Theodora Peter
Die Kolonialzeit hat auch in der Schweiz sichtbare und unsichtbare Spuren hinterlassen. In mehreren Städten können Interessierte die verschiedenen Perspektiven einer lang verdrängten Geschichte entdecken – sei es auf geführten Rundgängen oder auf eigene Faust mit Online-Stadtplan und Audioguide.
Leuchtend rote Geranien zieren in der Berner Altstadt zahlreiche Brunnen und Fensterbänke. Der jährliche «Graniummärit» gehört zu den Traditionen der Bundesstadt. Doch die typische Schweizer Balkonpflanze stammt eigentlich aus Südafrika. Die Pelargonien kamen über Berner Söldner und ihre Beziehungen mit der holländischen Kolonialmacht vom Kap in die Schweiz. Ein Symbol dieser kolonialen Verflechtungen ist auch der sogenannte Holländerturm am Waisenhausplatz. Wo heute Touristinnen und Touristen im Restaurant Pizza essen, trafen sich damals bernische und holländische Offiziere, um Tabak zu rauchen. Diese neue Sitte hatte man sich in den Kolonien angeeignet. Überhaupt pflegte das Berner Patriziat gute Handelsbeziehungen mit den niederländischen Kolonialgesellschaften.
Diese und weitere Geschichten erzählt Karl Johannes Rechsteiner, Präsident von Cooperaxion, auf einem Rundgang durch Bern. Die Stiftung beschäftigt sich bereits seit 15 Jahren mit den kolonialen Verstrickungen der Schweiz entlang der Sklavenhandelsrouten. Die Stadtrundgänge sind Teil der Bildungsarbeit der Nichtregierungsorganisation. Inzwischen bieten Rechsteiner und sein Team die Stadtrundgänge nicht nur in Bern, sondern auch in Thun, Neuenburg und Freiburg an. In weiteren Städten beteiligt sich Cooperaxion an Kampagnen und Veranstaltungen. Das Interesse an den Führungen habe seit der «Black Lives Matter»-Bewegung im Jahr 2020 stark zugenommen, konstatiert Rechsteiner. Er ist inzwischen fast im Wochentakt mit Gruppen unterwegs. Gebucht werden die Rundgänge von Schulen, Gewerkschaften, öffentlichen Ämtern, Firmen oder Privatpersonen. 2022 nahmen insgesamt 1000 Personen an diesen Führungen teil – ein Rekord.
Zu den Pionieren der Bildungsarbeit gegen Rassismus gehört auch der Historiker, Kabarettist und politische Aktivist Hans Fässler. Er bietet in St. Gallen und Umgebung verschiedene Rundgänge an – zum Beispiel «Im Westen viel Neues» zu (post)kolonialen Spuren. Die Stadtführung «Auf den Spuren von Rassismus» war 2019 im Rahmen der St. Galler Aktionstage gegen Rassismus ins Leben gerufen worden.
In Zürich wiederum engagiert sich der Verein Zürich Kolonial, der aus dem akademischen Umfeld der Geschichtswissenschaften entstanden ist, für die Aufklärung des breiten Publikums zu lokalen Spuren des Kolonialismus. «Zürcherinnen und Zürcher wurden mit Überseeplantagen reich, investierten in die Sklaverei, organisierten Völkerschauen oder stellten sich als Söldner in den Dienst von Kolonialarmeen», hält der Verein auf seiner Webseite fest. Konzipiert wurde dazu ein Stadtrundgang mit rund einem Dutzend Stationen, die Interessierte mit einem Audioguide auf eigene Faust erkunden können. Unterwegs – oder auch zu Hause – können die mündlichen Erzählungen mit dem eigenen Smartphone abgehört werden. Geplant ist zudem, dass bei den einzelnen Stationen ein QR-Code gescannt werden kann, um vor Ort direkt mit der jeweiligen kolonialen Geschichte verbunden zu werden. Erfahren lässt sich dabei zum Beispiel, was der prächtige Belvoirpark mit den kolonialen Verstrickungen der Zürcher Oberschicht im 19. Jahrhundert zu tun hat oder was die Wandgemälde im Bahnhof Wiedikon über Rassismus und Kolonialismus erzählen.
Auch in Winterthur bieten Historikerinnen und Historiker öffentliche Stadtrundgänge und Führungen für Gruppen an. Unter dem Titel «Dunkle Geschäfte» kann das Publikum die Schauplätze der vergessenen Kolonialgeschichte entdecken. In Basel plant der Verein Frauenstadtrundgang Basel, der bereits heute Führungen auch zum Thema Migration anbietet, einen Rundgang mit Schwerpunkt Kolonialismus. In Genf bietet das Kollektiv Afro-Swiss seit 2019 eine öffentliche Führung an – unter dem Titel «Du village noir au mouton noir: visite guidée du Genève colonial». Auch in anderen Schweizer Städten gibt es ähnliche Initiativen der Zivilgesellschaft, oder sie sind im Aufbau begriffen.