TANGRAM 36

Editorial

Martine Brunschwig Graf ist Präsidentin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus EKR

Wozu dient die Rassismusstrafnorm? Um zu bestrafen, wenn es nötig ist. Um dem Rechtsstaat ein Instrument zu geben, das Grenzen anzeigt, die nicht überschritten werden dürfen. Um denjenigen Personen oder Gruppen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die wegen ihrer Hautfarbe oder der Zugehörigkeit zu einer Ethnie oder Religion in ihrer Würde verletzt wurden. Um öffentliche Hassreden zu ahnden.

Die Rassismusstrafnorm – der berühmte Artikel 261bis – ist zwanzigjährig, doch die Diskussion über seine Berechtigung hat nie aufgehört. Auch das neu gewählte Parlament wird wohl darüber debattieren. Das Urteil der Grossen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – Entscheid Perinçek – betreffend die Leugnung des Völkermords an den Armeniern ist ein Anlass, die Debatte wieder auf die Tagesordnung zu setzen.

Wir wollen an dieser Stelle den Entscheid nicht kommentieren. Es braucht eine vertiefte Analyse der Gründe, die den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu diesem, mit einer nicht sehr deutlichen Mehrheit von 10 zu 7 gefällten Entscheid geführt hat. Wir können jedoch heute schon sagen, dass das Strassburger Urteil die Rassismusstrafnorm nicht in Frage stellt. Im Gegenteil, es gilt zu betonen, dass die Richter in Strassburg die Hassrede als Strafbestand anerkannt haben, auch wenn sie in Perinçeks Aussagen und Schriften nicht deren Merkmale gesehen haben.

Der Europäische Gerichtshof hat dem Entscheid des Bundesgerichts und dessen Auslegung eines Artikels des Strafgesetzbuchs zwar widersprochen, das bedeutet jedoch nicht eine Infragestellung der Relevanz dieses Artikels. Die meisten Artikel des Strafgesetzbuchs haben einen Interpretationsspielraum, was die Justiz menschlich macht und von einem unkritischen mechanischen Denken unterscheidet.

Wir brauchen heute mehr denn je eine Barriere gegen Worte und Taten, die die menschliche Würde verletzen. Das ist das eigentliche Gegengewicht zur Meinungsäusserungsfreiheit, die meistens privilegiert wird, wenn die Richter sie gegen andere Rechte in die Waagschale legen müssen. Die Freiheit ist ein zentraler Wert unserer demokratischen Gesellschaft. Aber es ist nicht der einzige. Es sind da auch noch der Respekt und die Verantwortung.

Wer bewusst öffentlich die Würde einer Person verletzt und ihr nicht den allen Menschen geschuldeten Respekt entgegenbringt, soll bestraft werden. Die Rassismusstrafnorm ist das Instrument zur Bestrafung derjenigen Personen, die andere Menschen wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Ethnie oder ihrer Religion in ihrer Würde verletzen. Auch wer mit seinen Reden, Schriften oder öffentlichen Handlungen zu Hass aufruft, muss sanktioniert und für sein Handeln zur Verantwortung gezogen werden.

Die Rechtssituation in der Schweiz erlaubt die Ausübung der Meinungsäusserungsfreiheit jeder Person ohne Vorzensurierung. Dies bedeutet, dass a priori jedermann sagen und schreiben kann, was er will. So konnte man beispielsweise in den sozialen Medien Aufrufe zur «Exekution der Neger» lesen, oder zu einer Neuauflage der «Kristallnacht» für Muslime, zur «Beendigung der Arbeit, die Hitler begonnen hat» mit den Juden usw. Wer kann etwas dagegen haben, dass solche Hassreden strafrechtlich verfolgt werden? Die Strafnorm aufzuheben würde bedeuten, solche Äusserungen im Nachhinein zu rehabilitieren und Anreiz für weitere zu schaffen.

Es ist Zeit, über die wahren Probleme zu reden.