TANGRAM 47

Die kritische Aufarbeitung von Mission und Kolonialismus

Autorin

Claudia Buess ist Leiterin Bildungsveranstaltungen bei Mission 21. Claudia.Buess@mission-21.org

Im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts war die Verflechtung von Missionsgesellschaften mit kolonialen Mächten weit verbreitet. Die glaubensbasierte Entwicklungsorganisation Mission 21 stellte sich die Frage, wie mit dem zwiespältigen Erbe umzugehen ist – und was sich daraus lernen lässt.

Die Vorgängerin von Mission 21, die Basler Mission (BM), war im 19. Jahrhundert eine der ersten und grössten evangelischen Missionsgesellschaften Europas (entstanden 1815) und gründete in Ländern Afrikas und Asiens christliche Kirchen. Um Antworten in der Gegenwart zu formulieren, wollten wir die Vergangenheit in ihrer Komplexität differenziert in den Blick nehmen.

Die Geschichte der weltweiten Missionstätigkeit Europas zeigt, dass sich Beispiele respektvoller Begegnung wie auch eurozentrischer Überheblichkeit oder gar rassistischen Verhaltens gleichermassen finden. Das Verhältnis von Missionen und Kolonialismen war komplex und unterschied sich je nach historischem und geografischem Kontext sowie je nach individueller Haltung der Akteurinnen und Akteure. Beispielsweise beabsichtigte die BM um 1828 an der Goldküste, dem heutigen Ghana, ihre Missionsbemühungen bis ins Reich der Asante im Landesinnern auszudehnen (1). Sie war zunächst nicht sonderlich erfolgreich (2), und die BM hoffte, dass das British Empire nicht nur die Küste Ghanas, sondern auch das Landesinnere kolonisieren und so die neuen christlichen Gemeinden schützen würde. Sie schickte sogar den Missionar Elias Schrenk 1865 als Lobbyisten ins britische Unterhaus, aber die Briten lehnten ab. Erst nach langen Kriegswirren besiegten die Briten 1874 den Asante-König und etablierten formell die britische Kolonialherrschaft auch im Landesinnern der Goldküste. Die Niederlage war für die Asante traumatisch, und der Reichsverband zerfiel in lokale, teils unabhängige Provinzen, wie zum Beispiel die Provinz Kwawu, die der BM erlaubte, auf ihrem Gebiet im Zentrum des heutigen Ghana missionarisch tätig zu sein.

Dieses Beispiel illustriert die weit verbreitete Verflechtung von Missionsgesellschaften mit kolonialen Mächten im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Missionarinnen und Missionare profitierten von der Sicherheit und Stabilität der kolonialen Herrschaftsstrukturen. Missionen wie auch Kolonialstaaten konnten ihre Ziele ohne Unterstützung des anderen verfolgen – eine Zusammenarbeit war für beide jedoch vorteilhafter. Wie das Beispiel zeigt, forderte die BM den Schutz des British Empire erst ein, als die Missionierung der Einheimischen auf den Widerstand der Asante stiess. Dabei zeigte sich, wie gut sie international auch politisch vernetzt war, da sie ihre Interessen als Schweizer Missionsgesellschaft sogar im britischen Unterhaus vertreten konnte. Gemäss dem Historiker Peter Haenger waren sich die Missionare der «unheiligen Allianz von Bibel und Kanonen […] bewusst – ohne dass sich Schuldgefühle eingestellt hätten». Sie verstanden sich u. a. auch als moralisches Antlitz der Kolonialisierung.

Bekehrungsauftrag und Zivilisierungsmission

Wie viele Missionen formulierte auch die BM an der Goldküste für sich einen Zivilisierungsauftrag. Insbesondere die von Missionarinnen und Missionaren praktizierte «Erziehung zur Arbeit» sollte die Werte der christlichen Zivilisation vermitteln. Eine Konversion zum Christentum, was gleichzeitig als höhere Zivilisationsstufe angesehen wurde, war nur in Verbindung mit einem «arbeitsamen» und abstinenten Leben nach Vorgaben der Missionsgesellschaften möglich, die auch Werte wie Sauberkeit, Moral, Kleiderfragen, eine bestimmte Geschlechterordnung usw. einforderten. Missionarinnen und Missionare agierten als überzeugte Vertreterinnen und Vertreter einer westeuropäisch geprägten, protestantischen Religion und Kultur, die sie als überlegen ansahen. Der missionarische Schulunterricht auf der Grundlage der Bibel war u. a. ein wesentliches Hilfsmittel zur möglichst raschen Bekehrung von Schulkindern zum Christentum. Bekehrungsauftrag und Zivilisierungsmission waren gemäss der Historikerin Karolin Wetjen kaum zu trennen und transportierten spezifisch christlich-europäische Werte.

Im Gegenzug ermöglichte die missionarische Schulbildung, welche europäische Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben vermittelte, der einheimischen Bevölkerung den sozialen Aufstieg innerhalb der kolonialen Verwaltungsstrukturen, im internationalen Handel oder in der Industrie in den Kolonien. Die Missionsschulen brachten schlussendlich eine Intellektuellenschicht hervor, deren Vertreterinnen und Vertreter gegen den Kolonialismus aufbegehrten und ihre Heimatländer im 20. Jahrhundert in die nachkoloniale Unabhängigkeit führten (prominente Beispiele sind Nelson Mandela oder Kwame Nkrumah). Die Ambivalenz des Wirkens der Mission wird deutlich.

Dokumentation lokaler Kulturen

Es gibt auch viele Beispiele respektvoller Begegnungen, insbesondere auf dem Gebiet des Kulturtransfers: Missionarinnen und Missionare dokumentierten die lokalen Gesellschaften und Kulturen in Text und Fotografie. Eine respektvolle Fotografin war zum Beispiel Anna Wuhrmann, die für die BM von 1911–1915 in Kamerun war. An der Goldküste sowie in vielen anderen Missionsgebieten verfassten die Missionierenden gemeinsam mit ihren lokalen Mitarbeitenden Bibelübersetzungen in einheimische Sprachen und erstellten Wörterbücher mündlich überlieferter Sprachen. Aus heutiger Optik leisteten sie damit einen wichtigen Beitrag zur Überlieferung von (oralem) Wissen über materielles und immaterielles Kulturgut. Die historischen Dokumente und Fotos der BM im Forschungsarchiv von Mission 21 sind für viele Forschende aus Ländern in Afrika und Asien begehrte, weil seltene schriftliche und visuelle Quellen ihrer eigenen Geschichte.

Doch auch hier zeigt sich die Geschichte in ihrer ganzen ambivalenten Komplexität. Denn die regelmässigen Berichte der Missionarinnen und Missionare nach Basel, die später zu Spendenzwecken redigiert und in Zeitschriften und Traktaten an die deutschsprachige Öffentlichkeit verbreitet wurden, berichteten zwar von unbekannten Ländern und Gesellschaften. Oft wurden sie jedoch aus einer eurozentrischen Perspektive geschrieben, die den weissen, christlichen Missionar und dessen Kultur und Religion als überlegen darstellte. Entsprechende Wertungen bzw. Abwertungen des unbekannten «Anderen» finden wir in den historischen Missionszeitschriften, wie etwa Christen vs. sogenannte «Heiden» oder «zivilisiert» vs. «unzivilisiert». Die Missionspublikationen verbreiteten teilweise diskriminierende und rassistische Darstellungen von Menschen aus aussereuropäischen Kulturen. Es finden sich auch abwertende Beschreibungen lokaler Glaubenssysteme, sozialer Strukturen und kultureller Praktiken, die vom christlichen Glauben abgelöst werden sollten. Hier zeigt sich eine Form von Kulturimperialismus, welcher ab der Mitte des 19. Jahrhunderts eine weitere Ausprägung im sogenannten wissenschaftlichen Rassismus fand. Auch wenn Missionarinnen und Missionare Ansichten vertraten, die damals weit verbreitet waren, haben wir hierzu als ehemalige Missionsgesellschaft eine schmerzhafte historische Verantwortung gegenüber unseren Partnerinnen und Partnern in den ehemaligen Missionsgebieten. Die strukturellen Auswirkungen dieser diskriminierenden Unterscheidung zwischen «the West» und «the Rest» sind bis heute spürbar.

Dialog mit Forschenden aus Afrika und Asien

Mission 21 sieht ihre Verantwortung darin, dieses historische Erbe wissenschaftlich aufzuarbeiten und dessen Bedeutung für die Gegenwart transparent zu reflektieren. Mit der Pflege des Archivs der BM leistet Mission 21 seit Jahrzehnten einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der kulturellen, sozialen und politischen Auswirkungen der globalen Missionstätigkeit, wie eine lange Liste von Forschungsarbeiten aus der ganzen Welt belegt.

Seit 2021 hat Mission 21 zudem eine Reihe von öffentlichen Webinaren organisiert, welche die vielschichtige Geschichte und das Erbe der BM im Kontext des Kolonialismus wissenschaftlich-kritisch aufarbeiten (vgl. www.mission-21.org/mission-colonialism-revisited). Dabei ist der Dialog mit Forschenden aus den ehemaligen Missionsgebieten in Afrika und Asien zentral, um zu verstehen, wie ungleiche Machtkonstellationen, Rassismus und Diskriminierung historisch geformt wurden und heute noch in den Beziehungen zu unseren Partnerorganisationen in Afrika, Asien und Lateinamerika fortbestehen. Daraus soll ein Lern- und Handlungsprozess entstehen, welcher die Verfehlungen der Vergangenheit nicht wiederholt und die unbestreitbar positiven Aspekte der historischen Missionsarbeit, wie inter- und transkultureller Austausch und globale Solidarität, verstärkt.

Wir praktizieren dies als internationale Lerngemeinschaft in Austauschforen zu Themen wie das Machtgefälle in der Entwicklungszusammenarbeit oder Rassismus in der Kirche. Dazu gehört auch, unsere privilegierte Position als mehrheitlich europäische, weisse Angestellte einer NGO in einem westlichen Industriestaat zu reflektieren, der auch von der wirtschaftlichen und kulturellen Ausbeutung der Gesellschaften im Globalen Süden profitiert. In einem kontinuierlichen Dialog können wir unserem Ziel von friedlichen und inklusiven Gesellschaften für eine nachhaltige Entwicklung gemäss den Uno-Zielen (SDG 16+) näherkommen. Gleichberechtigte und tragfähige Beziehungen zu Partnerinnen und Partnern in den Ländern in Afrika, Asien und Lateinamerika sind dafür essenziell.

Bibliografie

Haenger, Peter. Die Basler Mission im Spannungsbereich afrikanischer Integrationsversuche und europäischer Kolonialpolitik. 1989.

Wetjen, Karolin. Mission und Zivilisierung. Koloniale Grenzziehungen des Religiösen um 1900. Referat am Webinar von Mission 21. 19.5.2022

https://www.mission-21.org/fileadmin/Webseite_Mission_21/Bildungsangebot/Veranstaltungen_Archiv/Mission_und_Zivilisierung.pdf

https://www.mission-21.org/was-wir-tun/forschung/forschungsarchiv/

Fussnoten

(1) Die Asante waren damals ein 200 Jahre alter westafrikanischer Reichsverband von 60 Städten, an oberster Spitze stand der Asantehene, der Asante-König. Sie leisteten Widerstand gegen die Invasion der britischen Krone.

(2) Der Asante-König und viele seiner Fürsten stuften die Mission als fremdkulturellen Einfluss ein, weil die missionarische Doktrin die Abschaffung der Polygamie, der Sklavenhaltung und der rituellen Tötungen forderte, welche das Rechts- und Wirtschaftssystem der Gesellschaft Asantes von Grund auf umgestaltet hätten. Dennoch gab es Einheimische, die zum Christentum konvertierten und sich in christlichen Gemeinden zusammenfanden.