TANGRAM 47

Rassismus, Sexismus und Kolonialismus: für einen intersektionalen Ansatz des Widerstands

Autorin

Faten Khazaei ist Assistenzprofessorin in der Abteilung für Sozialwissenschaften an der Northumbria University in Grossbritannien. faten.khazaei@northumbria.ac.uk

Ich habe gelernt, dass Sexismus (...) und Heterosexismus (...) aus derselben Quelle stammen wie Rassismus. (...) Ich kann mir den Luxus nicht leisten, nur eine Form der Unterdrückung zu bekämpfen. (...) Und ich kann es mir nicht leisten, zwischen den Fronten zu wählen, an denen ich diese diskriminierenden Kräfte bekämpfen muss, wo immer sie auftauchen, um mich zu vernichten. Und wenn sie auftauchen, um mich zu vernichten, sind sie bald da, um auch euch zu vernichten.
(Audre Lorde, 1983. Aus dem englischen Original übersetzt)

Die afroamerikanische homosexuelle Aktivistin und Schriftstellerin Audre Lorde betont in ihrem berühmten, an weisse Frauen gerichteten Text There is no hierarchy of oppressions von 1983, dass kein Unterfangen, das ein Unterdrückungssystem zerstören will, Erfolg haben wird, solange es sich auf eine einzige Dimension beschränkt. Als eine der wegweisenden Theoretikerinnen eines Ansatzes, den wir heute unter dem Begriff Intersektionalität kennen (Crenshaw 1989), legt Lorde den Schwerpunkt auf die Interdependenz von Machtverhältnissen. Sie macht die Verflechtung von Rassismus mit anderen Herrschaftsverhältnissen wie Sexismus, Klassismus, Validismus und Heterosexismus sichtbar. Und sie ruft dazu auf, bei jedem Kampf gegen Unterdrückungssysteme all diese Dimensionen zu berücksichtigen.

Die Theorie der Intersektionalität entstammt einer kritischen Bewegung innerhalb des Feminismus, die die Kategorie «wir Frauen» als politisches feministisches Subjekt in Frage stellte. Sie besagt, dass andere Machtverhältnisse die Gruppe der Frauen durchdringen (Crenshaw 1989). Ihr zufolge kann ein mittelständischer weisser Feminismus nicht die Stimme, die Erfahrungen und die Herausforderungen aller Frauen vertreten. Es gibt viele Frauen, deren Erlebnisse und Erfahrungen weder erfasst noch verstanden noch sichtbar gemacht noch letztlich legitimiert werden können, wenn es uns nur darum geht, Sexismus zu entlarven. Intersektionalität deckt Unsichtbares auf, wenn insbesondere Gender und Race als voneinander getrennte Kategorien verstanden werden. Wenn wir uns nicht ansehen, wie Gender und Race sich gegenseitig konstruieren, verstehen wir letztlich weder wie Gender noch wie Race funktionieren.

Im Folgenden gehe ich der Frage nach, welche Rolle die Thematik der Gewalt gegen Frauen in der Schweiz spielt, wenn das Argument der angeblichen kulturellen Inkompatibilität ausländischer Menschen angeführt wird. Und ich möchte zeigen, inwiefern die intersektionale Beziehung zwischen Sexismus und Rassismus, die zur Rassifizierung der geschlechtsspezifischen Gewalt in der Schweiz führt, ihre Ursprünge im kolonialen Denken hat.

«Überfremdung» und kulturelle Inkompatibilität ausländischer Menschen

Eines der rhetorischen Argumente, das zur Ausgestaltung eines Nationalismus Schweizer Prägung herangezogen wird, beschwört den Mythos des kleinen Landes, das sich gegen Überfremdung zur Wehr setzen muss. Der Begriff der Überfremdung, der nicht nur im Französischen übernommen wurde, bezieht sich sowohl auf die Anzahl der in der Schweiz lebenden Ausländerinnen und Ausländer als auch auf die vermeintliche kulturelle Gefahr, die eine Übervertretung ausländischer Menschen in der Wohnbevölkerung darstellt. Auf den Begriff, der zuerst in einer Broschüre einer Institution für Armenfürsorge im Kanton Zürich im Jahr 1900 auftauchte, wurde im politischen Diskurs immer wieder während verschiedener historischer Zeiträume zurückgegriffen. Dass er unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg in Europa aufkam, verortet ihn in die Dynamik des aufkommenden Nationalismus.

Bei der Gründung der Eidgenössischen Fremdenpolizei 1917, im Kontext der Nachkriegszeit, und in den Debatten in den 1960er- und 1970er-Jahren, die von der zunehmenden Einwanderung in die Schweiz geprägt waren, zielte die Überfremdungsrhetorik abwechselnd auf jüdische Menschen aus Osteuropa, auf Kommunistinnen und Kommunisten, auf Arbeiterinnen und Arbeiter, die für eine Saison aus Italien und Spanien kamen, ab den 1980er-Jahren auf Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien und der Türkei. Sie taucht heute noch in den öffentlichen Debatten gegen die Einwanderung von Menschen muslimischen Glaubens auf (Dahinden et al. 2014).

Die Einführung der Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der Europäischen Union in den 1990er-Jahren hat die Diskussionen neu entfacht, ging es doch darum, die Beschränkung der Einwanderung von Personen aus aussereuropäischen Ländern – die als Drittstaaten gelten –, zu begründen. Um die Ungleichbehandlung von Migrantinnen und Migranten zu rechtfertigen, die dem sogenannten migrationspolitischen Drei-Kreise-Modell zugrunde liegt, griff der Bundesrat auf die Rhetorik der Assimilierbarkeit und der kulturellen Unterschiede zurück. Das Drei-Kreise-Modell sieht eine bevorzugte Aufnahme von Menschen aus EU- und EFTA-Staaten vor und kennt hingegen für Menschen aus nicht-westlichen Ländern Einschränkungen und Begrenzungen. Der vom Bundesrat zur Legitimierung dieses Modells übernommene Rhetorik zufolge gewährleiste eine (vermeintliche) kulturelle Nähe zu Europa eine bessere Assimilierung der Migrantenbevölkerung.

Instrumentalisierung des Themas Gewalt gegen Frauen

Mit Blick auf ausländische Menschen werden nicht nur allgemein kulturelle Aspekte angeführt, sondern auch Geschlechterverhältnisse, die eine kulturelle Unvereinbarkeit von Schweizerinnen und Schweizern und rassifizierten Fremden begründen sollen. Gewalt gegen Frauen ist eines der Themen, bei denen die angebliche kulturelle Unvereinbarkeit von Migranten und Einheimischen am stärksten problematisiert wurde, was zum Prozess der Rassifizierung verschiedener sozialer Gruppen, die in westlichen Ländern als unerwünscht gelten, beigetragen hat.

In der Schweiz tauchen in den öffentlichen Debatten über «Überfremdung» auch Überlegungen zur Gewalt gegen Frauen auf. Das Bedürfnis, die Integrität der Schweizer Frauen und Mädchen zu schützen, diente zum Beispiel als Rechtfertigung für Bilder, die eine Bedrohung der Schweizer Sitten und Werte durch italienische Einwanderer heraufbeschworen (Maiolino 2010). Auch in der Integrationsdebatte wird auf die Gleichstellung von Mann und Frau als Verfassungsgrundsatz abgestellt und als Voraussetzung, um den Grad an Integration von Menschen zu beurteilen, die ein Aufenthaltsrecht beantragen.

Die in öffentlichen Debatten immer präsentere Überfremdungsrhetorik instrumentalisiert feministische Forderungen nach Geschlechtergleichheit, um die Ausgrenzung von Ausländern und Ausländerinnen zu rechtfertigen und Rassismus zu reproduzieren. Diese Rhetorik bringt verschiedene, politisch mitunter entgegengesetzte Gruppen zusammen, im Bestreben, die «Frauen aus der Dritten Welt» aus ihrem «ausserordentlich» ungleichen Zustand zu «befreien» (Mohanty 1984). Und sie erlaubt es nicht nur, die Frage nach dem Unterschied und der Hierarchie von Gruppen zu stellen, sondern auch, Rassismus als ein «ehrbares» Anliegen darzustellen (Antonius 2001). Denn die Idee, Frauen aus der Dritten Welt aus ihrer Lage zu befreien, wird nicht in ihrer rassistischen Dimension gesehen, sondern als ein höchst edles politisches Anliegen, das sich auf eine detaillierte Beschreibung der Realität stützt, der zufolge diese Frauen zu Opfern ihrer eigenen Kultur werden. So wird für erwiesen erachtet, dass Gewalt gegen Frauen in die Domäne der «Anderen» fällt.

In solchen Debatten wird zudem der koloniale Ursprung dieser Rhetorik unterschlagen. Seit den Anfängen der Kolonialzeit galt Gewalt gegen Frauen als Rechtfertigungsgrund für die koloniale Präsenz, indem sie als zivilisatorische Mission in rückständigen Gesellschaften dargestellt wurde (Spivak 1988; Abu-Lughod 2013; Collier et al. 1995). Spivak (1988) untersuchte die Rolle des Arguments, wonach die britischen Siedler die indischen Frauen vor ihren eigenen Männern retteten. So hält auch Collier und mit ihm der Forscherkreis um ihn fest, dass Frankreich ab dem 19. Jahrhundert den Status der Frauen in Algerien als Indikator für den Grad an Unzivilisiertheit der algerischen Gesetze heranzog, um seine koloniale Präsenz zu rechtfertigen.

Die Mobilisierung derartiger Darstellungen gegen ausländische Menschen, insbesondere gegen solche muslimischen Glaubens, zeigte sich in der Schweiz in verschiedenen politischen Kampagnen, darunter auf Bundesebene in den Kampagnen für das Minarettverbot 2009 und der Ausschaffungsinitiative 2010, und in den Kantonen in der Kampagne für das Burkaverbot im Tessin 2013 und der Kampagne über das neue Laizitätsgesetz in Genf 2019. All diese Beispiele belegen die Kontinuität und die Aktualität des Abstellens auf die Genderfrage bei der Rassifizierung von Menschen muslimischen Glaubens in der Schweiz.

Viele dieser politischen Kampagnen nutzten Bilder von verschleierten muslimischen Frauen, um deren kulturelle Unvereinbarkeit mit der Schweiz zu veranschaulichen (Michel 2015). Die Bilder einer Frau in Burka und schwarzer Minarette, die die Schweizer Fahne besetzen, bleiben in Erinnerung; «die muslimische Frau» rückte daraufhin in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatten. Diese Bilder drückten die Vorstellung aus, dass männliche Dominanz und die Unterdrückung von Frauen Merkmale des muslimischen Glaubens seien und den Werten der liberalen Demokratie in der Schweiz entgegenstünden. So zirkulierten die Mobilisierung der Gendergleichheit und die Frage der genderspezifischen Gewalt auch im Raum des «Kolonialismus ohne Kolonien» Schweizer Prägung (Purtschert et al. 2016).
Aufgrund der Vermischung von Religion (insbesondere des Islam) und männlicher Dominanz werden genderspezifische Gewaltakte als religiös bedingt und/oder als kulturelle oder traditionelle Pathologien betrachtet, die dem Westen fremd seien. Wenn Gewalt gegen Frauen Schweizer Paare betrifft, ist es üblich, sie mit individuellen Merkmalen der Täter zu erklären – psychologische Probleme, Konsum von Alkohol oder illegalen Substanzen. Gewalt wird also aus der Perspektive des Individuums und nicht aus der Perspektive einer Kultur oder einer Gesellschaft betrachtet. Mit anderen Worten: Gewalttaten unter Schweizerinnen und Schweizern sagen uns nichts über die Schweizer Kultur oder über die Geschlechterverhältnisse in der Schweiz. Umgekehrt werden Gewalttaten unter Migrantinnen und Migranten nicht aus der Perspektive des einzelnen Individuums betrachtet, sondern als repräsentativ für deren Kultur oder Religion (Khazaei 2023). Infolgedessen neigen die Politik und die öffentlichen Debatten in der Schweiz dazu, sich auf Migration und kulturelle Unterschiede zu fokussieren, um genderspezifische Gewalt zu verstehen und zu erklären. Daher nehmen bestimmte Formen der Gewalt gegen Frauen, die a priori vermehrt Migrantengruppen betreffen, wie Zwangsheirat oder weibliche Genitalverstümmelung, oft einen zentralen Platz in der politischen Debatte ein.

Die Folgen dieser Tatsache – die zunehmende Anprangerung von Gewalt gegen Frauen allein in rassifizierten Gruppen – benachteiligen nicht nur die Angehörigen der rassifizierten Gruppen. Zeigt man mit dem Finger auf bestimmte Gruppen, um genderspezifische Gewalt anzuprangern, führt dies zu einer Rassifizierung dieser Gewalt, einer Haltung, die letztlich dazu führt, dass kein Opfer angemessen geschützt wird. Schweizerinnen sind genauso benachteiligt: Klagen sie bei einer offiziellen Stelle die Gewalt ihres Schweizer Partners an, kann es passieren, dass ihre Aussagen heruntergespielt und weniger ernst genommen werden, da die von ihnen angezeigten Fakten nicht den rassifizierten Darstellungen entsprechen, die man sich üblicherweise von dieser Art von Gewalt macht (Khazaei 2023).

Fazit

Kommen wir auf Audre Lordes Prophezeiung zurück und auf die Notwendigkeit, den Widerstand gegen Rassismus in Verbindung mit dem Widerstand gegen Sexismus und andere Machtverhältnisse zu denken. Wie Christine Delphy (2001:89) erläutert, ist die Frage nach dem Verhältnis von Sex, Geschlecht und Gender nicht parallel zur Frage nach dem Verhältnis von Ausgrenzung und Hierarchie zu stellen, sondern es ist ein und dieselbe Frage. In diesem Sinne dient Gender als erstes Zeichen einer Hierarchie unter den Menschen dazu, die Idee von Überlegenheit/Unterlegenheit oder Andersartigkeit als natürlich wirken zu lassen. Die Einführung von «Race» war, ähnlich wie die Einführung von «Gender», ein entscheidender Moment bei der Etablierung von Überlegenheits- und Unterlegenheitsbeziehungen, die Herrschaft mit sich bringt. Ein Konzept der Menschheit beruht auf der Vorstellung, dass die Weltbevölkerung in zwei Gruppen unterschieden werden kann, von denen die eine der anderen überlegen ist. Die Intersektionalität lässt uns erkennen, dass jede Reproduktion von Hierarchie und Andersartigkeit ein und dasselbe Problem ist und dass Sexismus insbesondere durch die Reproduktion rassistischer und kolonialer Beziehungen fortbesteht. Die Intersektionalität erlaubt es uns, zu verstehen, wie Rassismus Sexismus verstärkt, dass Rassismus auf Sexismus beruht und wie umgekehrt Sexismus Rassismus nährt und legitimiert. Die Intersektionalität zeigt uns, dass jedes Unterfangen, das diesen Unterdrückungssystemen entgegenwirken will, nur dann eine Chance auf Erfolg haben kann, wenn es sie gemeinsam bekämpft.

Bibliografie

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