Autorin
Chantal Lafontant Vallotton ist Co-Direktorin des Museums für Kunst und Geschichte in Neuenburg und Lehrbeauftragte am Institut für Kunstgeschichte und Museologie der Universität Neuenburg. Chantal.LafontantVallotton@ne.ch
Im Mai 2020 erschüttert der Mord an George Floyd in Minneapolis (USA) die Welt und löst eine Welle an Protesten der «Black Lives Matter»-Bewegung aus. Im öffentlichen Raum richten sich die Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt auch gegen Denkmäler von Figuren, die mit Sklaverei in Verbindung gebracht werden. Statuen werden abmontiert oder in Museen verbannt. Auch in mehreren Schweizer Städten fanden Anti-Rassismus-Demonstrationen statt. Zum Katalysator in Neuenburg wird die Statue von David de Pury: Sie stösst eine umfassende Erinnerungsdebatte und eine Reihe von Aktionen an, die von der Stadt ausgingen.
Der Neuenburger David de Pury (1709–1786) kam nach heutigen Erkenntnissen in Lissabon mit dem Handel mit Edelhölzern und Diamanten aus Brasilien zu grossem Reichtum; ihm gehörten auch Anteile an einem portugiesischen Unternehmen, das am Sklavenhandel beteiligt war. Testamentarisch verfügt, ging nach seinem Tod 1786 praktisch sein ganzes beträchtliches Vermögen an die Bürgerschaft von Neuenburg. 1855, also 69 Jahre später, wurde in der Stadt eine Statue de Purys enthüllt, die die Werte des Liberalismus, des protestantischen Denkens, des erfolgreichen Unternehmertums und der Philanthropie versinnbildlichen sollte. Im Sommer 2020 wird die Figur vor dem Hintergrund der beginnenden identitätspolitischen Umwälzungen völlig anders interpretiert (1). Die Statue, die von Teilen der Bevölkerung als Symbol für die Verwicklung von Schweizern in den Sklavenhandel und die Sklaverei wahrgenommen wird, wird in der Nacht auf den 13. Juli mit roter Farbe bespritzt. In der Folge werden bei den Behörden der Stadt zwei Petitionen eingereicht. Die erste mit dem Titel «On ne veut plus de statue d'esclavagiste! Pour que la statue de David de Pury soit retirée», wird vom Collectif pour la mémoire am 17. Juli eingereicht. Sie richtet sich an die Stadt Neuenburg, den Kanton und den Bund und fordert die Entfernung der Bronzestatue. Kurz darauf, am 28. August, verlangt die Petition «Pour le respect de notre histoire» von der Stadt genau das Gegenteil. Die Statue soll – mit einer Gedenktafel am Sockel versehen – stehen bleiben.
Ein Jahr später, im September 2021, wurde der Bericht «Marques mémorielles et réponse aux pétitions concernant le monument de David de Pury» (2), der als Antwort auf die beiden Petitionen gemeinsam von der Exekutive der Stadt Neuenburg und der Kommission für Kultur, Integration und sozialen Zusammenhalt des Generalrats (städtische Legislative) erstellt wurde, von der Legislative verabschiedet. Er beinhaltet einen gestaffelten Aktionsplan, der darauf abzielt, die Kolonialgeschichte Neuenburgs bekannt zu machen, aktiv gegen Diskriminierung vorzugehen und eine stärkere Inklusion aller Bevölkerungsgruppen zu fördern.
Politisch soll im öffentlichen Raum auf zwei Ebenen gehandelt werden: Bei Erinnerungszeichen – Statuen und andere Kunstwerke, Namen von Strassen, Gebäuden und Orten – besteht eine der wichtigsten Massnahmen darin, sie in einen multimedialen Lehrpfad über die koloniale Vergangenheit Neuenburgs einzubinden. Andererseits soll direkt auf die beiden Petitionen reagiert werden. So wurde entschieden, bei der Statue von David de Pury eine erklärende Tafel anzubringen und Kunstwerke zu schaffen, die die politische und gesellschaftliche Debatte widerspiegeln.
Zu diesem Zweck hat die Stadt im November 2021 einen Kunstwettbewerb ausgeschrieben, dessen Jury unter dem Patronat des Historikers und früheren Direktors des Palais de la Porte Dorée in Paris, Pap Ndiaye steht, der seit 2022 französischer Bildungsminister ist. Zwei der 33 eingegangenen Projekten werden realisiert: «A scratch on the nose (after Louis Agassiz)»(3) von Mathias Pfung spielt den erdbebenbedingten Sturz der Statue einer anderen umstrittenen historischen Figur nach, des Glaziologen und Naturforschers Louis Agassiz, eines Verfechters der Rassenlehre im 19. Jahrhundert. Das andere, «Ignis Fatuus: projection feu follets, bassin d'âmes d'esclaves», stammt von Nathan Solioz und ist ein nächtliches Mahnmal, das der namenlosen Sklavinnen und Sklaven gedenkt, die bei der Atlantiküberquerung starben. Die Werke sind temporär gedacht oder sollen zumindest beweglich sein, bis die Neugestaltung der Place Pury, die die Stadt für die kommenden zehn Jahre plant, abgeschlossen ist.
Im Oktober 2022 weihte die Stadt das erste Kunstwerk und die Erklärtafel im Rahmen einer Veranstaltung ein. Der Text auf der Tafel skizziert den Werdegang de Purys, seine Beteiligung am Sklavenhandel und die posthume Errichtung des Denkmals. Dort heisst es: «Die Stadt Neuenburg möchte allen Menschen die Ehre erweisen, die im Rahmen des Dreieckshandels und der Kolonialisierung ihrer Freiheit beraubt, ausgebeutet und entmenschlicht wurden. Das gleiche gilt für die Menschen, die heute noch Opfer von Rassismus sind. Denn Menschenwürde gilt für alle Menschen. Für die Stadt Neuenburg ist sie ein zentraler Wert einer diskriminierungsfreien, pluralistischen und inklusiven Gesellschaft.» Ausserdem will die Stadt «Licht in diese Periode ihrer Geschichte bringen. Sie unterstützt die Verbreitung der historischen Forschung und die Erinnerungsarbeit im öffentlichen Raum». Der Text auf der Tafel ist auf der Website der Stadt über einen QR-Code in zwölf Sprachen zugänglich.
Der multimediale Rundgang «Neuchâtel, empreintes coloniales» wurde im März 2023 eingeweiht. Er führt zu sieben Plätzen und Gebäuden der Stadt, die mit der Geschichte der Sklaverei und der Kolonialisierung in Verbindung stehen. Erarbeitet haben ihn Matthieu Gillabert – inzwischen Professor für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg – und Mélanie Huguenin-Virchaux, Historikerin und Sekundarlehrerin im Kanton Neuenburg, im Auftrag des Instituts für Geschichte der Universität Neuenburg in enger Zusammenarbeit mit den Museen der Stadt Neuenburg und Fachleuten (4). Der Rundgang sensibilisiert das Publikum auch für die neuen Formen der Sklaverei in Zeiten der Globalisierung. Lehrmaterial für Schulen (auf Französisch) ist ebenfalls verfügbar (5).
Ein viertes von der Stadt angekündigtes Projekt betrifft die Erarbeitung und Aufwertung von 50 Kurzbiografien zu Personen, die mit Neuenburg verbunden sind und die Gruppen repräsentieren, die aus dem öffentlichen Raum ausgeschlossen sind oder die Vielfalt der Stadt zeigen. Die Veröffentlichung ist für 2024 geplant. Schliesslich leitet die städtische Kunstsammlung eine neue Politik für den Kunstankauf ein, die auch Kriterien der Inklusion berücksichtigt.
Es ist erstaunlich, wie schnell die Stadt all diese Massnahmen umgesetzt hat und welch breiter politischer Konsens im Jahr 2021 zum Ausdruck kam, wurde doch der Bericht der Behörden der Stadt Neuenburg gerade erst am 6. September 2021 vom Generalrat (Legislative) einstimmig angenommen.
Dieses Ergebnis mag überraschen angesichts der Tatsache, dass die Geschichte der Beteiligung von Neuenburgern an Sklavenhandel und Sklaverei bis vor Kurzem marginalisiert wurde und die wenigen Versuche, darüber zu berichten, entweder im Sande verliefen oder zu heftigen Polemiken führten.
Im Gegensatz zu dem, was einige zeitgenössische Stimmen als Modeerscheinung abtaten, fand die Bewusstseinsbildung in Neuenburg im öffentlichen Raum und in den Medien statt, mit oft heftigen Reaktionen. 1988, also zwei Jahre nach dem 200. Todestag von David de Pury, forderte die Partei «Liste libre» in Zuge ihrer Wahlkampagne den Generalrat auf, der Dritten Welt symbolisch das zurückzugeben, was Pury ihr einst durch seine Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Sklavenhandel genommen hatte. Das Projekt sah die Einrichtung eines David-de-Pury-Fonds vor, der mit dessen restlichem Vermögen plus jährlichen 100 000 Franken von der Stadt bereitgestellten Krediten ausgestattet werden sollte, um insbesondere Zentral- und Südwestafrika zu unterstützen. Der Vorschlag wurde von den städtischen Behörden abgelehnt.
Im März 2003 hielt Pfarrer Théo Buss in der Neuenburger Stiftskirche eine Radiopredigt, in der er die Stadt mit der Sklaverei in Verbindung setzte, was einen Skandal entfachte: Es hagelte Protestbriefe, wütende Telefonanrufe und Austrittsandrohungen.
Fünfzehn Jahre später sorgt der städtische Beschluss, die Adresse der Philosophischen Fakultät der Universität Neuenburg abzuändern, für Diskussionen. Im August 2018 entschied der Stadtrat (Exekutive), den Platz «Espace Louis-Agassiz» (nach der oben erwähnten umstrittenen Persönlichkeit) umzubenennen und ihm den Namen «Espace Tilo Frey» zu geben, nach der schweizerisch-kamerunischen Politikerin, die 1971 als erste Neuenburgerin in den Nationalrat gewählt wurde. Mit dieser Namensänderung wollte der Stadtrat eine Frau mit einem aussergewöhnlichen Werdegang ehren und damit eine Gegenposition zu Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus einnehmen, die leider in vielen Teilen der Welt zunehmen, so Stadtpräsident Thomas Facchinetti, Direktor für Kultur und Integration. Der Beschluss führte zu anhaltenden öffentlichen Debatten, sei es in der Presse oder bei Bürgerversammlungen.
Dieser Überblick wäre nicht vollständig, ohne die konkreten Aktionen auf kantonaler Ebene zu erwähnen, die seit über 30 Jahren eine interkulturelle Integrationspolitik umsetzen, zu deren Grundpfeilern die Rassismus- und Diskriminierungsprävention und -bekämpfung gehört. So wurde in den letzten Jahren eine Reihe von Massnahmen für ein besseres Verständnis der Geschichte und insbesondere der kolonialen Vergangenheit getroffen oder unterstützt.
Die «Association du Printemps culturel neuchâtelois», die rund 30 Institutionen aus dem ganzen Kanton vereint, hat ihr Programm 2023 dem schwarzen Amerika gewidmet. Festgelegt wurde das Thema der diesjährigen Ausgabe bereits 2019. Rund 60 Veranstaltungen – Vorträge, Debatten, Zeitzeugenberichte, Ausstellungen, Konzerte und Filmvorführungen – rund um Bevölkerungsgruppen, die aus der grossen Zwangsmigration der Sklaverei stammen, die aus Afrika verschleppt und nach Amerika gebracht worden sind.
Die Neuenburger Aktionswoche gegen Rassismus, die das «Forum tous différents tous égaux» seit mehreren Jahren organisiert, präsentiert ein breites Programm mit Veranstaltungen im ganzen Kanton, von denen mehrere auch diese Themen berühren. Der jährliche Anlass ermöglicht auch und vor allem Interaktionen und öffnet einen Raum zum Nachdenken, Austausch und Diskutieren, indem er unterschiedliche Zielgruppen zusammenbringt.
Schliesslich sei das neue «Festival Black Helvetia» der Vereinigung Mélanine-Suisse erwähnt, das im September 2022 in La Chaux-de-Fonds zum ersten Mal stattfand. Es will zum Nachdenken anregen, was es bedeutet, eine schwarze Frau in der Schweiz zu sein – eine weitere Möglichkeit, gegen die Banalisierung rassistischer Äusserungen vorzugehen. Die zweite Ausgabe, die sich mit Kunst und Schönheit befasste, fand vom 26. Mai bis zum 3. Juni 2023 in Neuenburg statt.
Seit rund zehn Jahren hinterfragen zudem mehrere Museen und kulturelle Einrichtungen in der Stadt die Verwicklung Neuenburgs in den Sklavenhandel und den Kolonialismus. Im öffentlichen Raum bietet die Stiftung Cooperaxion seit 2011 unter dem Titel Auf den Spuren einer verdrängten Geschichte auch in Neuenburg Stadtrundgänge an. Das Museum für Kunst und Geschichte hat das Thema in verschiedenen Ausstellungen behandelt: Neuchâtel: une histoire millénaire (2011), Sa Majesté en Suisse (2013), Made in Neuchâtel: deux siècles d’indiennes (2018) sowie die neue Dauerausstellung Mouvements (2022). Das ethnografische Museum (MEN), das sich seit langem mit der Kolonialgeschichte auseinandersetzt, hat 2020 die Ausstellung Derrière les cases de la mission gezeigt. Das MEN ist ausserdem an einem vom Zürcher Museum Rietberg initiierten Forschungsprojekt beteiligt, das sich mit der Enteignung von Objekten aus Benin befasst.
Auch die akademische Welt setzt sich mit der kolonialen Vergangenheit Neuenburgs auseinander. Daher ist die kürzlich gesprochene Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung an der Universität Neuenburg sehr willkommen: Das Institut für Geschichte erhält einen Betrag von 1 173 985 Franken für das Forschungsprojekt «Neuchâtel face à la colonisation: circulations, intrications et mémoire», das die Kreisläufe, die Verwicklungen und die Erinnerungsarbeit untersuchen wird. Das auf vier Jahre angelegte Projekt läuft von Oktober 2023 bis September 2027 und steht unter der Leitung von Kristina Schulz, Professorin am Institut für Geschichte der Universität Neuenburg, und Matthieu Gillabert, Professor am Departement für Zeitgeschichte der Universität Freiburg.
Zweifellos werden diese Inhalte zu einer wichtigen Standortbestimmung beitragen. Diese Forschung ist umso wichtiger, als bis heute nur wenige Studien zum Thema vorliegen. In enger Zusammenarbeit mit der Universität Neuenburg übernimmt die Stadt Neuenburg die Aufgabe, die Forschung bekannt zu machen und das Wissen an die Öffentlichkeit zu vermitteln.
Die Aufzählung dieser Projekte und Vorhaben zeigt, wie stark die koloniale Vergangenheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts im sozialen, politischen, kulturellen und akademischen Leben Neuenburgs präsent ist. Möglich macht derartige Massnahmen ein gesellschaftlicher Kontext, der eine gewisse Offenheit zeigt. Die Überlegungen der Stadt Neuenburg erfolgten in Absprache mit der Kommission für Kulturpolitik des Generalrats und dessen Kommission für Kultur, Integration und soziale Zusammenhalt. Die Texte für die Tafel wurden den Petitionären, den Fachleuten und dem kantonalen Gremium für Integration und multikulturelle Zusammenhalt (Communauté pour l’intégration et la cohésion multiculturelle du canton CICM) vorgelegt. Es wurden auch andere Ansprechpersonen konsultiert, darunter Vertreterinnen und Vertreter der Bevölkerungsgruppen mit afrikanischer Herkunft (Afrodeszendenz). Zudem hat der Stadtrat gleich zu Beginn den gemeindeverwaltungsinternen Lenkungsausschuss «Mémoire et espace public» (Gedächtnis und öffentlicher Raum) gebildet. All diese Schritte dienten dazu, die koloniale Vergangenheit der Stadt Neuenburg bekannter zu machen und auf sozialer und politischer Ebene die Debatten anzuregen, Rassismus und Diskriminierung zu bekämpfen und eine stärkere Inklusion aller Menschen im öffentlichen Raum zu begünstigen.
(1) Die Debatte über Denkmäler und ihre Demontage war bereits 2015 in Südafrika entfacht worden. Bertrand Tillier, La disgrâce des statues. Essai sur les conflits de mémoire, de la Révolution française à Black Lives Matter, Paris, Payot, «Histoire Payot», 2022, S. 295 Vom selben Autor, speziell zum De-Pury-Denkmal: «La statue, l’esclavagiste et le contre-monument contestés», in AOC, 8. Februar 2023.
(2) Der Bericht (auf Französisch) ist abrufbar unter: https://www.neuchatelville.ch/fileadmin/sites/ne_ville/fichiers/Sortir_et_decouvrir/Rapport_CC-ComCICS_CG_DePury_21-204_VF_AvecAnnexe.pdf
(3) Der definitive Titel des Werks lautet «Great in the concrete».
(4) Vgl. https://totemi-passe-colonial.talk-to-me.ch/content/credits/?embedded=1