Autoren
Der Soziologe Dr. Thomas Jammet ist Autor einer Dissertation über die Nutzung des Web 2.0 durch private und öffentliche Organisationen und arbeitet als Postdoc an einem Forschungsprojekt der Universität Neuenburg über die «Plattformisierung» der Wirtschaft.
thomas.jammet@unine.ch
Die Politologin Dr. Diletta Guidi ist Oberassistentin an der Universität Freiburg Üechtland. Sie arbeitet über die Verbindungen zwischen Religion und Politik und über die neuen Formen religiöser Autoritäten, insbesondere über die Figur des Guru 2.0.
diletta.guidi@unifr.ch
Zwischen 2016 und 2017 führten sie zusammen eine Analyse einer Schweizer «Re-Informations-Website» und ihrer Verbindungen zur französischsprachigen Réinfo-Sphäre durch.
Vor dem Hintergrund einer Häufung terroristischer Anschläge auf der ganzen Welt verkündete Facebook Ende März 2019, auf seiner Plattform effektiver gegen rassistische Inhalte vorgehen zu wollen. Einige Wochen später liess das US-Unternehmen mehrere als «verschwörerisch» eingestufte Accounts schliessen, insbesondere in den USA, in Grossbritannien und in Frankreich. Die Aktion erfolgte aufgrund des zunehmenden Drucks der Zivilgesellschaft und der Regierungen auf den Internetgiganten und zeigte, dass sich Hassreden im Netz auch wegen der Funktionsweise des Internets und des dort stattfindenden Austauschs ausbreiten.
Das Internet ist ein Raum mit nie dagewesenen Ausdrucksmöglichkeiten. Es verbreitet die laienhaften Äusserungen aller Nutzerinnen und Nutzer und damit die unterschiedlichsten Meinungen und Ideologien. Das Web 2.0 oder Social Web entwickelte sich seit Mitte der 2000er-Jahre stetig weiter und zeichnet sich durch seine einfache Nutzbarkeit aus. Jede und jeder kann seine Meinung in den verschiedensten Formen über digitale soziale Medien (oder soziale Netzwerke) äussern. Jegliche Ökonomie der öffentlichen Äusserung wird durch die «Befreiung der Subjektivität», die das Internet zulässt und fördert, untergraben (Cardon 2010); das Internet etabliert sich als neues Kommunikationsmedium und als Haupt-Informationsquelle. Das Internet, und insbesondere das Web 2.0, unterscheidet sich von den «traditionellen» Medien wie Radio, Presse oder TV vor allem durch seine Interaktivität: Die Internetnutzerinnen und -nutzer werden ausdrücklich dazu eingeladen, Informationen zu kommentieren und selber zu produzieren.
Die Nutzungsnormen und technischen Funktionalitäten des Social Web beeinflussen die demokratische Debatte tiefgreifend. Zum einen ist es für die Nutzerinnen und Nutzer sehr einfach, eine Person oder eine Institution anzusprechen, häufig in sehr persönlicher Form, was sie in anderen Kanälen oder im direkten Kontakt nie wagen würden. Die Toleranz gegenüber beleidigenden Botschaften scheint ebenfalls grösser zu sein als in anderen Kommunikationskanälen. So ist eine «Brutalisierung der Debatte» durch die Banalisierung und Legitimierung der Aggressivität zu beobachten (Badouard 2017). Zum andern sind aggressive Kommentare, die Polemiken und Konfrontationen auslösen, im Social Web besser sichtbar, da die Algorithmen der sozialen Medien diejenigen Inhalte in den Vordergrund rücken, auf die die Nutzerinnen und Nutzer am stärksten reagieren.
Aufgrund dieser Besonderheiten des Web finden die radikalsten politischen Befindlichkeiten eine Plattform und eine Publizität, die ihnen im «traditionellen» medialen Raum nicht gewährt werden. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass militante Rechtsextreme im Web besonders aktiv sind und es nutzen, um ihre politischen Gegner, aber auch bestimmte Bevölkerungsgruppen zu verunglimpfen.
Der Begriff des Cyber-Rassismus kam Anfang der 2000er-Jahre auf. Er bezeichnet Äusserungen der weissen Vorherrschaftsbewegung gegenüber den schwarzen Gemeinschaften und ist heute ein massives virales, überhandnehmendes, netzumspannendes Phänomen. Mit der wachsenden Zahl von Nutzerinnen und Nutzern, die Cyber-Rassismus verbreiten, vervielfachen sich auch die Ziele. Zu Äusserungen gegen Schwarze kommen nun auch in zunehmendem Mass Hetzreden gegen Roma, antisemitische, islamfeindliche und allgemein fremdenfeindliche Äusserungen. Die sichtbarsten ethnischen und religiösen Minderheiten sind auch die am meisten angefeindeten. Dies betrifft insbesondere den Islam, der seit den Attentaten vom 11. September 2001 in New-York, von einer regelrechten Hasswelle betroffen ist. Das Gleiche gilt auch für Migrantinnen und Migranten (jeglicher Herkunft und Religion), die durch die Migrationskrise in Europa seit den 2010er-Jahren und verstärkt durch den Bürgerkrieg in Syrien zu einem bevorzugten Ziel der virtuellen Gewalt geworden sind.
Indiz für die Tragweite dieser neuen Problematik war der Bericht über die Nutzung digitaler Technologien zur Verbreitung von Neonazismus, den die UNO-Sonderberichterstatterin über aktuelle Formen von Rassismus im August 2018 vorgelegt hat. Der Bericht verlangt von den IKT-Firmen, sich den Staaten im «Kampf gegen die Intoleranz im Internet» anzuschliessen (1).
Die verschiedenen Formen von Hassreden stehen im Zentrum eines Phänomens, das im Internet stark im Trend liegt: die Re-Information. Seit rund zehn Jahren vervielfachen sich die Websites und Blogs, die von sich behaupten, die Bürgerinnen und Bürger zu «re-informieren», da diese von den Leitmedien des-informiert würden. Die Akteure der Re-Information werfen den Leitmedien vor, die Herausforderungen der modernen Gesellschaft zu verschweigen oder zu verharmlosen. Sie versuchen bewusst, diese Leitmedien zu umgehen und im Internet eine «alternative» Sicht der Aktualität zu verbreiten. Doch wie wir bei einer Schweizer Website beobachten konnten (Jammet und Guidi 2017), haben diese polemischen Blogs einen gemeinsamen Feind: den Anderen, das heisst den Nicht-Westlichen, den Nicht-Weissen, den Einwanderer, den Muslim, den Juden, den Schwarzen, den Roma usw., und sie propagieren, dass von diesem eine unmittelbare Gefahr ausgehe.
Oft zitieren sich diese Websites und Blogs gegenseitig und arbeiten aktiv zusammen. Sie funktionieren vernetzt und formen eine Informations-Kreislaufdynamik. Dadurch wird das Publikum für ihre Thesen nicht nur immer grösser, sondern es bildet sich ein geschlossener «Echoraum» oder eine «Informationsblase» mit sehr homogenen Meinungen. So behaupten die Akteure der Re-Information, zum Medienpluralismus beizutragen. Sie sehen sich als Verteidiger der Meinungsfreiheit, entwickeln jedoch einen Diskurs, mit dem sie sich klar der extremen Rechten zuordnen lassen. Sie verbreiten Falschinformationen und tragen aktiv zur Stigmatisierung der von ihnen abgelehnten Individuen und Gruppen bei. Mit Verweis auf diese Merkmale bezeichnen professionelle Journalistinnen und Journalisten die Re-Informationssphäre allgemein als «Faschosphäre».
Wie kann man heute die virale Verbreitung hetzerischer Inhalte bekämpfen? Gesetzliche Bestimmungen für die sozialen Medien wie Facebook und Twitter zur Eindämmung der hetzerischen Informationsflut werden von den Befürwortern eines freien Internets nicht einhellig gutgeheissen, und der politische Wille zur Regulierung des Internets wird oft mit einer missbräuchlichen Zensur in Verbindung gebracht. Paradoxerweise würde Zensur die Akteure der Re-Information legitimieren, denn diese rechtfertigen ihren Diskurs und ihre Daseinsberechtigung mit der Meinungsfreiheit. Ihre Websites bezichtigen die traditionellen Medien der Lüge und der Geheimhaltung von Informationen und präsentieren sich als einzige Alternativen zu einem aufgeklärten Verständnis der Gegenwart.
Unter diesem Gesichtspunkt würde eine Zensur zu einem Instrument, das extremistischen Websites in mehr als nur einer Hinsicht gelegen käme. Die Zensur wäre damit für die Betreiber der Beweis, dass sie recht haben, gerade weil man ihnen das Wort verbieten will. Und was noch gefährlicher wäre: Die Zensur würde sie zu Opfern des richtigen Denkens und der politischen Korrektheit machen, die sie den Leitmedien dauernd vorwerfen. All dies würde letztlich ihre Ansichten, auch die rassistischen und fremdenfeindlichen, rechtfertigen. Ein im August 2015 von einer Schweizer Website verbreitetes Video aus der französischsprachigen Re-Infosphäre unter dem Titel «Migrants : l’envers du décor que nos médias ne montreront pas» (2) (Migranten: Die Kehrseite der Medaille, die unsere Medien nicht zeigen werden) illustriert diesen Mechanismus. Die Website behauptet, dass die Schweizer Medien bewusst Bilder zurückhalten, die «die Wirklichkeit der Invasion» Europas zeigen, und rechtfertigt damit einen fremdenfeindlichen Diskurs und ihre Rolle als Re-Informationsquelle. Wenn man Websites, die Cyber-Rassismus verbreiten, einen Maulkorb verpasst, werden die «Mobber» zu den «Gemobbten», wodurch sie sich in ihren Ansichten bestätigt, und in ihren Äusserungen legitimiert fühlen.
Zum Problem der extremistischen Websites und deren Spiel mit der Opferrolle kommt die Schwierigkeit, rassistische Äusserungen im Internet zu identifizieren. Der Bericht von 2018 der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA) in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) unterstreicht, dass von den öffentlich bekannt gewordenen rassistischen Vorfällen, «viele auf dem Radar der Medien nicht erscheinen», insbesondere die «Hassreden […]» bei Whatsapp oder auf den sozialen Netzwerken wie Facebook, Instagram oder Twitter» (3). Die Urheber strafrechtlich relevanter Äusserungen entgehen mehrheitlich noch einer Verurteilung. Nicht folgenlos sind hingegen die rassistischen Vorfälle und Hassreden für die betroffenen und stigmatisierten Opfer – es ist daher wichtig, darüber zu sprechen und die richtigen Worte zu finden.
Das Internet ist zum weltumspannenden Diskussionsforum geworden, wo sich viele Ansichten zusammenfinden, die in den Mainstream-Medien keinen Platz haben. Doch auch hier rechtfertigt die Meinungsfreiheit in keinem Fall Einschüchterungen und Hetze, die den Anderen unerbittlich als Feind sehen. Die Bekämpfung von Hassreden mag in erster Linie in der Zuständigkeit der Regierungen und der grossen Internetfirmen liegen, doch sie geht auch uns alle an.
Man muss daher sagen, dass es sich um einen echten Kampf handelt. Was im «virtuellen» öffentlichen Raum geschieht, hat durchaus einen Einfluss auf die Realität. Darauf weisen verschiedene Studien hin (Demoulin et al. 2009; Petit 2016). Auch wenn Rassismus, Mobbing und Einschüchterung über verschiedene digitale Medien aus Distanz zum Ausdruck kommen, sind ihre Folgen keineswegs abstrakt. Das Cyber vor den Begriffen -Rassismus, -Einschüchterung, -Mobbing oder -Bullying virtualisiert Taten, die jedoch durch diese distanzierende Qualifizierung keineswegs harmloser werden. Unser Wortschatz genügt für diese Phänomene nicht mehr und muss vertieft reflektiert werden. Der Kampf gegen Rassismus und gegen die Gewalt 2.0 ist sowohl komplex als auch dringend nötig.
(1) www.undocs.org> Bericht A/73/312
(2) LesObservateurs.ch (31.05.2015) « Migrants: l’envers du décor que nos médias ne montreront pas ».
(3) Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus
(21.03.2019), «Rassismus in der Schweiz im Jahr 2018».
Bibliografie:
Badouard R. (2017), Le désenchantement de l’internet, Limoges, FYP Editions.
Cardon D. (2010), La démocratie Internet. Promesses et limites, Paris, Seuil.
Demoulin M. et al. (2009), Cyberharcèlement: risque du virtuel, impact dans le réel, Namur, Observatoire des droits de l’Internet. URL: http://www.crid.be/pdf/public/5977.pdf
Jammet T., Guidi D. (2017), «Observer Les Observateurs. «Du pluralisme médiatique au populisme anti-islam, analyse d’un site de “réinformation” suisse et de ses connexions»/Medienpluralismus und antimuslimischer Populismus, Analyse einer Schweizer “Re-Informations-Website” und ihrer Verbindugen), Réseaux, Bd. 2, Nr. 202-203, S. 241-271. URL: https://www.cairn.info/revue-reseaux-2017-2-page-241.htm
Petit M-N. (2016), «Cybercriminalité: du virtuel au réel»/(«Cyber-Kriminalität, von der Virtualität zur Realität»), Rhizome, Bd. 61, Nr.° 3, S. 14-14. URL: https://www.cairn.info/revue-rhizome-2016-3-page-14.htm