TANGRAM 36

«Ich bin 16 Jahre alt … und ich kann etwas bewirken.»

Autorin

Dr. Giulia Brogini ist seit Oktober 2014 Leiterin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus EKR.
giulia.brogini@gs-edi.admin.ch

Die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus EKR lancierte 2015 die Kampagne «Bunte Schweiz» anlässlich des 20-jährigen Jubiläums der Annahme der Strafnorm gegen Rassendiskriminierung, des Beitritts der Schweiz zum Internationalen Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung und der Gründung der Kommission. Während der fünfmonatigen Kampagne konnten Jugendliche der ganzen Schweiz eine virtuelle Plattform zur freien Gestaltung nutzen. Das Ziel der Kampagne war einerseits die Mobilisierung von Jugendlichen, andererseits die konkrete Bekämpfung von Hassreden im Internet und in den Sozialen Medien.

Anfang September 2015 erhielt das Sekretariat der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus ein E-Mail von einer jungen Frau aus der Ostschweiz:

«Ich bin 16 Jahre alt und absolviere zurzeit eine Berufslehre. Es gibt nichts auf der Welt, das mich wütender macht, als Rassismus. Ich bin froh, in einem Land zu leben, das mit solchen Organisationen und Projekten dagegen kämpft. Doch ich würde gerne mithelfen. Ich weiss, ich kann nicht viel bewirken. Aber ich kann etwas bewirken. Und ich will nicht einfach herumsitzen und wütend oder traurig sein. Das nützt nichts. Ich weiss aber nicht genau, wie ich helfen kann, was ich tun kann. Hilft es, wenn ich in der Primarschule in meinem Quartier Vorträge über Rassismus halte und so den Schülern etwas beibringe? Oder gibt es etwas anderes, das ich tun kann, denn Spenden kann ich leider nicht (da ich selbst nicht viel Geld habe) […]. »

Es waren klare Worte; die junge Frau sprach uns aus dem Herzen, war es doch das Ziel der Kampagne «Bunte Schweiz», vor allem bei den Jugendlichen und den jungen Erwachsenen diesen Denkprozess in Gang zu setzen und sie dazu zu bewegen mitzumachen.

Eine lebendige Zivilgesellschaft entsteht nicht von einem Tag auf den anderen. Sie braucht verbindliche Werte des Zusammenhalts und der Solidarität. Sie lässt sich nicht nur mit einer Handvoll Gleichgesinnter aufbauen, zumindest nicht mit nachhaltigem Erfolg. Und sie erneuert sich nicht automatisch von selbst, etwa wie ein digitaler Synchronisierungsprozess zwischen elektronischen Datenträgern. Eine lebendige Zivilgesellschaft braucht Reibung, braucht Auseinandersetzung unter ihren Mitgliedern. Sie braucht aber auch die Fähigkeit und Elastizität, mit Differenzen im Rahmen rechtsstaatlicher Prinzipien umzugehen.

Die gesellschaftliche Kohäsion aufrechtzuerhalten und zu stärken ist dabei eine Aufgabe, die erstens Kontinuität und Ausdauer verlangt und zweitens eine Herausforderung darstellt, die uns alle angeht, ob nun als Sechzehnjährige oder als Einundsechzigjährige. Als Mitglieder der Gesellschaft sind wir verantwortliche und verantwortbare Subjekte, und als solche haben wir uns auch zu verhalten, ob im zwischenmenschlichen Umgang des realen Alltags oder in den Chaträumen des Internets.

Folgen der Vernetzung der Lebensbereiche

Die zunehmende Durchlässigkeit verschiedener Lebensbereiche, schon nur beispielsweise der Bereiche «Erwerbsarbeit» und «Freizeit», wirkt sich unmittelbar aus: Wir checken am Morgen E-Mails, noch bevor wir daheim die Schuhe fertig angezogen haben, und senden im Büro ein privates SMS auf unserem Handy, während der Rechner ein Programm startet … Aber was für eine Auswirkung hat diese wachsende Vernetzung der Lebensbereiche auf unseren Medienkonsum und auf unser Kommunikationsverhalten?

Während die rechtliche Definition zwischen Privat und Öffentlich, gerade in Bezug auf die Rassismusstrafnorm (261bis StGB), in den letzten Jahren erheblich ausdifferenziert wurde, hinkt die subjektive Wahrnehmung dieser Unterscheidung zwischen Privat und Öffentlich noch allzu oft der Rechtsprechung hinterher. Wie der entsprechende Beitrag zu den Fällen aus der Beratung der EKR in dieser Ausgabe des Tangram beleuchtet, wurden der EKR in den Sommer- und Herbstmonaten 2015
besonders viele Anfragen zu rassistischer Hetze und diskriminierenden Kommentaren im Internet zugetragen. Häufig waren diese Fälle das Resultat einer fälschlicherweise als schrankenlos eingeschätzten Meinungsäusserungsfreiheit. Die zugetragenen Beratungsfälle, aber auch die vermehrten Anfragen der Medien, standen sicherlich auch in Zusammenhang mit der Kampagne der EKR, welche sich die Bekämpfung der Hassreden im Internet und in den Sozialen Medien zum Ziel gemacht hatte.

Die EKR wiederholte es, wo immer sie konnte: «Öffentliche rassistische Hetze und Diskriminierung sind auch online verboten. Es gelten grundsätzlich dieselben Regeln wie offline». Dementsprechend müssten rassistische Kommentare im Internet nicht tatenlos hingenommen werden; jeder und jede könnte und kann etwas dagegen unternehmen und zu einem fairen Internet beitragen.

Ständige Mobilität

Das Thema Internet und der Umgang insbesondere von Jugendlichen mit den Medien ist von brennender Aktualität: Das Medienverhalten der Jugendlichen in der Schweiz ist heute mit einem Wort zu umschreiben, es ist «mobil»: 98 Prozent der Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren besitzen einer aktuellen Umfrage zufolge ein eigenes Mobiltelefon. 94 Prozent der Jugendlichen greifen dabei einmal oder mehrmals pro Woche auf das Internet zu.1

Die verschiedenen Anbieter von Kommunikationsplattformen im Netz machen sich genau diese Bedürfnisse der jungen und mobilen Kundschaft streitig. Nebst dem Spitzenreiter in der Beliebtheitsskala der Social Media – nach wie vor ist dies Facebook – gibt es Twitter, Path, Instagram, Flickr, Snapchat, WhatsApp, Viber, LinkedIn, MINDS, Pinterest … und viele andere mehr. Die Nutzer kommunizieren oft über mehrere solcher Sozialer Netzwerke gleichzeitig und die einzelnen Applikationen weisen dabei spezifische Funktionalitäten auf, etwa zur verbesserten Suche alter Schulkameraden im Internet oder zur besseren elektronischen Ablage auf einer Datenwolke bzw. gezielten Filterung und Austausch von grossen Mengen an Bild- und Tonmaterial. Mittlerweile gibt es auch zahlreiche Meta-Applikationen, etwa myLife, welche die gleichzeitige Bedienung mehrerer Verbindungen in verschiedenen Sozialen Netzwerken ermöglichen bzw. vereinfachen sollen. Oder Plattformen, die dem geneigten Online-Leser verraten, welches Thema z.B. von den Hassreden über die Flüchtlingskrise, den Wahlkampf und die Wahlresultate, wann welche Resonanz in den Social-Media-Kanälen hatte.

Unsere «digital kids» bewegen sich sorglos, rasch und oft im Internet. Täglich surfen die Jugendlichen in der Schweiz unter der Woche durchschnittlich zwei Stunden im Internet, am Wochenende sogar drei Stunden.2 Vielleicht ist diese hohe virtuelle Präsenz auch einem Heranwachsen einer neuen sozialen Kohäsion im Internet dienlich, wenn man dazu die richtige Fragestellung und die geeignete Methode anvisiert.

Sensibilisierung hinsichtlich digitaler Alphabetisierung

Thematisch übernahm die Kampagne «Bunte Schweiz» unter anderem den Schwung der im März 2015 abgeschlossenen Online-Menschenrechtskampagne von und für Jugendliche gegen Hassreden (No Hate Speech), welche zwei Jahre zuvor auf Initiative des Europarats auch in der Schweiz lanciert worden war.3 Die Kampagne der EKR ist somit ein Engagement in Richtung digitaler Alphabetisierung, also zur Erlernung des Umgangs mit Phänomenen wie dem Rassismus im Internet, dem Aufruf zu Hass, Gewalt und Diskriminierung in Sozialen Netzwerken. Der Europarat hat übrigens kürzlich beschlossen, die No Hate Speech-Bewegung um zwei Jahre zu verlängern bis 2017.4

Die Reichweite und die Inhalte der Kampagne «Bunte Schweiz» auf Twitter und Facebook sind gemäss den verfügbaren statistischen Angaben aus den beiden Tools auf insgesamt über 1 300 000 Leserinnen und Leser zu schätzen. Von Ende Juni bis Ende November 2015 engagierten sich fast 5 000 Personen mit eigenen Aktivitäten wie «Likes», Kommentaren, «ReTweets» usw. Über denselben Zeitraum gestalteten an jedem Wochentag und manchmal auch an Wochenenden die Teilnehmer der Kampagne die Facebook-Seite mit ihren Fotos, Videos und Texten. Insgesamt übernahmen über 90 Personen einzeln oder mit ihren Teams aus über 50 Vereinen, Schulen, Behörden und weiteren Organisationen eine redaktionelle Aufgabe mit eigens erstellten Posts und eigenem Bildmaterial. Die Mehrsprachigkeit der Kampagne wurde vom Kampagnenteam aktiv unterstützt mit der Vergabe von «Kampagnentagen» an regional unterschiedliche Gruppen und Personen aus der ganzen Schweiz. Die individuellen Akzente – einmal kämpferisch-kritisch, einmal eher künstlerisch-poetisch, einmal intellektuell, einmal emotional – hauchten der Online-Kampagne täglich Dynamik und Leben ein. Diese Diversität und Kreativität wäre z.B. bei einer traditionellen Kampagnenführung rein über Plakate, Flyer oder Postkarten nicht so stark sichtbar geworden.

Der EKR war es sehr wichtig, den Nutzern des Internets und der Sozialen Medien genau über ihre gewohnten Kommunikationskanäle eine Plattform zu bieten, um über ihre Eindrücke, Wünsche und Erfahrungen in Bezug auf Rassismus und rassistische Hassreden im Internet zu sprechen. Die Kampagne wollte dem Publikum konstruktive Denkanstösse vermitteln und neue Räume für eine breite Partizipation öffnen.

Flankierend zur Online-Kampagne wurden auch einige Offline-Massnahmen hinzugezogen, etwa die Nutzung von Screens und Plakaten in öffentlichen Verkehrsmitteln, beispielsweise anlassbezogen zum Start der Kampagne in der Region Bern oder zwei Wochen lang in der Hauptreisezeit während der Sommerferien gesamtschweizerisch auf ca. 800 Postauto-Linien.

Somit nehme ich gerne das eingangs erwähnte Mail der jungen Frau wieder auf und meine ganz bestimmt, dass wir wirklich «nicht einfach herumsitzen» und «wütend oder traurig sein» müssen, denn das nützt effektiv nichts. Wir alle können etwas Nützlicheres tun, nämlich unserer Stimme Resonanz verleihen und uns auf je eigene Weise – auch online – einsetzen für einen fairen, diskriminierungslosen Umgang im Internet. Dies ist insbesondere nötig, wenn in den Nachrichten, den Blogs, den Leserbriefen, den Chats usw. unausgewogen, tendenziös, herabsetzend und pauschalisierend gegen eine bestimmte Bevölkerungsgruppe, Religion, Hautfarbe oder Herkunft geschrieben und gepostet wird. Greifen wir also in die Tasten, zeigen wir auf, dass dies die bunte Schweiz ist, die wir wollen.

1 Siehe die Broschüre: Medienkompetenz. Tipps zum sicheren Umgang mit digitalen Medien. Aus dem Nationalen Programm zur Förderung von Medienkompetenzen «Jugend und Medien», 4. Auflage 2015, S. 30. Im Internet unter folgendem Link: http://www.jugendundmedien.ch/fileadmin/user_upload/Chancen_und_Gefahren/Broschuere_FAQ_Medienkompetenz_dt.pdf

2 Ebd.

3 Siehe auch die Ausgabe von Tangram Nr. 35 und http://www.sajv.ch/de/projekte/no-hate-speech/ (21.10.2015)

4 http://eryica.org/sites/default/files/2015cm74addfinal.pdf (26.10.2015)