TANGRAM 44

Wie Kolonialismus und Rassismus zusammenspielen

Autor

Karl Johannes Rechsteiner ist Präsident der Stiftung Cooperaxion für nachhaltige Entwicklung und interkulturellen Austausch. karl.rechsteiner@cooperaxion.org

Entwicklungszusammenarbeit braucht ein Bewusstsein für die Vergangenheit und ein Verständnis für globale Verbindungen. Deshalb arbeitet die Stiftung Cooperaxion entlang der historischen Routen des so genannten Dreieckhandels in Liberia, Brasilien und der Schweiz. Die koloniale Verwicklung der Schweiz hat rassistische Vorstellungen von heute entscheidend geprägt.

Die Debatte rund um «Black lives matter» fördert in rasantem Tempo auch das Bewusstsein für koloniale Geschichte, auch in der Schweiz. Viele Erkenntnisse von Forscherinnen und Forschern der letzten Jahrzehnte gelangen endlich an eine breite Öffentlichkeit. Während einer Diskussion über die hiesige Beteiligung an Sklaverei auf Facebook postet jemand: «Viel nützlicher ist es, vorwärts statt rückwärts zu schauen.» Es ist eine typische Reaktion beim Erzählen kolonialer Geschichten. Genau: Sklaverei, Ausbeutung, neo-koloniale Verhältnisse und Rassismus bestehen leider auch heute – es sind himmelschreiende Ungerechtigkeiten.

Doch Rassismus von heute ist nicht denkbar ohne den historischen Kontext. Denn der transatlantische Waren- und Sklavenhandel des 16. bis 19. Jahrhunderts hat unsere Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur nachhaltig beeinflusst. Die Schweiz, damals die Helvetische Konföderation, war weder Kolonialmacht noch Seefahrernation. Doch auf verschiedenen Ebenen waren Menschen und Institutionen in den Kolonialismus involviert:


Auswanderung
Menschen verliessen die Schweiz aus wirtschaftlicher Not oder um neue Profite zu machen. Diese Migration war gleichzeitig oft eine Kolonialisierung. Neue Siedlungen und Plantagen führten wie etwa in New Bern in den USA zur Vertreibung und Zerstörung des einheimischen Volkes der Tuscarora.

Handel
Schweizer Kaufleute handelten mit Kolonialwaren wie Zucker, Tabak, Kaffee oder Baumwolle. Sie produzierten Indiennes-Stoffe für den Export und den Tauschhandel mit versklavten Menschen zum Beispiel in Westafrika.

Finanzierung
Bankiers, reiche Familien und auch staatliche Akteure wie die Republik Bern finanzierten über Aktien oder Versicherungen den Sklavenhandel mit. Ihre Sklavenschiffe hiessen zum Beispiel «La ville de Bâle» oder «Hélvetie».

Fremddienste
Zwischen 1450 und 1850 leisteten über eine Million Schweizer fremde Kriegsdienste. In manchen Dörfern waren über zehn Prozent der Bevölkerung als Söldner tätig. In den niederländischen Kolonien halfen ganze Regimenter aus Bern, Sklavenaufstände niederzuschlagen. Die Söldner kehrten oft nicht mehr heim, ihre Offiziere machten gute Profite.

Koloniales Denken
Wissenschaftler und Forscher entwickelten und verbreiteten «wissenschaftlichen Rassismus» und rechtfertigten damit die Sklaverei.

Abolitionismus
Vor allem in der Westschweiz engagierten sich kirchliche Kreise und Persönlichkeiten wie Madame de Staël für die Abschaffung der Sklaverei. Ihre Groupe de Coppet war ein wichtiges Bindeglied für den Kampf gegen die Sklaverei in England und Frankreich.

Das koloniale Denken gehört in der Schweiz untrennbar zusammen mit der gleichzeitigen Inszenierung des Landes mit dem Alpenmythos als Teil helvetischer Identität. «Unsere Wilden» aus den Bergen galten als zivilisierter als Menschen mit anderer Hautfarbe, die an Völkerschauen und in Menschenzoos vorgeführt wurden. Die auch aus touristischen Interessen geförderte Folklore von Trachten bis Alphorn grenzte uns ab gegen die «Anderen». Beim «Othering» unterscheiden wir uns gezielt von «Anderen» und begründen so das «Eigene». Kein Wunder lag an einer Landesausstellung ein «Negerdorf» nicht weit entfernt vom «Walliser Dorf».

Um strukturellen Rassismus und Reproduktion zu überwinden, braucht es also Arbeit an der Identität. Die künstliche nationalistische Perspektive zu überwinden, wird noch viele Emotionen auslösen, wie die Diskussion um den Namen des ‚Schoggigupfs‘ zeigt. Dass es auch anders geht, zeigt meine Erfahrung als Volksmusiker: Wenn ich eine Appenzeller Masollke anstimme, klingen Mazurkas vom Balkan mit. Beim ‚Vreneli ab em Guggisberg‘ ertönt ein Moll von Sinti und Roma. Spielt mein Vater dazu Hackbrett wie Menschen in Indien oder im Balkan, ist es offensichtlich, dass Einflüsse aus aller Welt uns entscheidend geprägt haben und bereichern.

Links:
Datenbank der im Sklavenhandel involvierten Schweizer: www.cooperaxion.ch
Online-Stadtplan von Bern mit historischen Spuren: www.bern-kolonial.ch