Autor
Dr. Urs Hafner ist freischaffender Historiker und Wissenschaftsjournalist in Bern, vor allem für die NZZ. Von 2007 bis 2014 war er für den Schweizerischen Nationalfonds als Wissenschaftsredaktor tätig. Soeben ist sein Buch «Subversion im Satz. Die turbulenten Anfänge der ‹Neuen Zürcher Zeitung› (1780–1798)» erschienen (NZZ Libro).
u_hafner@bluewin.ch
Es gehört zum Selbstverständnis des Journalisten, das Unrecht zu bekämpfen und der Wahrheit ans Licht zu verhelfen. Die meisten Medien vermitteln denn auch keine rassistischen Inhalte, jedenfalls nicht im strafrechtlichen Sinn. Nur: Der heutige Rassismus ist nicht «rassistisch», sondern kulturalistisch.
Nichts errege den Journalisten mehr als die Wahrheit, hat Egon Erwin Kisch, der grosse Reporter, geschrieben. Der Journalist schaut genau hin, wenn es um Korruption in Regierung und Verwaltung, wenn es um Rassismus, um die Benachteiligung von Minderheiten und Menschen in Not geht. Der Journalist, wie er ist? Oder wie man ihn sich wünscht?
Der Schweizer Presserat, die moralische Instanz der hiesigen Medien, hat 1999 eine «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verfasst, deren Titel geradewegs auf die «Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen» von 1789 anspielt, in der die französischen Revolutionäre die Meinungsfreiheit verbrieft – und ihren Missbrauch verboten – haben. Der Schweizer Presserat stipuliert, dass Journalisten die Menschenwürde respektierten und auf diskriminierende Anspielungen verzichteten, welche die ethnische oder nationale Zugehörigkeit, die Religion, das Geschlecht, die sexuelle Orientierung, Krankheiten sowie körperliche und geistige Behinderungen zum Gegenstand hätten.
Das klingt gut, wenn auch verhalten – man könnte ja die Medienschaffenden, statt negativ das zu Unterlassende aufzulisten, positiv zur Bekämpfung von jeglicher «Diskriminierung» auffordern. Dies allerdings käme als Bevormundung und redundante Feststellung von etwas Selbstverständlichem daher. Denn letztlich weiss ja die Journalistin selbst, was sie zu tun – und zu lassen hat. Oder doch nicht? Der Presserat bekräftigt jedenfalls, dass Journalisten keine Menschen herabsetzen sollen. Das scheinen sie in der Tat nicht zu tun, denn in den letzten Jahren ist kein Medienschaffender aufgrund der «Antirassismus-Strafnorm» verurteilt worden (Art. 261bis StGB). Journalisten sind keine Rassisten. Oder ist diese Ansicht bloss eine Frage der Perspektive?
Kürzlich hat der französische Historiker Pierre Rosanvallon den Rassismus in eine Reihe gestellt mit dem Konservatismus, dem Kommunismus und dem Nationalismus («Die Gesellschaft der Gleichen», 2013). Mit diesen vier «pathologischen Reaktionen», die sich allesamt mit der liberalen Demokratie bissen, habe die Moderne den «Schock der Industrialisierung» und den «Skandal des Proletariats» überwinden wollen, mit denen sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts konfrontiert wurde. Diese Pathologien würden den Liberalismus der Amerikanischen und Französischen Revolution infrage stellen, der die brüderliche Gleichheit der Gesellschaft vorgesehen habe – von der allerdings, bleibt anzufügen, die Frauen ausgeschlossen waren.
Der Kommunismus ist verpufft. Der Konservatismus aber erfindet sich aggressiv immer wieder neu, der Nationalismus grassiert ebenfalls weiter – und der Rassismus hat sich wundersam gehäutet: Er hat die «Rassen» abgeschüttelt. Kaum jemand behauptet noch die in der menschlichen Biologie festgeschriebene Überlegenheit der «weissen Rasse» vor der «schwarzen». Die Rassenlehre ist gesellschaftlich verpönt und wissenschaftlich widerlegt. Nur Rechtsextreme propagieren einen kruden Rassismus, der sie in Konflikt mit den Strafbehörden bringt.
Meist kommt der Rassismus nicht einmal mehr als simple Fremdenfeindlichkeit daher. «Weil er ein Albaner ist, ist er weniger wert als wir Schweizer»: Ein solcher Satz wird höchstens gedacht oder ins Internet getippt. Die Medien sind denn auch mit dem Problem konfrontiert, dass ihre digitalen Foren, eines der wichtigsten Mittel der Kundenpflege, nur so wimmeln von fremdenfeindlichen und hasserfüllten Kommentaren. Nur schon aus strafrechtlichen Gründen sind die Verlage verpflichtet, solche Äusserungen zu verhindern.
Der heutige Rassismus, der in vielen Medien salonfähig ist, ist ein Kulturalismus – sozialwissenschaftlich formuliert ein «Kulturessentialismus». In der «Erklärung der Pflichten und Rechte» des Presserats, in der Rassismusstrafnorm und in den Definitionen der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus klingt das erweiterte Verständnis von Rassismus zwar an: Dass er Fremdenfeindlichkeit generell meint, dass er sich nicht nur auf Rassen im engen Sinn, die es ja gar nicht gibt, sondern auch auf die Ethnie, Kultur und Religion eines Individuums erstreckt. Aber der Kulturalismus, der den Rassismus abgelöst hat, geht noch weiter.
Er nimmt die «Diskriminierung» beim Wort: Er «unterscheidet» einen Menschen von einem anderen aufgrund von dessen Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur, Religion, Ethnie: «Weil du aus der afrikanischen Kultur stammst, bist du anders als wir.» Der andere ist also anders, weil er Teil einer anderen Kultur, nicht weil er ein Individuum ist (das sehr wohl mit seinem sozialen Kontext verwachsen ist). Wie der Rassismus akzeptiert der Kulturalismus ein Individuum nicht als solches, sondern reduziert es auf etwas anderes – das jedoch nicht per se minderwertig sein muss. Es kann sogar erhöht, überhöht werden: «Du bist intuitiv, weil deine Kultur intuitiv ist.»
Der Kulturalismus tue so, als ob es ein homogenes «Wir» gäbe, das sich klar von den anderen, den Fremden abgrenzen lasse, hat der deutsche Journalist Mark Terkessidis geschrieben («Interkultur», 2010). Je mehr dieses «wir» über die anderen spricht, desto besser glaubt es zu wissen, wer es selbst ist. Während «sie» feurig, spontan und musikalisch oder aber patriarchalisch, gewalttätig und kriminell sind, sind «wir» ordnungsliebend, fleissig, sauber, eventuell pedantisch und rationalistisch, sicher aber demokratisch und zivilisiert. Eine andere Variante der anderen: «sie» sind auf der Flucht, arm, hilfsbedürftig – und selbstverständlich dankbar. Wehe aber, wenn nicht …
Weil das fremde Individuum per se anders ist, muss es sich integrieren. Die landläufige Rede von der «Integration» – vorher hiess es «Assimilation» – und vom fremden «Kulturkreis», der ganz anders sei, ist meist rassistisch motiviert. Inspiriert vom Begriff Kulturkreis, den 1898 ein Berliner Volkskundler geprägt hatte, schuf der Historiker Fritz Gräbner die Kulturkreislehre, der zufolge die Naturvölker in ihrer Entwicklung stehen geblieben seien. Zwei Wiener Patres spitzten diese Lehre zu: Nur unser «Urkulturkreis» mit Monotheismus, monogamer Ehe, Patriarchat und Privateigentum sei der richtige. Seine Renaissance hat der Begriff schliesslich 1996 in Samuel Huntingtons «Kampf der Kulturen» erfahren, dem Prolog zu «Nine-Eleven».
Heute also lesen wir in den Zeitungen, dass dieser oder jener Fremde sich integrieren müsse, weil er aus einem anderen Kulturkreis stamme, der mit unserem unvereinbar sei. Sähe man genauer hin, erblickte man etwas anderes: ein Individuum mit seiner Geschichte. Es gibt noch viel zu tun für den Journalisten, den die Wahrheit erregt.