TANGRAM 47

«Die Hochschulen müssen die Forschung über das Erbe des Kolonialismus und das hierarchische Denken vorantreiben»

Autorin

Samia Hurst-Majno ist Bioethikerin, Professorin und Leiterin des Institut Éthique Histoire Humanités an der medizinischen Fakultät der Universität Genf.

Das Interview führte Samuel Jordan

Samia Hurst-Majno ist Bioethikerin, Professorin und Leiterin des Institut Éthique Histoire Humanités an der medizinischen Fakultät der Universität Genf. 2020 bis 2021 leitete sie eine Arbeitsgruppe (Groupe de réflexion), die sich mit problematischen historischen Figuren und ihrem Platz im öffentlichen Raum befasste.

Samia Hurst-Majno, wie ist diese Groupe de réflexion entstanden?
Die Arbeitsgruppe wurde im Juni 2020 vom Rektorat der Universität Genf eingesetzt, nachdem die Studentenschaft eine Petition eingereicht hatte, worin sie die Umbenennung des 2015 eingeweihten Carl-Vogt-Gebäudes forderte. Der Auftrag der interdisziplinären Gruppe ging jedoch über den spezifischen Fall Carl Vogt hinaus. Sie erarbeitete auch allgemeinere Richtlinien und Ideen, die bei Entscheidungen in ähnlichen Fällen helfen sollen.

Wer war Carl Vogt?
Carl Vogt (1817–1881) war eine Lichtgestalt mit Schatten. Er war ein aus Deutschland stammender Schweizer Naturwissenschaftler und Arzt, er war National- und Ständerat und spielte eine wichtige Rolle bei der Modernisierung der Universität Genf, deren Rektor er war. Gleichzeitig war er aber auch ein Verfechter und Verbreiter von Theorien, die die Hierarchisierung der Rassen und die Ungleichheit der Geschlechter propagierten. Carl Vogt war eine paradoxe Figur: gleichzeitig ein führender Wissenschaftler, Gründer intellektueller Institutionen, populärer Pädagoge, mutiger Demokrat, links-progressiver Mensch - und überzeugter Rassist.

Welchen Platz nimmt Carl Vogt in den pseudowissenschaftlichen rassistischen Strömungen des 19. Jahrhunderts ein?
In der Schweiz gilt er zusammen mit Louis Agassiz als einer der wichtigsten Rassentheoretiker. Er beteiligte sich an der Klassifizierung der menschlichen Rassen anhand der Hautfarbe und der Schädelform. Seine Position wird in seinen Vorlesungen über den Menschen, seine Stellung in der Schöpfung und in der Geschichte der Erde deutlich, die 1863 veröffentlicht und in acht Sprachen übersetzt wurden. Bei dem Werk handelt es sich in erster Linie um eine Zusammenstellung bestehender Forschungsergebnisse für die breite Öffentlichkeit. Es tut so weh, es heute zu lesen, dass man sich fast nicht getraut, den Inhalt zu paraphrasieren: Carl Vogt versucht unter anderem darzustellen, dass das Hirn «des Schwarzen» morphologisch einem Affenhirn gleiche oder dass «das schwarze Kind» in den ersten Jahren zwar dieselben geistigen Fähigkeiten wie «das weisse Kind» habe, seine Entwicklung aber in der Pubertät zum Stillstand komme. In den Vorlesungen über den Menschen legt Vogt dar, was viele seiner Wissenschaftskollegen aus Deutschland, der Schweiz, Frankreich, Grossbritannien, den USA, Skandinavien und Belgien behaupteten: Unterschiedliche Phänotypen liessen darauf schliessen, dass es zwischen den Rassen hinsichtlich Wert und Potenzial Unterschiede gebe.

Man könnte argumentieren, dass Carl Vogt dem damaligen Zeitgeist entsprach …
Die Behauptung, Carl Vogt sei in seiner Position als rassistischer Wissenschaftler ein «Mann seiner Zeit» gewesen, muss hinterfragt werden. Auch wenn der «wissenschaftliche» Rassismus in der akademischen Debatte vorherrschte, war er nie die absolute Norm. Bereits im 19. Jahrhundert bekämpften verschiedene Forschende diesen Ansatz und lehnten die Rasse als Analysekategorie ab. Sicher ist, dass Carl Vogt wesentlich zur Verbreitung, Herausbildung und dauerhaften Verankerung des Konzepts der Rassenkategorisierung beigetragen hat.

Schüttet man in Bezug auf Carl Vogt nicht das Kind mit dem Bade aus?
Diese Frage war für unsere Überlegungen zentral. Repräsentationen der Universität im öffentlichen Raum sind Botschaften, die mit den Werten der Institution übereinstimmen müssen. Im Laufe der Zeit entwickeln sich diese Werte, und was eine Person repräsentiert, kann sich ändern. Carl Vogts Rassentheorien sind heute hochproblematisch. Wer ein Erbe antritt, übernimmt Vermögen und Schulden: Man kann nicht das Vermögen annehmen und die Schulden ausschlagen, sondern muss beides einbeziehen. Die Frage ist also nicht, ob diese oder jene Figur ein positives Erbe darstellt, sondern es gilt, das negative Erbe anzuschauen. Entspricht das Erbe nicht den Werten der Institution, wird es problematisch, die Figur, die für das Erbe steht weiterhin zu feiern. Aus diesem Grund hat unsere Arbeitsgruppe empfohlen, das Carl-Vogt-Gebäude umzubenennen. Man soll dabei jedoch nicht dem Irrtum verfallen, es müsse alles ausgelöscht werden: Einen Verfechter des Rassismus kann man heute zwar im öffentlichen Raum nicht mehr als Leitfigur unserer Identität würdigen, es wäre aber falsch, Carl Vogt aus dem kollektiven Gedächtnis zu streichen. Die Geschichte muss weiterhin in all ihren Facetten erzählt werden, auch wenn ihre Schattenseiten allzu oft absichtlich verdrängt wurden.

Wie sehen Sie persönlich das Erbe von Carl Vogt heute?
Im Laufe des 19. Jahrhunderts trugen die Rassentheorien zu den ideologischen Grundlagen des Kolonialismus bei. Sie legitimierten ein System der Herrschaft, das unter anderem auf der Idee der Ungleichheit der Rassen gründete. Sie bildeten den Nährboden für den Rassismus und die Reproduktion von Ungleichheiten, die heute in unseren Gesellschaften fortbestehen. Carl Vogt hat wie andere Wissenschaftler dazu beigetragen.

Welche Schlüsse ziehen Sie persönlich aus dieser Erfahrung?
Sie hat mich darin bestärkt, dass es sich lohnt, sich mit Aspekten unserer Vergangenheit auseinanderzusetzen, die wir lieber vergessen würden. Und sie hat mir gezeigt, dass Institutionen wie Universitäten als Orte des Wissens und der Debatte das Bild, das sie der Gesellschaft vermitteln und vermitteln wollen, regelmässig überdenken und überarbeiten müssen. Der problematische Fall des Carl-Vogt-Gebäudes ist sicherlich nicht der erste und wird nicht der letzte sein. Ich bin überzeugt, dass die Universität Genf in Zukunft, je nach herrschendem Zeitgeist, über ähnliche Situationen wird entscheiden müssen.

Welche Empfehlungen würden Sie im Zuge des Falls Carl Vogt gerne weitergeben?
Wir haben im Schulunterricht zu lange ausgeblendet, welchen Beitrag die Schweiz zur kolonialen Vergangenheit des Westens und zu pseudowissenschaftlichen Rassentheorien geleistet hat. Wir haben unsere Hände in Unschuld gewaschen und gemeint, Kolonialismus gehe nur die anderen etwas an. Was nicht stimmt. Ich plädiere dafür, die Vergangenheit umfassend zu vermitteln und aufzuhören, unbequeme Aspekte auszublenden. Dafür müssen Lehre und Forschung in der Schweiz weiter ausgebaut werden. Das Erbe des Kolonialismus und des hierarchischen Denkens muss bei den Überlegungen und der Entwicklungen im Zentrum stehen. Das sind wir im Übrigen auch unseren Studierenden schuldig, die aus kolonisierten Ländern stammen. Die Universitäten müssen mit gutem Beispiel vorangehen: Es liegt aufgrund ihres Auftrags in ihrer Verantwortung, die Debatte voranzutreiben und ein Umdenken anzustossen. Unsere Arbeitsgruppe schlägt zudem die Einrichtung eines beratenden, partizipativen, integrativen Universitätsforums vor, das die Rolle hätte, problematisches Erbe zur Diskussion zu stellen, sich mit spezifischen historischen Fällen zu befassen und Empfehlungen für Entscheidungsgremien bereitzustellen.