TANGRAM 48

Editorial

Autorin

Ursula Schneider Schüttel ist Präsidentin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus EKR

Gefühlt hat die Polarisierung in unserer Gesellschaft zugenommen. Politische Debatten werden lauter und polemischer. Öfter werden unvereinbare Positionen ohne Zwischentöne vertreten, egal ob links oder rechts. Eine Polarisierung der Meinungsäusserungen stelle ich auch in den Medien fest. Insbesondere in den sozialen Medien sind differenzierte Haltungen kaum mehr auszumachen. Mehr und mehr Lebensbereiche scheinen von einer Polarisierung betroffen zu sein.

Doch ist dem wirklich so? Welche Ursachen und welche Folgen hat die Polarisierung? Wie wirkt sich die Polarisierung des öffentlichen Diskurses auf die Bekämpfung von Rassismus und Diskriminierung aus? Diesen Fragen geht die vorliegende Ausgabe des Tangram nach. Expertinnen und Experten aus verschiedenen Teilgebieten der Wissenschaft beleuchten die vielschichtigen Facetten der Polarisierung.

Zu den zentralen Faktoren gehören unter anderem die Fragmentierung der Medienlandschaft und der Einfluss sozialer Medien. Algorithmische Filterblasen verstärken bestehende Ansichten und verhindern, dass wir mit unterschiedlichen Perspektiven in Berührung kommen. Diese Isolation führt zu einem Mangel an Dialog und Verständnis, wodurch Misstrauen und Feindseligkeit gegenüber anderen Gruppen wachsen. Im Kontext der Rassismusbekämpfung bedeutet dies, dass Vorurteile und Fehlinformationen nicht nur bestehen bleiben, sondern sich oft noch verstärken.

Als Politikerin habe ich die Erfahrung gemacht, dass polemische und polarisierende Aussagen mehr öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. Differenzierte Positionen haben oft einen schweren Stand. Doch eigentlich lebt gerade unsere schweizerische Demokratie nicht vom Streit um die Meinungshoheit und dem simplen «Dafür» oder «Dagegen». Im Gegenteil: Unsere Demokratie nährt sich vom konstruktiven Dialog, von offenen Diskussionen, von der Auseinandersetzung miteinander, von der Suche nach Konsens und Kompromissen. Und allenfalls, ganz am Schluss bei einer Volksabstimmung, da geht es letztlich um ein Ja oder ein Nein.

Ich bin davon überzeugt, dass unsere Gesellschaft von der Fähigkeit jeder und jedes Einzelnen lebt, sich differenziert eine Meinung zu bilden bzw. eine differenzierte Meinung zu haben. Ein gesellschaftlicher Zusammenhalt ist nicht möglich, wenn polarisierte und polarisierende Meinungen den Alltag bestimmen, wenn jeder auf seinem Standpunkt beharrt, wenn das «Aufeinanderzugehen» und das Verständnis für das Gegenüber nicht mehr vorhanden sind. Die Offenheit anderen Menschen gegenüber, die Fähigkeit zur Empathie und zur Solidarisierung mit Mitmenschen sind wesentliche Grundlagen einer funktionierenden Gesellschaft.

Die zunehmende Polarisierung öffentlicher Debatten kann eine Bedrohung darstellen und die Fortschritte im Kampf gegen Rassismus gefährden. Wenn sich Debatten zu extremen Positionen verfestigen, verschwinden Nuancen und gegenseitiges Verständnis. Schlagworte wie «Wokeismus», «Cancel Culture» oder «kulturelle Aneignung» dienen dann häufig dazu, Spaltungen zu schüren, anstatt eine konstruktive Auseinandersetzung zu führen. Nötig ist deshalb eine erhöhte Wachsamkeit und die Bereitschaft, ausgewogene Debatten zu ermöglichen, die das Miteinander fördern. Die Schweizer Demokratie, die auf Konkordanz und Konsens beruht, bietet dafür ein wertvolles Modell, das wir bewahren und an die zeitgenössischen Herausforderungen anpassen müssen, um im Kampf gegen Rassismus weitere Fortschritte zu erzielen.

Der Kampf gegen Rassismus ist auf einen starken sozialen Zusammenhalt angewiesen, in dem sich jede und jeder Einzelne einbezogen und wertgeschätzt fühlt. Die Polarisierung des öffentlichen Diskurses behindert diesen Effort beträchtlich. Entscheidend ist die Erkenntnis, dass Rassismus nicht bekämpft werden kann, indem man gesellschaftliche Gräben vertieft. Nötig ist vielmehr der Bau von Brücken zwischen verschiedenen Gemeinschaften. Indem wir den sozialen Zusammenhalt stärken, schaffen wir den Nährboden für die Sensibilisierung gegen alle Formen von Rassismus. Als Garanten dieses Zusammenhaltes spielen unsere demokratischen Institutionen eine fundamentale Rolle. Angesichts der Herausforderungen durch die Polarisierung ist es unabdingbar, diese Institutionen zu schützen und zu stärken.

Ich wünsche Ihnen eine gute Lektüre.