TANGRAM 44

Editorial

Autorin

Martine Brunschwig Graf ist Präsidentin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus EKR

Zur Einleitung dieser Ausgabe des Tangram, das sich mit dem Rassismus im Jahr 2020 befasst, möchte ich den französischen Genetiker Axel Kahn zitieren, der in einem Interview über die Bekämpfung von Rassismus Folgendes sagte:

«Es ist ein Kampf, den jede Generation führen muss, denn hinter dem Rassismus stehen Unbehagen, Angst, Selbstverteidigungsreflexe ..., Verhaltensweisen, die sich von Generation zu Generation wiederholen. Der Kampf gegen Rassismus ist ein moralischer, ein philosophischer Kampf, der nicht ein für alle Mal geführt werden kann. Das Bewusstsein, dass jeder Mensch die gleiche Würde und den gleichen Wert hat, ist ein Produkt der Bildung.»

Das Zitat stammt aus dem Jahr 2018, es trifft heute zu, und es gilt auch in Zukunft. Das aktuelle TANGRAM, in neuem Design, greift so vielfältige Ansichten und Analysen auf wie die früheren Ausgaben. Alle Autorinnen und Autoren – völlig frei in Inhalt und Form – versuchen herauszufinden, wo die Konstanten und wo die Unterschiede des Rassismus je nach Epochen und Umständen liegen.

Zum Zeitpunkt der Themenwahl für diese Ausgabe wussten wir noch nicht, welche Auswirkungen die Pandemie haben würde, die die ganze Welt erfasst hat und auch die Schweiz nicht verschont. Über die gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen hinaus hat Covid-19 auch Einfluss auf die Einstellungen der Menschen, was sich auch auf Rassismus und Rassendiskriminierung auswirkt. Die von Axel Kahn erwähnten Selbstverteidigungsreflexe führen zur Ablehnung des Anderen und dessen, was – gerade in der Zeit der Pandemie – als gefährlich empfunden wird.

Hinzu kommt das gefährliche Spiel gewisser Machthaber, die den Ursprung des Virus geografisch zuordnen und ihm eine sehr stereotype Färbung geben. Mehr braucht es nicht, um gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen Misstrauen zu schüren und sie Diskriminierungen auszusetzen. In Zeiten der globalisierten Kommunikation können Diskurse auf der anderen Seite des Atlantiks auch bei uns Wirkung entfalten: Rassismus kennt keine Grenzen.

Einen erneuten Beweis dafür sehen wir bei den Folgen des Todes des Afroamerikaners George Floyd, der nach langen Minuten der Qual unter dem Knie eines weissen Polizisten erstickt ist. Dieser Tod stärkte die Bewegung «Black Lives Matter», die aus der Auflehnung gegen das Gefühl der Straflosigkeit angesichts der wiederholten Polizeigewalt gegen Schwarze in den Vereinigten Staaten entstanden war, auf breiter Ebene und löste auch in der Schweiz heftige Reaktionen aus. Die Situation in unserem Land ist sicherlich anders, aber trotzdem sollten wir uns die richtigen Fragen stellen: Welche Mittel geben sich die Behörden auf allen Ebenen, um gegen Racial Profiling vorzugehen? Welche Aus- und Weiterbildungsstrategie würde dazu führen, dass Ordnungskräfte jegliche Diskriminierungen vermeiden? Zwar war die Schweiz nie in direktem Besitz von Kolonialterritorien, jedoch hat sie ökonomisch und politisch vom Kolonialismus in Afrika und dem transatlantischen Sklavenhandel profitiert. Wie soll man heute diese Fragen angehen, wenn man eine hilfreiche Debatte führen will? Wie könnte die wissenschaftliche Forschung unsere Kenntnisse erweitern und das Bewusstsein fördern? Mit welchen didaktischen Mitteln könnten Symbole – Statuen, Wappen oder Denkmäler – zu einem sinnvollen Diskussionsthema anstatt zu einem Ziel von Zerstörung werden?

Dies sind einige der Herausforderungen im Umgang mit Rassismus heute. Für die EKR und für alle, die sich der Bekämpfung rassistischer Diskriminierung verschrieben haben, sind die Aufgaben vielfältig. Rassismus existiert, in der Schweiz genauso wie anderswo. Wie Axel Kahn sagt, muss jede Generation ihren eigenen Kampf gegen Rassismus führen. Für die EKR sind vor allem die Kinder und Jugendlichen in den Schulen ein sehr wichtiges Publikum für die Sensibilisierung gegen Rassismus. Auch gegen den alltäglichen Rassismus, von dem Betroffene den Beratungsstellen immer wieder berichten, braucht es eine angemessene gesetzliche Regelung auf zivilrechtlicher Ebene. Doch eine solche fehlt bis heute. Nötig wäre ein neuer Anlauf, um einen fairen Zugang zur Justiz für alle zu gewährleisten.

Die Welt hat sich verändert und das Bewusstsein gegenüber dem Rassismus auch. Doch merkwürdigerweise gibt es gleichzeitig eine grössere Aufmerksamkeit für das Phänomen in der Bevölkerung und heftigere Abwehrreaktionen gegen seine Thematisierung. Was in den sozialen Netzwerken und im Internet allgemein gesagt und geschrieben wird, gibt uns zu denken. Im Kampf gegen Rassismus und Rassendiskriminierung geht es heute darum, den Respekt vor dem Anderen wiederherzustellen. Das ist eine Langzeitaufgabe, die uns alle betrifft.