Autor
Sandro Cattacin ist Direktor des Institut de recherches sociologiques der Universität Genf.
sandro.cattacin@unige.ch
Obschon kaum von einem einheitlichen menschenverachtenden Denken und Handeln ausgegangen werden kann, ergeben viele Hinweise ein relativ klares Bild der Gründe, die zu Misanthropie führen. Sich wiederholende Erfahrungen identitärer Verunsicherung, Sozialisationsprozesse in Deprivationszusammenhängen und vermeintlich althergebrachtes Wissen festigen sich im Prozess der Werteentwicklung zu menschenverachtenden Haltungen. Dieser Prozess ist grossen Veränderungen ausgesetzt, die insgesamt mit den Begriffen Fragilität und Beschleunigung beschreibbar sind. In diesem Text möchte ich zuerst auf Individualisierungsprozesse in der flüchtigen Moderne eingehen, um dort Menschenverachtung zu situieren. Danach versuche ich, Menschenverachtung prozessual zu fassen, in der digitalen Welt anzusiedeln, und gleichzeitig die ihr innewohnende Fragilität zu charakterisieren.
Menschenverachtende Haltungen begründen sich oft in verinnerlichten Erzählungen oder Erfahrungen mit Personen, denen gewisse gruppenbezogene Merkmale zugeschrieben und die als Gefahr eingestuft werden. Diese Menschen werden herabgesetzt und ihr Verhalten mit einem dieser Merkmale begründet. Gehen wir beispielhaft davon aus, dass das Lautsein problematisiert wird. Italiener sind laut kann dann als Meinung entstehen, wenn ein eigenes oder fremdes negatives Erlebnis dies bestätigt. Die Aneignung dieser Meinung ist aber nur dann relevant, wenn sie identitätsbildend wirkt, nämlich dann, wenn eine aus Norditalien stammende Person die Meinung dahingehend differenzierend zuspitzt, dass das Lautsein mit dem Süden Italiens in Verbindung zu bringen sei. Erst in dieser Nord-Süd-Differenzierung entsteht die identitätsbildende Meinung, die besagt, dass Menschen aus Norditalien leise und umgekehrt dass Leute aus dem Süden laut seien. Die Fremdzuschreibung einer negativen Eigenschaft wertet somit den Urteilenden auf.
Verinnerlichung im Sinne von identitätsbildenden Erfahrungen, die zu Formen der Menschenverachtung führen, entwickeln sich meist anarchisch, indem sie auf Versatzstücken aus Erzählungen, Erfahrungen oder Beobachtungen aufbauen, die sich dann in Stereotypisierungen manifestieren. Diese sind in unserer Gesellschaft allgegenwärtig und gleichzeitig auch ein Symptom für die Suche nach der Unterscheidung von den anderen in der nach Individualität strebenden Welt. Die Fragilität der Identitäten und der Mangel an festen Bezügen in der Identitätssuche in der mobilen, flexibilisierten Welt, welche die flüchtige Moderne charakterisieren, öffnen Autobahnen der Abschirmung zur Selbstfindung (Bauman 2000).
Gleichzeitig stossen diese verinnerlichten, menschenverachtenden Haltungen in der verunsicherten Gesellschaft kaum auf mehr als ironisches Entgegenhalten oder schlicht auf Gleichgültigkeit. Zu flüchtig sind diese Einwände, als dass sie Aufsehen erregen würden. Zu lange dauert die Suche nach Werten und Ideen – vor allem bei Jugendlichen –, bis sich Haltungen verfestigen. Zudem treffen wir tagtäglich auf menschenverachtende Haltungen, die uns, identitätsrelevant, oft in harmlosen Nebensätzen vorgetragen werden. Diese offen zu kritisieren, käme einer Identitätsverletzung der vortragenden Person gleich, deren Folgekosten der Verletzende, oft auch selbst Verunsicherte, möglicherweise mitzutragen hätte. Denn die verunsicherte Welt hat sich eben auch entsichert, worauf Heitmeyer hinweist, wenn er feststellt, dass Verunsicherung und Entsicherung im Sinne eines Abbaus von Hemmungen letztlich zusammengehören (Heitmeyer 2012).
Die Welt fragiler und nach Anerkennung schreiender Identitäten toleriert immer mehr Werthaltungen, die menschenverachtende Komponenten beinhalten. Nicht weil diese als legitim gelten, sondern weil für eine argumentative Gegenaufklärung zu hohe zeitliche Kosten oder sogar Gewalt befürchtet werden, und auch das Risiko besteht, dass durch kritische Infragestellungen sichere Identitäten gebrochen werden. Noch nie war die Welt so voll von tolerierter, sich inhaltlich chaotisch entwickelnder identitätsstiftender Menschenverachtung.
Subjektivierungen menschenverachtender Haltungen können sich erst dann verstetigen, wenn diese von anderen nicht nur wahrgenommen, sondern auch gutgeheissen werden. Sozialisationsprozesse in Gruppen verstärken somit Haltungen und stabilisieren dadurch Identitäten, die sich auf diese Haltungen beziehen. Die eigene Identität bekommt immer erst dann Sinn, wenn sie erkannt wird. Daher sind Suchprozesse nach externer Anerkennung für die eigene Identitätsvergewisserung so fundamental. Dank der Digitalisierung der Welt der Identitäten ist dieser Suchprozess auch bei noch so absurden Haltungen stark vereinfacht worden. Eine Google-Eingabe auf Deutsch zu «Franzosen stinken» gibt zum Beispiel 405 Einträge, während «Engländer stinken» auf 51 Einträge kommt; auf Italienisch stinken die Engländer auf 361 Seiten (Eintrag: «Inglesi puzzano»). Der «Sauschweizer» bringt es übrigens auf 1570 Einträge.1
Diese zugegebenermassen etwas absurden Beispiele zeigen, wie einfach es in der heutigen Welt ist, eine noch so abstruse und im Grunde genommen auch nur vereinzelt vorkommende subjektivierte Haltung intersubjektiv abzusichern. Dies im Unterschied zum langsamen Vortasten und jahrelangen Einüben von Argumentationslinien, die dann zum Beispiel über familiäre Sozialisation, Stammtischgespräche und Verharmlosungen zwar auch, aber weit weniger rasch und unmittelbar zu Antisemitismus führen. Digitale Schnellverifizierungen sind im Vergleich dazu aufgrund der Masse von Zahlen, Chaträumen und Foren antisemitischer Haltungen richtiggehende Beschleuniger der Zementierung von Vorurteilen.2
Die Welt der sich real begegnenden Menschen ist paradoxerweise gleichzeitig geregelter und anarchischer als die digitale Welt der Identitätsstiftung. In der Familie kann durchaus ein Gast dem antisemitischen Vater widersprechen oder vom Nachbartisch eines Stammtischs kann auf Gehörtes Widerständiges und Zurechtweisendes formuliert werden. Ambivalenz und Widerstand in der unmittelbaren Begegnung mit der Möglichkeit der gegenseitigen Verunsicherung oder der Weiterentwicklung eigener Argumentationslinien fehlen in der digitalen Welt der Foren und Chaträume. Hier sind Eindringlinge, Widerspenstige und Spielverderber selten willkommen und können durch einen Knopfdruck ausgeschlossen werden.
Wenn Gruppen beschliessen, sich zu Organisationen zu formieren und sich dadurch Haltungen gewissermassen von Personen ablösen, können gemeinsame Werte auch institutionell verankert werden. Ein gutes Beispiel dafür ist die «Partei National Orientierter Schweizer» (PNOS), von der einzelne Mitglieder zwar regelmässig wegen gesetzeswidrigem, menschenverachtendem Verhalten verurteilt werden, was jedoch nicht zu einer Auflösung der Partei geführt hat. Denn die Formierung von informellen Gruppen und Einzelpersonen in Organisationen bezweckt in erster Linie die Reifizierung ihres Wertekonsenses. So ist die PNOS inzwischen zu einem zweifelhaften Ruhm gelangt, den sie fast ausschliesslich über die Digitalisierung erhalten hat. Sie hat ihr dank Wikipedia, Studien, Foren und anderen Internetseiten zu einer Beachtung verholfen, mit der sie ihre Haltung als Möglichkeit für Identitätssuchende auffindbar macht und verewigt.
In der sich ständig historisierenden digitalen Welt, wo sich Spuren kaum verwischen lassen, finden sich immer mehr grauenvolle Museen der Menschenverachtung, die gerade weil sie sich von Personen losgelöst und ein Eigenleben entwickelt haben, zu fest verankerten Trägern von Ideen – und eben auch der Stabilisierung von Meinungen werden.
Es liegt auf der Hand, dass es in der digitalen Welt nicht nur solche Museen des Grauens gibt, sondern dass die digitale Welt die Menschen, und vor allem die Jugendlichen bei der Identitätssuche auch unterstützen kann, ohne dass diese dabei eine menschenverachtende Haltung entwickeln. Die digitale Welt kann also auch eine Chance sein, insbesondere in der Schaffung von Gegenöffentlichkeiten, die sich für einen fairen Umgang zwischen den Menschen und für eine Welt einsetzen, in der das respektvolle Zusammenleben als Ressource für Prosperität und Wohlergehen gesehen wird.
Doch wo soll für die Entwicklung dieser anderen Gesellschaft angesetzt werden? Bei der Sprache, würde ich übereinstimmend mit der Historikerin Joan Scott zuerst antworten (Scott 1988). Und damit meine ich nicht in erster Linie die Political correctness, sondern eher einen in der Schule und im (auch politischen) Berufsleben vermittelten differenzierenden, kritischen Sprachgebrauch. So haben beispielsweise Begriffe wie «Asylant» durchaus einen Sinn, nämlich in der Unterscheidung zum Begriff «Asylsuchender». «Asylant» hat dann als Wort die Rolle des Schwarzen Peters, was die Person, die es verwendet, zur Differenzierung zwingt. Solche Interventionen sind im öffentlichen Raum möglich und rufen nach einer auf Bildung beruhenden Unterstützung von Radio- und Fernseh- oder Zeitungsjournalistinnen und -journalisten. Es geht dabei nicht um Zensur, sondern um Differenzierung.
Ferner scheint mir weiterhin die folgende Stammtischerkenntnis (auch von Gordon Allport 1954) von Bedeutung: Interaktionen können in nicht pathologischen Settings Haltungen verändern. Menschen ansprechen, abwertenden Kommentaren andere Meinungen entgegenhalten, immer wieder differenzieren – dies sind zivile Aufgaben einer zukunftsfähigen Gesellschaft, die auch die Chancen der digitalen Welt ergreift.
Schliesslich sind in der mobilen Welt der komplexen Identitäten Narrationen über Bedeutungen und Haltungen fundamental, die sich inhaltlich durchaus verändern können, jedoch auf die Schaffung punktueller Erlebnisse des Zusammenlebens ausgerichtet sein müssten. Selbst wenn wir auch in einer digitalen Welt leben, sind wir weiterhin mit dem Boden verbunden. Um in den Territorien unserer Lebenswelten für alle eine Zugehörigkeit zuzulassen, sind Rituale der inklusiven Vereinigung – wie Fussballspiele des Stadtteams oder Stadt- und Strassenfeste – essentiell, solange sie niemanden ausschliessen (Cattacin 2015).
Mit anderen Worten: In der Welt fragiler, komplexer und mobiler Identitäten ist nicht die Menschenverachtung allein zu bekämpfen, sondern das Zusammenleben zu fördern, das sich durch eine differenzierte Wortwahl, das Zusammentreffen und zusammen Feiern auszeichnet. Das genügt, um menschenverachtende Haltungen zu etwas Nebensächlichem zu degradieren.
1 Anm. der Redaktion: Die Suchergebnisse variieren je nach Eingabedatum und individuellen Filtereinstellungen und dem Suchverlauf (History).
2 Dass diese Foren auf realen Menschen aufbauen und sich über die Welt verteilen, verstärkt den Eindruck, die eigene Meinung sei rechtens.
Bibliografie
Allport, Gordon Willard (1954). The nature of prejudice. Cambridge Mass./Boston Mass.: Addison-Wesley publ.; The Beacon Press.
Bauman, Zygmunt (2000). Liquid Modernity. Cambridge: Polity Press.
Cattacin, Sandro (2015). «Mobilité territoriale et traditions vivantes en milieu urbain», in Bundesamt für Kultur und Schw. Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaft (Hg.). Lebendige Traditionen in der urbanen Gesellschaft. Baden-Dättwil: Hier und Jetzt, S. 105-112.
Heitmeyer, Wilhelm (2012). «Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF) in einem entsicherten Jahrzehnt», in Heitmeyer, Wilhelm (Hg.). Deutsche Zustände. Folge 10. Berlin: Suhrkamp. 10, S. 15-41.
Heitmeyer, Wilhelm (2002). «Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit: Die theoretische Konzeption und erste empirische Ergebnisse», in Heitmeyer, Wilhelm (Hg.). Deutsche Zustände. Folge 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 15–34.
Scott, Joan W. (1988). «Deconstructing Equality-versus-Difference: Or, the Uses of Poststructuralist Theory for Feminism» Feminist Studies 14(1): S. 33-50.