollte nicht nur von Communities eingefordert und geübt werden, die vom Nahostkonflikt direkt betroffen sind. Gerade Nicht-Betroffene sollten hier Verantwortung übernehmen und den sozialen Zusammenhalt in der Schweiz unterstützen, statt sich an den oftmals bereits aufgeheizten Debatten zu beteiligen. Denn was häufig vergessen geht: Die enormen Polarisierungen bestehen nicht erst seit dem 7. Oktober 2023, sondern sind schon lange andauernde Symptome einer Gesellschaft, die zu wenig resilient ist gegenüber Krisen, die Vieldeutigkeit zu wenig anerkennt und wenig Sensibilität gegenüber Narrativen hat, die Minderheiten problematisiert und unter Generalverdacht stellt – kurz gesagt: eine Gesellschaft, die in Entweder-oder-Mustern denkt.