Autor
Der Historiker Dr. Henri-Michel Yéré forscht am Zentrum für Afrikastudien der Universität Basel. Er ist auch Schriftsteller und Lyriker. h.yere@unibas.ch
Die Schweiz stellte sich lange als Ausnahme unter den europäischen Staaten dar. Ihre geografische Lage, die Neutralität und das Fehlen von explizitem Kolonialismus zeichneten das Bild eines einzigartigen Landes, das von Konflikten und Problemen, die andere Länder kennen, verschont geblieben ist. Im Laufe der letzten zwanzig Jahre hat diese Selbstwahrnehmung jedoch Risse bekommen.
In ihrem Artikel aus dem Jahr 2017 gingen Patricia Purtschert, Francesca Falk und Barbara Lüthi der Frage des Schweizer Sonderfalls nach (1) , der auf zwei Hauptideen beruht: einerseits die Aussenseiterstellung der Schweiz gegenüber europäischen Ländern, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zu Kolonialmächten wurden (darunter Frankreich, Grossbritannien, Belgien, die Niederlande), und andererseits die Darstellung der Schweiz als neutraler Staat, der sich dem Weltfrieden verpflichtet fühlt und dessen Bürgerinnen und Bürger sich in diesem Sinne zivilgesellschaftlich engagieren. Ich vertrete die Auffassung, dass in den letzten zwanzig Jahren eine allmähliche Abkehr von dieser Selbstwahrnehmung stattgefunden hat. Seit 2003 etwa erleben wir, wie sich das Verhältnis der Gesellschaft zur eigenen Vergangenheit «normalisiert» und das Bewusstsein für die zentrale Dimension des Rassismus als Symbol für eine Vergangenheit, die weiter fortbesteht, zunimmt. Die Abkehr vom Sonderfall Schweiz zeigt sich auf zwei Ebenen: in den akademischen Fragestellungen und im antirassistischen Aktivismus.
Den Anfang des Umdenkens markiert eine Konferenz an der Universität Basel im Oktober 2003, bei der es um die historischen Beziehungen zwischen der Schweiz und dem afrikanischen Kontinent ging. Dieses Verhältnis war charakteristisch für eine Situation, die als «Imperialismus ohne Kolonien» bezeichnet wird. Die Konferenz in Basel war eine der ersten Gelegenheiten, um unter anderem vertieft der Frage nachzugehen, ob es in der heutigen Schweizer Gesellschaft Formen von Rassismus gibt, die mit denen in anderen europäischen Ländern mit expliziter kolonialer Vergangenheit vergleichbar sind (Frankreich, Grossbritannien, Belgien) (2). Diese bewusste Auseinandersetzung im akademischen Umfeld stärkte die Meinung, dass es heute nicht mehr möglich sei, von der Schweiz als einem Sonderfall in der Geschichte des europäischen Kolonialismus zu sprechen. Vor allem aber folgt daraus eine Verpflichtung zu verstehen, den Rassismus innerhalb der Schweizer Gesellschaft aus einer historischen Perspektive zu betrachten, denn eines der Probleme, mit denen wir kollektiv konfrontiert sind, ist gerade die Wechselwirkung zwischen dem Bestehen einer Kolonialgeschichte und der Art der Vorstellungen und Strukturen innerhalb der heutigen Schweizer Gesellschaft.
Die Veranstaltung in Basel bot auch die Gelegenheit, eine Verbindung zwischen dieser Geschichte und der Geschichte der Einwanderung nach dem Zweiten Weltkrieg herzustellen, die Menschen aus Süd- und Südosteuropa in die Schweiz brachte, die ebenfalls mit Rassifizierungsphänomenen konfrontiert waren (3).
Der Frage des Rassismus in der Schweiz nachzugehen, bedeutet, über den wirtschaftlichen Aufschwung des Landes und seinen Wohlstand nachzudenken. Und es bedeutet auch, dass wir die informellen Narrative, die diesen Wohlstand dank der Arbeit unserer Eltern und Grosseltern erklären, überdenken und eine neue Erzählung über die Beziehung des Landes zum Rest der Welt mitdenken müssen (4).
Das neue akademische Bewusstsein leitete jedoch keine Zeit des «sozialen Friedens» ein. Tatsächlich stiess die Erkenntnis beim Rest der Gesellschaft auf relative Gleichgültigkeit. Ein Verdienst der Arbeit ist es jedoch, dass sie das Spektrum der Forschungsfragen erweitert und den politischen Handlungsträgern Argumente aus zuverlässiger Forschung liefert. Auch die Art der Argumente verlagerte sich von einer reinen Diskussion über die wirtschaftliche Präsenz der Schweiz in der Welt hin zum Verständnis der Auswirkungen dieser Präsenz auf die Wahrnehmung – im Land und in der Bevölkerung – der wachsenden Präsenz von im Ausland geborenen Menschen.
So hat 2014 eine Gruppe von Westschweizer Aktivistinnen und Aktivisten die Migros für ihre Werbung für das Waschmittel Total kritisiert. Die Migros hatte einen Spot gedreht, in dem aus einem brauen Teddybären nach dem Waschgang mit ihrem Produkt ein weisser wurden. Die Gruppe wies die Migros darauf hin, dass dieses Werbekonzept Codes aus der Kolonialzeit aufgreife, in der viele Seifen und andere Waschmittel ihre Wirksamkeit dadurch bewiesen, dass sie zeigten, wie Menschen mit schwarzer Hautfarbe dank der Seife buchstäblich «gebleicht» wurden, was hiess, dass ihre Hautfarbe mit Schmutz und Unreinheit und Weiss mit Gesundheit und Sauberkeit gleichgesetzt wurde (5). Die Reaktionen auf die Kampagne waren in vielerlei Hinsicht interessant. Die Migros erklärte nach einem Treffen mit den Aktivistinnen und Aktivisten, dass sie deren Empörung verstehe, lehnte es jedoch ab, sich zu entschuldigen, da ihrer Meinung nach die Tatsache, dass sie niemanden beleidigen wollte, beweise, dass sie «schuldlos» an jeglichem Rassismus sei.
Diese Situation zeigt, wie wenig über das historische Unterbewusstsein der Schweizer Gesellschaft offenbart worden war, um ein gründliches Nachdenken über diese Bilder und die Realität ihrer vollen Bedeutung anzustossen. Sie belegt aber auch, dass die Aktivistinnen und Aktivisten wachsamer geworden sind und sich auf eine genaue Kenntnis der Geschichte der kolonialen Ikonografie berufen, auf historische Referenzen, die auch in der Schweiz dazu beigetragen haben, Vorstellungen von Race mit all ihren hierarchischen Implikationen zu normalisieren (6) .
Die Welle der Empörung, die durch den Mord an George Floyd in Minneapolis im Mai 2020 ausgelöst wurde und im ganzen Land zu Demonstrationen in den grösseren Städten führte, bestätigte das Ende der öffentlichen Wahrnehmung der Schweiz als Sonderfall. Sie brachte auch eine Reihe tragischer Ereignisse in der Schweiz ans Licht, bei denen junge Schwarze Männer bei Zusammentreffen mit der Polizei ihr Leben verloren: Hervé Mandundu im Jahr 2016, Lamine Fatty im Jahr 2017 und der Tod von Mike Ben Peter im März 2018, der am meisten Aufsehen erregte. Das Urteil im letztgenannten Fall, das im Juli 2023 erging, nachdem die Staatsanwaltschaft die Anklage gegen die sechs ursprünglich angeklagten Polizisten fallen gelassen hatte, hat bei einigen Akteuren und Akteurinnen das Gefühl wieder aufkommen lassen, dass dieser Prozess nicht von den Auswirkungen des strukturellen Rassismus zu trennen ist, der wie eine unsichtbare Hand den endgültigen Ausgang von Gerichtsverfahren lenkt, an denen rassifizierte Personen involviert sind (7).
Wird die Existenz von Rassismus in der Schweizer Gesellschaft anerkannt, wird das Konzept der Staatsbürgerschaft infrage gestellt, Staatsbürgerschaft verstanden als Raum, in dem Menschen ihre Rechte in gegenseitigem Respekt geniessen können, mit der Möglichkeit, Genugtuung zu erhalten, wenn ihre Rechte verletzt werden. Ein stärkeres Bewusstsein für diese Rechte ist entscheidend, um der Mentalität des Sonderfalls Schweiz ein Ende zu setzen, die glauben lässt, dass die Schweiz vor solchen Problemen gefeit sei. Rassismus in den Lehrplan der Grundschulen aufzunehmen, wie Religions- oder Mathematikunterricht, wäre eine Möglichkeit, das Thema anzugehen. Erst wenn die massgebliche Verbindung zwischen Schweizer Kolonialgeschichte und heutigem Rassismus nicht mehr zur Debatte steht, können wir eine neue Bürgerethik aufbauen.
(1) Patricia Purtschert, Francesca Falk & Barbara Lüthi (2016). Switzerland and «Colonialism without Colonies», Interventions, 18:2, 286–302, DOI: 10.1080/1369801X.2015.1042395.
(2) Vgl. hierzu Patrick Harries, Dompter les sauvages domestiques : le rôle de l’Afrique dans les Écoles du dimanche en Suisse romande, 1860–1920. In: Suisse - Afrique (18e-20e siècle): de la traite des Noirs à la fin du régime de l'apartheid. Münster, S. 227–246. Patrick Harries hatte eine erste Version dieser Arbeit an der Konferenz an der Universität Basel im Oktober 2003 vorgestellt.
(3) Siehe dazu die von Rohit Jahin ins Leben gerufene Initiative «Schwarzenbach-Komplex», die anlässlich des 50. Jahrestags der Abstimmung über die Schwarzenbach-Initiative mit Diskussionsrunden und Treffen eine kritische Reflexion als kollektives Langzeitprojekt (2021–23) anregte: www.schwarzenbach-komplex.ch.
(4) Siehe dazu die Arbeiten, die diese Zusammenhänge beleuchten: Zu nennen wären hier das Buch von Peter Hänger, Niklaus Stettler und Robert Labhardt: Baumwolle, Sklaven und Kredite. Die Basler Welthandelsfirma Christoph Burckhardt & Cie. in revolutionärer Zeit (1789–1815). Merian, Basel, 2004. Thomas David, Bouda Etemad und Jannick Schaufelbuehl, La Suisse et l’esclavage des Noirs. Antipodes, Lausanne, 2005.
(5) Vgl. Le Matin, 2. Dezember 2014, S. 4–5.
(6) Jovita dos Dantos Pinto et al., «Einleitung», in Jovita Dos Santos Pinto, Pamela Ohene-Nyako, Melanie-Evely Pétrémont, Anne Lavanchy, Barbara Lüthi, Patricia Purtschert, Damor Skenderovic (Hrsg.), Un/doing Race: Rassifizierung in der Schweiz. Seïsmo. Zürich und Genf, 2022. S. 15.
(7) Siehe das Interview mit Rechtsanwältin Milena Peeva, Beobachterin am Prozess gegen die sechs Polizisten im Fall Mike Ben Peter hier: https://www.rts.ch/info/regions/vaud/14123386-mort-de-mike-ben-peter-les-six-policiers-lausannois-sont-acquittes.html (Website aufgerufen am 6.7.2023).