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Die Historikerin Manda Beck und der Historiker Andreas Zangger haben die Ausstellung «Blinde Flecken – Zürich und der Kolonialismus» kuratiert. Manda.beck@gmx.ch; zangger@ogre.ch
In Zürich hat die Ausstellung «Blinde Flecken – Zürich und der Kolonialismus» viele Besucherinnen und Besucher angezogen. Was waren die Voraussetzungen, dass in einem Land ohne Kolonien eine solche Ausstellung zustande kommt? Und wie reagierte das Publikum? Kuratorin Manda Beck und Kurator Andreas Zangger gehen diesen Fragen nach.
Die Frage, weshalb Kolonialgeschichte für die Schweiz von Bedeutung ist, lässt sich kurz beantworten: Die Industrialisierung entstand aus dem Austausch mit Kolonien. Rohstoffe von Plantagen wurden importiert, Fertigprodukte exportiert. Die Schweiz als ein Land, das sich früh industrialisierte, hatte diesen Zugang zu den Kolonien nötig. Schweizer Wirtschaft und Gesellschaft beteiligten sich am Kolonialismus in allen Ländern und in allen Aspekten: von der Unterwerfung über die Missionierung, die Ausbeutung von Rohstoffen und Naturprodukten bis zur Rechtfertigung der Idee der europäischen Vorherrschaft. Dieser Kolonialismus hat auch das Land selber verändert. Die Vermögensschere öffnete sich, die Bevölkerung wurde diverser. Gleichzeitig hat das Land aus der Kolonialzeit einen Rassismus geerbt, dessen sich viele hierzulande nicht bewusst sind.
Die Geschichte zeigt also enge Verflechtungen der Schweiz mit dem Kolonialismus. So finden wir bereits Ende des 16. Jahrhunderts zwei Söldner aus Zürich auf einem Sklavenschiff. Viele Zürcher betrieben Plantagen in Amerika, Asien und Afrika und gelangten damit zu Reichtum. Aber auch viele weniger wohlhabende Zürcherinnen und Zürcher beteiligten sich am Kolonialismus: als Söldner in Kolonialarmeen, als Missionarinnen und Ärztinnen oder als Wissenschaftler bei der Erkundung der unterworfenen Gebiete. Auch in der Stadt selbst profitierten Industrie, Finanzplatz und Hochschulen von den Beziehungen zu den Kolonien und erhielten Rohstoffe, Anlagemöglichkeiten und Forschungsmaterial.
Trotzdem kamen diese Verflechtungen im öffentlichen Diskurs lange nahezu nicht vor. Der Glarner Kantonsarchivar Eduard Vischer schrieb zwar schon vor 60 Jahren: «Man pflegt heute oft zu sagen, weil die Schweiz keine Kolonien hatte, sei sie zur sogenannten Entwicklungshilfe in besonderer Weise prädestiniert; es werde ihr deshalb ein ganz besonderes Vertrauen entgegengebracht. Daran ist gewiss etwas. Aber wenn wir auch nie Kolonien hatten, so lebten wir doch nicht auf einem besonderen Stern und waren gewiss nicht besser als andere Menschen. In den europäischen und aussereuropäischen Kriegen und Streitigkeiten blieben wir als Staat neutral, individuell nahmen wir – als Reisläufer – daran teil, und ebenso schalteten wir uns als Kaufleute mit grosser Energie ein, wo es irgend möglich war, und beteiligten uns an der Verteilung der Reichtümer dieser Erde.»
Diese Aussage passte damals nicht in den Zeitgeist. Die Schweiz gefiel sich in der Rolle der neutralen Nation, die gute Dienste anbietet, und war wenig interessiert, an diesem Bild zu rütteln. Der Fokus der Geschichtsdebatten lag eher auf der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg und auf der Beziehung zu Europa. Die aussereuropäischen Verstrickungen gingen dabei weitgehend vergessen. Die Frage müsste daher lauten, was waren die Voraussetzungen, dass dieses Thema auch in einer breiteren Öffentlichkeit ankam. Dazu beigetragen haben drei Entwicklungen, die nachfolgend ausgeführt werden.
Erstens schuf die wachsende Globalisierung ein Bedürfnis, mehr über ihre Vorgeschichte zu wissen. Historische Studien dazu gibt es zwar schon lange, und sie hatten auch stets einen Platz in der historischen Forschung. So verfassten Herbert Lüthy und Conrad Peyer, beides namhafte Historiker ihrer Zeit, Studien über Fernhandel und Finanz im 17. und 18. Jahrhundert, die noch heute sehr wichtige Informationsquellen sind, was die Beteiligung von Privaten und öffentlichen Institutionen in der Schweiz an der Sklaverei betrifft. Doch viele der frühen Studien beziehen sich eher implizit als explizit auf Kolonialismus und dienten eher der Glorifizierung der schweizerischen Exportwirtschaft wie etwa Lorenz Stuckis «Das heimliche Imperium».
Ab den 1990er-Jahren entstanden erste Studien, welche die Aussenseite der Exportwirtschaft unter die Lupe nahmen und damit im weitesten Sinne die moralische Dimension des wirtschaftlichen Handelns ansprachen. Dazu zählen die verschiedenen Studien zur Beteiligung an der Sklaverei. Was die Beteiligung am Kolonialismus betrifft, so stellt sich das Problem, dass die Schweiz in den Kolonien eher «überall ein bisschen» als «irgendwo spezifisch» präsent war. Der schweizerische Kolonialismus entzieht sich deshalb tendenziell einer Gesamtanalyse oder erschwert diese zumindest, vor allem wenn es darum geht, die Verantwortlichkeit für die Effekte des Kolonialismus zu untersuchen.
Die zweite Entwicklung war die wachsende Migration in die Schweiz. In den vergangenen Jahrzehnten ist der Anteil von Menschen aus ehemaligen Kolonien in der Schweiz stetig gestiegen, ebenso der Anteil an People of Color (PoC), also Menschen, die von Rassismus betroffen sind. Genaue Zahlen sind schwierig zu eruieren, aber als Annäherung kann die Entwicklung der Bevölkerung mit einer Herkunft aus Asien, Afrika, Lateinamerika und der Karibik dienen. Sie stieg in den vergangenen 30 Jahren von rund 40 000 auf 350 000. Das sind knapp 5 Prozent der Wohnbevölkerung, die im Alltag möglicherweise mit Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit konfrontiert sind. Der zunehmende Präsenz von PoC in Schulen, Universitäten, Unternehmen und Institutionen schuf ein Bedürfnis, Fragen zum Umgang mit Diversität zu diskutieren, und brachte damit auch das Thema Rassismus auf die Agenda.
Mit der Suche nach den Ursachen des Rassismus geriet auch der postkoloniale Zustand der schweizerischen Gesellschaft in den Fokus. Denn der Rassismus in der Schweiz geht auf die Kolonialzeit zurück und wurde damals von der Gesellschaft erlernt. Nun trägt eine postkoloniale Forschung dazu bei, die Ursachen des Rassismus zu erkennen und diesen gewissermassen zu «entlernen», was im Gegensatz zu «verlernen» ein aktiver und bewusster Vorgang ist. Insbesondere trugen auch Schwarze und andere PoC an Universitäten dazu bei, die Forschung über die Geschichte von Migration, von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit voranzutreiben und das Wissen darüber zu verbreiten.
Drittens sorgten Aktivistinnen und Aktivisten dafür, dass Themen wie Rassismus und Kolonialismus öffentlich debattiert wurden. Die Romandie war der Deutschschweiz dabei um einiges voraus. 1985 wurde in verschiedenen Westschweizer Kantonen die Gruppe «SOS Racisme» aktiv. In der Deutschschweiz lag der Fokus eher auf den Verstrickungen des Finanzplatzes, etwa in der Anti-Apartheid-Bewegung. Diese Bewegungen hatten einen stärkeren Fokus auf die Gegenwart als auf die koloniale Vergangenheit. Dies hat auch mit der spezifischen Situation der Schweiz zu tun. Denn das koloniale Engagement der Schweiz ging nicht vom Staat aus und hatte keinen regionalen Fokus. Deshalb ist auch die Migration aus ehemaligen Kolonien in die Schweiz sehr heterogen. Ebenso können Migrantinnen und Migranten aus ehemaligen Kolonien den Staat nicht auf seine historische Verantwortlichkeit ansprechen, wie das in Grossbritannien, Frankreich oder den Niederlanden der Fall ist.
Doch auch in der Schweiz kamen die historischen Verstrickungen mit den Kolonien in die öffentliche Debatte. Als einer der ersten brachte der Historiker und politische Aktivist Hans Fässler die Beteiligung der Schweiz an der Sklaverei an eine breitere Öffentlichkeit. Mit publikumswirksamen Aktionen wie etwa der Petition zur Umbenennung des Agassizhorns gelang es ihm, die Aufmerksamkeit der Medien für das Thema zu gewinnen. Seine Interventionen drangen bis in verschiedene kantonale und städtische Parlamente vor und führten dort zu Aufträgen an die Forschung.
Den entscheidenden Durchbruch für das Thema brachte jedoch die «Black Lives Matter»-Bewegung. Der Mord an George Floyd in Minneapolis, die weltweite Bewegung in Reaktion darauf und die Demonstrationen in verschiedensten Schweizer Städten setzten hierzulande einiges in Gang. Das Thema war im Mainstream angelangt und zur Primetime wurde am Fernsehen plötzlich über Rassismus diskutiert. Wenn auch diese Medienaufmerksamkeit ebenso schnell verschwinden kann, wie sie auftaucht, so hat sich auch unter der Oberfläche etwas nachhaltig verändert. Da das Thema so lange an der Öffentlichkeit vorbeiging, ist nun das Bedürfnis, mehr zu erfahren, umso grösser. Das zeigt sich auch in der Ausstellung «Blinde Flecken – Zürich und der Kolonialismus», die vom 20. Januar bis 3. September 2023 im Zürcher Stadthaus zu sehen war.
Als Erkennungsmerkmal der Ausstellung dienten gelbe Bänder, sichtbar sowohl auf dem Plakat als auch als wichtigstes gestalterisches Element in der Ausstellung. Im Stadthaus waren sie zwischen den Säulen des Atriums und quer darüber gespannt – und liessen an Absperrbänder denken. Kolonialismus war von Gewalt geprägt; durch Rassismus schuf er Grenzen und Barrieren, die bis heute nachwirken. Doch die Bänder symbolisieren auch die Verstrickungen von Zürcherinnen und Zürchern sowie städtischer Institutionen in der Kolonialzeit. Ebenso verbinden die Bänder Orte und Zeiten, Geschichte und Gegenwart.
Gegliedert war die Ausstellung rund um die koloniale Vergangenheit und ihre Nachwirkungen in der Gegenwart. Zentrale Aussage war, dass der Rassismus von heute seine Ursprünge in der Vergangenheit Zürichs hat. Vieles dazu war schon lange bekannt, aber in einer breiteren Öffentlichkeit kaum angekommen. Deshalb sprachen wir von blinden Flecken. In der Ausstellung standen sich zwei Karten gegenüber, die beide blinde Flecken sichtbar machen sollten: Zum einen eine Weltkarte, die auf ausgewählte Orte verweist, an denen sich Zürcherinnen und Zürcher am Kolonialismus beteiligten, zum anderen eine Stadtkarte mit Orten, an denen die Spuren des Kolonialismus sichtbar sind. Vielen Passantinnen und Passanten sind diese Bezüge zum Kolonialismus wahrscheinlich kaum bewusst. So etwa zieren sowohl beim Kaufhaus Sihlporte als auch bei der Sihlpost «exotisierende» Darstellungen von Frauen aus Afrika und Asien jeweils den Eingang. Der Bauherr der Sihlporte besass selber Kaffeeplantagen in Tansania. Die dargestellten Frauen, die Kolonialwaren tragen, sind damit nicht bloss Werbeobjekte, sondern auch wirtschaftlich ausgebeutete Subjekte.
Eröffnet wurde die Zürcher Ausstellung von Mandy Abou Shoak, Co-Geschäftsführerin Gewaltprävention, Sozialarbeiterin und Aktivistin. Erst an zweiter Stelle sprach Stadtpräsidentin Corine Mauch, die solche Anlässe üblicherweise eröffnet. Uns schien es wichtig, als symbolischen Akt der Dekolonisation die traditionelle Reihenfolge aufzubrechen. Denn der Ausschluss von Schwarzen und andere PoC wirkt seit der Kolonialzeit nach. Bereits an der Vernissage zeichnete sich ein grosses Publikumsinteresse ab. Eine Statistik wurde nicht geführt, aber grobe Zählungen gehen von rund 10 000 Besucherinnen und Besuchern aus. Das ist ein grosser Erfolg und zeigt, dass ein echtes Bedürfnis nach Informationen besteht. Ob bei einem Behördengang im Stadthaus, einem gezielten Besuch, einem Gruppenanlass oder einem Schulausflug, viele nahmen sich Zeit für die Ausstellung, lasen, hörten Audios oder schauten sich die Filme an. Die Führungen waren stets ausgebucht. Geleitet wurden sie von Historikerinnen und Historikern, die auf diesem Gebiet forschen. Dadurch konnten wir mit Hintergrundwissen auf die Dynamik in der Gruppe reagieren. Im Dialog mit den Teilnehmenden wurde klar, dass das Thema stark emotionalisiert ist und viele eine Meinung dazu haben.
Weshalb ist das Thema so emotional? Zum einen formte die Kolonialzeit die zentralen Traditionen und Weltbilder der schweizerischen Gesellschaft mit. Sie sind tief verankert und tragen zur Identitätsbildung bei. Vielen Menschen ist der Zusammenhang von Traditionen und Kolonialismus kaum bewusst. Wenn nun solche Traditionen problematisiert werden, reagieren viele Menschen abwehrend. Nicht selten hörten wir Bemerkungen, die eine persönliche moralische Dimension ansprechen: «Muss ich mich jetzt schlecht fühlen, weil ich mich vor zehn Jahren an der Fasnacht als Indianerin verkleidet habe?», fragte eine Besucherin. Einige erlebten es als schmerzhaft, dass Ereignisse, an die sie schöne Erinnerungen knüpfen, nun in Frage gestellt werden.
Zum anderen hat das Thema Kolonialismus und Rassismus in den Medien Konjunktur, weshalb viele Besuchende mit einem partiellen und zum Teil politisch aufgeladenen Wissen in die Ausstellung kamen. In den Führungen fingen wir solche emotionalen Situationen auf, indem wir möglichst nüchtern den aktuellen Forschungsstand aufzeigten.
Die Auseinandersetzung mit der persönlichen Moral ist durchaus beabsichtigt. Besucherinnen und Besucher trafen in der Ausstellung auf eine geballte Menge von Informationen über die Verstrickungen Zürichs in der Kolonialzeit. Die Themen sind beladen und regen an sich schon zum Nachdenken und Hinterfragen an. Darüber hinaus versuchten wir, diesen Prozess durch weiterleitende Fragen in der Ausstellung bewusst anzuregen. Das Publikum wurde dabei persönlich angesprochen: «Welches sind meine Privilegien?», «Unter welchen Bedingungen werden die Nahrungsmittel hergestellt, die ich konsumiere?», usw. Es kam vor, dass am Ende einer Führung einige Personen ratlos fragten: «Was soll ich nun mit all diesen Informationen tun?». Dabei schwang eine gewisse Überforderung mit. Doch wir gaben in der Ausstellung weder Antwort auf die Fragen noch eine Anleitung für zukünftiges Denken und Handeln. Wichtig war der Anstoss zur Selbstreflexion.
Nicht nur Einzelpersonen, sondern auch Institutionen hinterfragen seither ihre Position. So geht beispielsweise das Völkerkundemuseum in Zürich kritisch mit seinem Sammlungs- und Dokumentationskonzept um und hinterfragt den eigenen Namen. Das breite Begleitprogramm zeigte, dass das Thema in der Stadt angekommen ist. Viele Institutionen reagierten auf unseren Aufruf – sei es, dass sie durch die Ausstellung einen Anstoss erhielten, dem Thema Raum zu geben oder sei es, dass sie schon selber Schritte in diese Richtung unternommen hatten. Die Sukkulenten-Sammlung der Stadt Zürich erarbeitete im Rahmen des Begleitprogramms eine Führung zum Thema Sukkulenten und Kolonialismus. Was mit der Konzipierung einer Führung begann, endete in der Hinterfragung des Konzepts der eigenen Institution. Mit dem Begleitprogramm erreichten die Museen und anderen Veranstalter nicht nur ihre übliche Zielgruppe, sondern auch Personen, die gezielt an Veranstaltungen kamen. Das Thema stösst also erfreulicherweise auf grosses Interesse, und wir hoffen, dass nachhaltig ein grösseres Bewusstsein für die koloniale Vergangenheit der Stadt Zürich entsteht.