Autor
Fabio Rossinelli, Doktor der zeitgenössischen Geschichte, arbeitet derzeit an der Università della Svizzera italiana und an der Universität Lausanne. rossinef@msn.com
Die Forschung zur Schweizer Kolonialgeschichte hat die Beteiligung des Bundes und der Kantone am kolonialen Geschehen im 19. und 20. Jahrhundert vernachlässigt. Dabei war der Staat in diesem Bereich sehr aktiv.
Vorweg sei festgehalten, dass in der Forschung kein Konsens darüber besteht, wie der Begriff Kolonisation und entsprechende Ableitungen zu definieren sind. Unbestritten ist, dass das Phänomen viele verschiedene Formen – politische, wirtschaftliche und auch kulturelle – annehmen kann. Ausserdem wissen wir, dass sich Zeit und Ort auf die Ausprägung auswirken können und dass es sowohl ausserhalb eines Landes als auch im Inneren agiert. Um diesen Artikel nicht mit Fachjargon zu überfrachten und uns auf das Wesentliche zu konzentrieren, definieren wir hier Kolonisation als expansionistischen Akt Europas in Überseegebiete während des 19. Jahrhunderts.
Tatsache ist, dass sich die Schweizer Geschichtsschreibung lange Zeit auf die Beteiligung der Privatwirtschaft an der Kolonisation konzentriert hat. Neben einer mehr oder weniger spontanen unternehmerischen Abwanderung nach Brasilien, Ägypten und Australien gab es auch in der Schweiz Unternehmen, die sich dem Kolonialhandel verschrieben hatten. Die 1851 in Winterthur gegründete Handelsfirma Gebrüder Volkart zum Beispiel war im Import und Export von Rohstoffen gegen Fertigprodukte tätig und avancierte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum grössten Schweizer Akteur auf dem indischen Markt. Die 1859 gegründete Basler Handelsgesellschaft, eine Art Handelsfiliale der Basler Mission (1815), nutzte die Ressourcen und Arbeitskräfte Ghanas für die Kakaoproduktion. Oder ein Beispiel aus einem ganz anderen Bereich: Investitionen in Übersee waren für Banken und Börsen gang und gäbe. Der Genfer Bankenplatz hatte die grossen Infrastrukturprojekte des Welthandels wie den Suezkanal im Fokus.
Die hier genannten Beispiele – es gibt viele weitere – könnten darauf hindeuten, dass der Staat nicht am Schweizer Expansionismus in der kolonialen Welt beteiligt war. Es stimmt, dass die Schweiz als Staat nie Kolonien besessen hat. Die koloniale Beteiligung eines Staates misst sich jedoch nicht nur an der Anzahl eingenommener Gebiete. Und die Situation der Schweiz wurde nie unter diesem Gesichtspunkt untersucht. Sträflicher noch, die Lücke in der Geschichtsschreibung diente als Vorwand für die Behauptung, der Schweizer Staat sei nicht in die Kolonisation verwickelt gewesen. Anstatt eine Forschungslücke einzugestehen, zieht es eine Reihe von Historikerinnen und Historiker vor, undifferenziert zu verkünden, dass die Schweiz als solche formell keine koloniale Vergangenheit habe und dass die Schweizer als Privatpersonen gehandelt hätten.(1) Nun ist diese Forschungslücke aber nicht nur ein akademisches Problem, sondern auch ein politisches. Die Bundesbehörden selbst halten sich an das Narrativ einer staatlichen Nicht-Beteiligung – «die Organe des Landes waren nicht involviert»(2) –, auch um die aktuelle Wirtschafts- und Migrationspolitik der Schweiz zu legitimieren.
Dabei lassen sich zahlreiche Dynamiken staatlichen Handelns der Schweiz aufzeigen. Im Rahmen der Arbeitsgruppe Collaborative History of Global Switzerland (1800–1900) der Universität Lausanne wird derzeit ein Forschungsprojekt zu diesem Thema ausgearbeitet. Unter den vielen Beispielen haben wir die drei folgenden ausgewählt, um in die Problematik einzutauchen.
Im 19. Jahrhundert stellten die geografischen Gesellschaften in der Schweiz private Zirkel bürgerlicher Geselligkeit dar. Intellektuelle, Unternehmer und Politiker kamen hier zusammen und tauschten sich aus. So waren etwa Numa Droz und zwei weitere Bundesräte Mitglieder der Geographischen Gesellschaft Bern, neben zwei Berner Regierungsräten und einer Reihe von Bundesparlamentariern. Ziel dieser Gesellschaften war es letztlich, Überseegebiete zu erforschen, um Interessantes für die Wissenschaft, den Handel und auch die Missionstätigkeit herauszufinden.
Welche Formen der Partnerschaft gingen diese Gesellschaften mit dem Staat ein? Die geografischen Gesellschaften wurden konsultiert und waren an der Gründung des eidgenössischen Auswanderungsamts im Jahr 1888 beteiligt. Das Amt spielte ihnen vertrauliche, für das Wirtschaftswachstum nützliche Informationen zu. So erhielt etwa die Société neuchâteloise de géographie 1893 von der Behörde nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Notizen über Transvaal (eine Region im Nordosten des heutigen Südafrikas). Es war die Zeit, als Gold und Diamanten entdeckt wurden, zusammen mit Platin wichtige Rohstoffe der Uhrmacher. Für Neuenburg, Hochburg der Schweizer Uhrenindustrie, stand viel auf dem Spiel. Der Neuenburger Droz hatte bereits 1886 die Gründung eines Konsortiums in Transvaal empfohlen. Es wurde dann von einem anderen Neuenburger unter der Schirmherrschaft der Ostschweizerischen geographisch-commerciellen Gesellschaft in St. Gallen geleitet. Gleichzeitig eröffnete die Schweiz ein Konsulat im Land. Diese Initiativen, die aus einer öffentlich-privaten Partnerschaft hervorgingen, veranlassten mehrere Mitglieder geografischer Gesellschaften, nach Transvaal auszuwandern. Einer von ihnen war der Zürcher Bergbauingenieur Carl Fehr, der 1894 zum Schweizer Konsul in Transvaal ernannt wurde. Gemeinsam mit den Neuenburger Brüdern Philippe und Jean DuBois, die aus einer Uhrendynastie stammten, gründete er eine Holding für den Goldabbau. Ihre – räuberischen – Aktivitäten trugen Früchte: Allein im Februar 1894 wurden 13,5 Millionen Franken erwirtschaftet, eine horrende Summe, wenn man bedenkt, dass die Ausgaben und Einnahmen des Bundes in dem Jahr bei rund 50 Millionen Franken lagen. Die Angelegenheit endete für die Schweizer schlecht: 1899 wurden sie des betrügerischen Konkurses für schuldig befunden, ein Haftbefehl erging, worauf die Verantwortlichen aus dem Land flohen.
Diese Episode zeigt, wie stark der Schweizer Staat mit seinen Behörden und Vertretern von den geografischen Gesellschaften initiierte expansive Wirtschaftsprojekte unterstützte. Darüber hinaus subventionierte er sie. Die Gesellschaften in Aarau und St. Gallen, die sich beide vornehmlich dem Überseehandel widmeten, erhielten nicht nur vom Bund öffentliche Gelder, sondern auch von den Kantonen, unter anderem von Basel-Stadt, Thurgau und Appenzell.
Auch wenn sich der Bund – trotz einschlägiger Debatten im Bundeshaus – nicht offiziell in der Kolonialpolitik engagiert hat, haben Schweizer in eigener Regie Kolonien gegründet. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts entwickelten sich in Übersee Schweizer Gemeinschaften, die gleichzeitig in Bern von privaten Konsuln oder Hilfsgesellschaften vertreten wurden. Die Gründung solcher Vereine wurde manchmal von Staatsvertretern gefördert. Ein Beispiel hierfür ist die Kairoer Gesellschaft, die 1869 dank einer Spende der eidgenössischen Delegation, die anlässlich der Eröffnung des Suezkanals nach Ägypten reiste, gegründet wurde. Die Bahia-Gesellschaft wurde 1857 in Brasilien gegründet. Archivunterlagen belegen, dass sie formell der Eidgenossenschaft angegliedert war. Änderungen am Reglement durften nur mit Zustimmung aus Bern erfolgen. Ihre Aktivitäten umfassten nicht nur Hilfe und Unterstützung, sondern auch Investitionen, um das Eigenkapital durch Investitionen auf dem brasilianischen Markt zu mehren. Allgemeiner betrachtet sprachen sowohl der Bundesrat als auch die kantonalen Exekutivorgane seit Mitte des 19. Jahrhunderts jährliche Zuschüsse an Schweizer Hilfsgesellschaften im Ausland. So wurden beispielsweise 1881 mehr als 36 000 Franken – damals eine Summe, die dem Jahresgehalt von rund 70 Genfer Landwirten entsprach – auf 85 derartige Organisationen verteilt. Auch einmalige Zuschüsse auf besonderen Antrag hin wurden gewährt. Der Schweizer Staat überwies demzufolge Gelder an zahlreiche Empfänger in den Kolonien.
Im Gegenzug zahlten auch die Kolonialstaaten Geld an etliche Menschen in der Schweiz. Begünstigt wurden vor allem Schweizer, die in den kaiserlichen Armeen Europas gedient hatten, z. B. in Algerien im Dienste Frankreichs. Von 1814 bis 1914 rekrutierten die Niederlande über 7500 Schweizer für Indonesien. Nach ihrer Heimkehr hatten die ehemaligen Soldaten Anspruch auf Pensionen, die sie persönlich einfordern mussten. Sehr oft wandten sie sich dafür an die kommunalen und/oder kantonalen Behörden, bevor ihr Antrag nach Bern ging und die eidgenössischen Behörden über das diplomatische Netzwerk aktiv wurden, um die Beträge einzufordern. Es gab also einen bürokratischen Kreislauf zwischen verschiedenen staatlichen Ebenen im Inland und an der Kolonisation beteiligten ausländischen Staatsorganen. Der mit den Pensionen verbundene Geldzufluss war substanziell, sowohl global als auch individuell gesehen, befreite er doch in vielen Fällen die Haushalte aus der Armut oder sogar aus dem Elend.
Kombiniert ergeben Subventionen und Pensionen als wechselseitiges Phänomen einen Hebel, um die Rolle des Schweizer Staates im kolonialen Kontext zu überdenken. Die individuellen oder kollektiven Werdegänge von Schweizerinnen und Schweizern in den Kolonien veranlassten den Bund und die Kantone zum Handeln. Sie bieten auch Anstoss, die Geschichte des Sozialstaats (oder des Proto-Sozialstaats) in Europa neu zu denken und sie in eine globale, übergreifende Perspektive einzubetten. Öffentliche Gelder für oder aus Kolonialgebieten begünstigten die Entwicklung von Sozialleistungen, die den Menschen in Europa einen Mindestlebensstandard garantieren.
Es gibt einen Bereich der Kolonialgeschichte, in dem der Schweizer Staat ohne jeden Zweifel involviert war: die Schiedsgerichtsbarkeit. Häufig beauftragten die Regierungen der Kaiserreiche den Bundesrat oder eines seiner Mitglieder mit der Beilegung von geopolitischen oder wirtschaftlichen Streitigkeiten, die die überseeischen Gebiete betrafen. Das belegt, dass das imperiale Weltsystem Länder wie die Schweiz brauchte, um seine Konflikte zu schlichten. Dieser Geschäftszweig entwickelte sich in der Schweiz ab 1872, als ein in Genf tagendes Schiedsgericht unter der Leitung von alt Bundesrat Jakob Stämpfli das Britische Empire dazu verurteilte, die Vereinigten Staaten von Amerika für ihre Einmischung in den Sezessionskrieg zu entschädigen. Der belgische König Leopold II. wandte sich an den Bund, um die Konflikte seines unabhängigen Staates Kongo mit rivalisierenden Mächten zu schlichten (1886, 1889). Bis heute sind im Schweizerischen Bundesarchiv rund 15 Schiedsgerichtsfälle dokumentiert.
Während einige bereits teilweise untersucht wurden, wie etwa der Fall zwischen Brasilien und Frankreich betreffend die Grenzziehung in Französisch-Guayana (1897–1900), weiss man über andere bisher gar nichts. Im Konflikt um die Bahnverbindungen zwischen Transvaal und Mosambik erhoben Grossbritannien und die USA Klage gegen Portugal. Portugal hatte den Teil der Strecke verstaatlicht, der auf dem Gebiet des unter seiner Herrschaft stehenden Mosambiks lag. Die Schweizer Schlichtungsbemühungen zogen sich ein Jahrzehnt lang hin (1890–1900). Gleichzeitig wurden andere Kolonialfälle behandelt, in die Schweizer Staatsangehörige verwickelt waren, insbesondere Mitglieder der Mission Romande, die von Portugal beschuldigt wurden, dem Kaiserreich feindlich gesinnt zu sein. Dank der Bedeutung der Schiedsgerichtsbarkeit wurden die Missionare nicht aus Mosambik ausgewiesen.
Dass diese Aktivitäten die Eidgenossenschaft unbestreitbar in die Expansionspolitik der Grossmächte einbanden, steht zweifelsohne fest. Es ist aber auch legitim, zu fragen, inwiefern sie der Schweiz geholfen haben, Zugeständnisse in den Kolonien zu erhalten. Das Beispiel der Missionare zeigt, wie interessant die aktuelle Forschung zur Geschichte der Schiedsgerichtsbarkeit ist, die über die Frage der Rechtsprechung hinausgeht.
Die koloniale Rolle des Schweizer Staates im 19. Jahrhundert zu untersuchen, bedeutet nicht nur, sich mit einem unbekannten, ja verkannten Teil der schweizerischen (kolonialen) Vergangenheit zu befassen, sondern ermöglicht es auch, einen Beitrag zur Weiterentwicklung der internationalen Geschichtsschreibung zu leisten. Es ist inzwischen erwiesen, dass der Verkehr von Menschen, Ideen, Waren und Kapital die Schweiz zu einem Teil der Kolonisation machte, wie viele andere Länder im Schatten der grossen Kolonialpolitik auch. Die Rolle des Staates in diesem Kontext blieb oft unbeachtet und damit auch seine Besonderheiten, wie etwa die Tatsache, dass er auf drei Ebenen (Bund, Kantone und Gemeinden) strukturiert ist und auf einem politischen Milizsystem basiert, was eine stärkere Verflechtung privater Interessen mit der öffentlichen Sphäre bedeutet als anderswo. Die Schweiz unter dem Gesichtspunkt der staatlichen Beteiligung zu untersuchen, kann dazu beitragen, besser zu verstehen, welche Rolle Staaten ohne eigene Kolonien bei der Kolonisation und damit in der Kolonialgeschichte generell gespielt haben.
Fabio Rossinelli, «Swiss colonial business in the Transvaal. The involvement of the DuBois Family, watchmakers in Neuchâtel (late 19th century)» in Bernhard C. Schär, Mikko Toivanen (Hrg.), Integration and Collaborative Imperialism in Modern Europe, London, Bloomsbury, 2024 (in Vorbereitung).
Philipp Krauer, Bernhard C. Schär, «Welfare for war veterans. How the Dutch Empire provided for European mercenary families, c. 1850 to 1914» in Itinerario. Journal of Imperial and Global Interactions, Bd. 47, Nr. 2, 2023 (in Vorbereitung).
Fabio Rossinelli, Géographie et impérialisme. De la Suisse au Congo entre exploration géographique et conquête coloniale, Neuenburg, Alphil, 2022.
Yves Collart, Marco Durrer, Verdiana Grossi, «Les relations extérieures de la Suisse à la fin du XIXe siècle. Reflets d’une recherche documentaire» in Études et sources, Bd. 9, S. 35–120, 1983.
(1) RTS-Sendung Forum vom 17. Juni 2020. Originalzitate («formellement, la Suisse, en tant que telle, n’a pas eu de passé colonial» und «ce sont les Suisses qui ont agi à titre individuel») von Christophe Vuilleumier bzw. Olivier Meuwly.
(2) SRF-Samstagsrundschau vom 20. Februar 2021. Zitat von Ignazio Cassis.