Autoren
Marina Amstad, Pascale Meyer, Raphael Schwere, Marilyn Umurungi kuratieren die kommende Ausstellung zur Schweiz und dem Kolonialismus. Kontakt: pascale.meyer@nationalmuseum.ch. www.nationalmuseum.ch
Ab September 2024 wird im Nationalmuseum eine grosse Sonderausstellung zur Schweiz und zum Kolonialismus zu sehen sein. Dafür ist ein Team von vier Kuratorinnen und Kuratoren seit 2022 an der Arbeit. Die Auswahl gestaltet sich schwierig, denn nie war weglassen schmerzhafter.
Das Ausmass der Schweizer kolonialen Verstrickungen ist zwar seit längerem bekannt, aber längst nicht überall anerkannt. Historikerinnen und Historiker bemühen sich seit bald 15 Jahren darum – zum Beispiel mit der Aufarbeitung des Anteils der Schweizer Handelsgesellschaften am Handel mit versklavten Menschen. Längst liegen zudem weitere Studien zur kolonialen Verflechtung vor. So etwa zu den Schweizer Söldnern, die in Heeren der Kolonialmächte gekämpft haben, oder zu den Experten, die im Dienst der Kolonialadministrationen gestanden haben. Auch die Geschichte des Rassismus, der Mission, der Wissenschaft und der Naturzerstörung werden in der Ausstellung behandelt – insgesamt sind es zehn historische Kapitel, die in der Ausstellung Platz finden müssen. Es sind Schweizer Geschichten, und sie zeigen, wie global verflochten und mannigfaltig einzelne Unternehmen, Personen und auch Gemeinwesen vom Kolonialismus profitiert haben. Akteurinnen und Akteure werden vorgestellt, die in verschiedenen Handlungsfeldern tätig waren, aber auch die, die sich passiv oder aktiv widersetzt haben oder die, deren Spuren sich verloren haben.
Deutliche Spuren haben rassistisches Denken und Überzeugungen hinterlassen. Sowohl die in Zürich entwickelten wissenschaftlichen Instrumente, mit denen im 19. Jahrhundert etwa die Schädel von sogenannten «Naturvölkern» vermessen wurden, um eine vermeintliche Unterlegenheit dieser Menschen zu belegen, als auch die Plakate von Völkerschauen, die noch bis 1964 veranstaltet wurden, zeugen von Vorstellungen von Exotik und einer rassistischen Botschaft der Überlegenheit weisser, europäischer Menschen.
Mehrfach profitiert vom kolonialen System haben etwa Handelsunternehmen im 18. Jahrhundert (mit Beteiligungen am Handel mit versklavten Menschen), aber auch im 19. Jahrhundert zusätzlich von wegfallenden Zollschranken und von Kartellen, welche die Europäer in den Kolonien errichtet hatten. Die Basler Missionshandelsgesellschaft, aus der Mission hervorgegangen, beispielsweise reklamierte für sich (und liess es sich notariell beglaubigen), dass ihr als erste der Anbau der Kakaobohnen in Ghana gelungen war. Ungeklärt aber bleibt, ob es nicht der in Ghana verehrte Tetheh Quarshie war, dem dieses Verdienst zukommt.
Im Kongo standen über 200 Schweizerinnen und Schweizer im Dienst des belgischen Königs. Sie unterstützten dank ihrer in der Schweiz erworbenen Berufskenntnisse direkt oder indirekt das brutale und menschenverachtende System. Zu ihnen gehört etwa der Gendarmeriekommandant Erwin Federspiel, der den «Kongo-Freistaat» von König Leopold II verteidigte, während aber der Neuenburger Daniel Bersot, ebenfalls Kolonialbeamter im Kongo, in seinem Buch «Sous la chicote» heftige Kritik daran übte.
Auch an der Zerstörung von Flora und Fauna in Kolonialgebieten waren Schweizerinnen und Schweizer beteiligt. So ist hier etwa das Berner Vater-Tochter Duo Bernhard und Vivienne von Wattenwyl zu nennen, die zusammen auf Grosswildjagd gingen und das Berner Naturhistorische Museum mit zahlreichen Tierhäuten und Elefantenstosszähnen belieferten. Als weiteres Zeugnis von Raubbau an Tier und Landschaft ist der Verlust der Artenvielfalt im Kontext der Plantagenwirtschaft zu nennen, dessen Grundlage auch auf Schweizer Plantagenbesitzer beispielsweise in Niederländisch-Indien (heute Indonesien) zurückzuführen ist, die für ihre Plantage grossflächige Waldzonen roden liessen.
Neben strukturellen Gegebenheiten und (wirtschaftlichen) Ausbeutungsschemata berichtet die Ausstellung aber immer auch von Menschen und ihrem Alltag und zeigt anhand von Biografien und Interviews, dass individuelle Handlungsspielräume existierten und Gegenwehr unternommen worden ist. Auch sind Schweizerinnen und Schweizer zu erwähnen, die sich dem Kampf zur Abschaffung der Sklaverei verschrieben haben oder als Missionarinnen nicht nur das Evangelium predigten, sondern sich aktiv für Bildung und medizinische Versorgung eingesetzt haben.
Vielfältig und zahlreich sind die Geschichten, sodass die Auswahl (kuratorische Arbeit bedeutet immer weglassen) zur Qual wird, damit am Ende ein übergeordnetes, wenn auch unvollständiges Bild, entstehen kann, das als Grundlage für den zweiten Teil der Ausstellung dient. In diesem begleitet die Frage nach den kolonialen Kontinuitäten die Besuchenden auf dem weiteren Rundgang. Der strukturelle Rassismus in der Schweiz bildet die erste und wichtigste Station. Eine zweite Station beschäftigt sich mit den kolonialen Spuren im öffentlichen Raum. In der dritten Station stehen Debatten, die Schweizerinnen und Schweizer heute beschäftigen, im Zentrum: Sollen beispielsweise Strassen- beziehungsweise Häusernamen mit dem M-Wort unbenannt werden. Sind die Denkmäler von «grossen Männern», die kolonial verwickelt waren, zu stürzen? Die Besuchenden sind eingeladen zu diskutieren – unter Anleitung von Expertinnen und Experten oder auch untereinander.
Am Ende der Ausstellung steht die Frage im Raum: Endet der Kolonialismus mit der formellen politischen Unabhängigkeit der Kolonien? Expertinnen und Experten verneinen dies. Die Folgen des Kolonialismus sind bis heute spürbar – so etwa in der global ungleichen Verteilung von Wohlstand oder im Umweltbereich: Die drohende Klimakatastrophe betrifft den globalen Süden in ungleich härterem Ausmass, dies u. a. auch als Folge (post)kolonialer Strukturen. Den Besuchenden drängt sich die Erkenntnis auf, dass die koloniale Vergangenheit nach wie vor wirkmächtig ist und das Bild der kolonialen Verstrickung der Schweiz noch immer unvollständig. Es bleibt also die Aufgabe aller, weitere Arbeit zu leisten. Diese und viele andere Ausstellungen sollen die Grundlagen und wichtige Impulse für diese Auseinandersetzung bieten.