TANGRAM 48

«Polarisierung erschwert den Kampf gegen Rassismus»

Autor

Oscar Mazzoleni ist ordentlicher Professor für Politikwissenschaft an der Fakultät für Sozial- und Politikwissenschaften der Universität Lausanne. Dort leitet er das Observatorium für Regionalpolitik und ist Co-Leiter des assoziierten internationalen Labors «Parties, Political Representations and Sustainable Development».

Das Interview führte Samuel Jordan

Was bedeutet «Polarisierung» in der Politikwissenschaft? Warum wird polarisiert? Und wie zeigt sich Polarisierung in der Schweiz? Stellt sie eine Gefahr für unsere Demokratie dar? Wie wirkt sich der Trend auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und auf den Kampf gegen Rassismus aus? Interview mit Oscar Mazzoleni, ordentlicher Professor für Politikwissenschaft an der Universität Lausanne.

Wie definiert die Politikwissenschaft den Begriff Polarisierung?
Oscar Mazzoleni: Polarisierung ist ein komplexes Phänomen. Dies mag im Widerspruch zur eigentlichen Idee der Vereinfachung stehen, die der Polarisierung innewohnt. In der Politikwissenschaft lassen sich mindestens drei mögliche Definitionen für diesen Begriff ausmachen. Polarisierung einerseits als Erstarken der linken und rechten Pole auf dem politischen Spektrum, insbesondere mit Blick auf die Unterstützung bei Wahlen. Andererseits meint Polarisierung eine Verschärfung der Meinungsunterschiede, eine wachsende Kluft bei sozioökonomischen und kulturellen Themen, die für eine Gesellschaft zentral sind. Die dritte Definition bezieht sich auf den häufigeren Gebrauch einer Sprache, die auf Spaltung fokussiert und auf eine Kultur der Gegensätze setzt, was politisch Andersdenkende oder bestimmte soziale Gruppen zu Feinden macht, die es herabzuwürdigen gilt.

In den Medien im Inland wie im Ausland wird der Begriff Polarisierung so häufig wie nie zuvor verwendet. Spiegelt das tatsächlich die Realität oder übertreibt die Presse?
Es ist wohl eine Mischung von beidem. Auf der einen Seite ist die Polarisierung die Folge von gesellschaftspolitischen Transformationen, kulturellen und sozialen Konfliktlinien, insbesondere von sozialer Ungleichheit. Und auf der anderen Seite tragen die Medien – namentlich die Boulevardblätter – tendenziell zum Phänomen der Polarisierung bei. Wie? Indem sie einer vereinfachenden Sprache Raum geben und manchmal den Skandal geradezu suchen. Das ist nicht wirklich neu, aber der tiefgreifende Wandel der Medienlandschaft verstärkt den Trend, auch in der Schweiz. Die Medien stehen unter grossem wirtschaftlichen Druck, der sie oft dazu treibt, in einer Logik der Reichweitenmaximierung zu denken. Um ein solches Ziel zu erreichen, ist es verkaufsfördernder, nicht auf trockene Berichterstattung zu setzen und Meinungsverschiedenheiten aufzubauschen.

Woher kommt der Hang zum Polarisieren?
Geht man davon aus, dass es nicht nur eine Form der Polarisierung gibt, sehe ich typischerweise mindestens vier Gründe oder Bedingungen, die Polarisierungsprozesse begünstigen und verstärken. Erstens würde ich die wachsende Ungleichheit und die Beschleunigung des sozialen Wandels nennen, die Frustrationen aufkommen lassen und die Gesellschaft infrage stellen. Dass auf die Unzufriedenheit eines Teils der Bevölkerung von den zuständigen Institutionen oft Antworten ausbleiben, verstärkt das Phänomen noch. Zweitens würde ich die Schwächung der gemässigten politischen Kräfte nennen. Seit einigen Jahrzehnten sehen sich diese mit Misstrauen und einer Abkehr ihrer Stammwählerschaft konfrontiert. Gemässigte Kräfte neigen traditionell dazu, die Polarisierung der Extreme zu drosseln. Heute werden diese Kräfte – sofern sie nicht auf Nebenrollen verwiesen wurden – dazu gedrängt, nach links oder – häufiger – nach rechts zu rücken, insbesondere bei gewissen Themen. Drittens würde ich die Zunahme der Diskurse populistischer Ideologien einbringen. Diese oft pauschalisierenden Botschaften gehen von einer Gesellschaft aus, die auf einer Logik der Antagonismen beruht, auf Gegensätzen und tiefen Meinungsverschiedenheiten zwischen «Freund» und «Feind» und schliesslich auf einer diskursiven Strategie, die in der Suche nach Sündenböcken besteht, die das Wohl von Land und Volk mit Füssen treten. Die Feinde dabei sind etwa die Globalisierung, die Finanzwelt oder Migrationsströme. Schliesslich sind auch die Auswirkungen des technologischen Wandels, des Internets und der sozialen Netzwerke zu erwähnen. Social Media ermöglichen die Schaffung von Blasen, von abgeschotteten Räumen, in die sich gegensätzliche Mikrogemeinschaften zurückziehen. In hermetischen Bubbles definieren sie ihre eigenen Wahrheiten, ihre alternativen Einschätzungen, die mit dem Rest und der Mehrheit der Gesellschaft brechen und dazu beitragen, die antagonistische Logik des Populismus zu verstärken. Das verschärft die Polarisierung der Debatte.

Schwächt diese zunehmende Polarisierung der politischen Debatte von links wie rechts die Demokratien?
Für eine lebendige Demokratie braucht es natürlich eine gewisse Polarisierung. Demokratie beruht weder auf Einstimmigkeit noch auf der Übereinstimmung von Ideen und Meinungen um jeden Preis. Polarisieren gehört zur politischen Debatte. Problematisch wird es, wenn die Polarisierung mit einer gemeinsamen politischen Kultur kontrastiert, namentlich mit Grundsätzen wie Toleranz, Achtung und Respekt gegenüber politischen Andersdenkenden. Sieht ein Gegner das Gegenüber als Konkurrenten, den es niederzumachen gilt, zeigt er nur Verachtung für Andersdenkende. Die Polarisierung führt dann zu einer Schwächung der demokratischen Kultur. Was in den letzten Jahren – zum Beispiel in den USA – passiert, zeigt, dass eine verschärfte ideologische Konfrontation die gemeinsamen Werte schwächt und damit die Grundlage unserer demokratischen Systeme.

Wie beurteilen Sie die Polarisierung der politischen Debatte in der Schweiz?
Wir sind es gewohnt, die Schweiz als das Land des Konsenses zu sehen. Institutionell ist eine gewisse Polarisierung der politischen Debatte jedoch systeminhärent. Bei den vielen eidgenössischen Initiativen und Referenden entscheidet das Volk zwischen «Ja» und «Nein» – ohne Nuancierungsoption – und trägt so mehrmals im Jahr zur Bildung von zwei gegensätzlichen Lagern bei. Lange Zeit beschränkte sich diese Polarisierung auf die Ausübung der direkten Demokratie und auf ein paar knappe Abstimmungen. Seit einigen Legislaturen beobachten wir eine Polarisierung der Debatte nicht nur bei Abstimmungsthemen (Einwanderung, Asyl, EU), sondern auch bei Wahlkampagnen, insbesondere bei eidgenössischen Wahlen. Polarisierungsstrategien werden in der Tat als wirksamer Hebel gesehen, um Stimmen zu gewinnen. So kommt es vermehrt zu extremen Interventionen, die aufgrund diskriminierender Inhalte Strafanzeigen nach sich ziehen. Festzuhalten gilt, dass diese Polarisierung deutlich stärker das politische Marketing betrifft als das Tagesgeschäft von Politik und Institutionen.

In der Schweiz beruht die Ausübung hoheitlicher Gewalt auf Konkordanz und Konsens. Ist dieses System in Gefahr?
Während die direkte Demokratie, wie Wahlkampagnen, einen Nährboden für Polarisierungen darstellen, neigen das föderalistische System und das kollegiale Regierungssystem dazu, polarisierende Effekte einzudämmen. Der Schweizer Föderalismus widersetzt sich polarisierenden Vereinfachungen aufgrund seiner komplexen Ausgestaltung und der Fragmentierung der Konflikte. Es stimmt, dass im Parlament manchmal erbittert und polarisierend debattiert wird. Das Zweikammersystem mit National- und Ständerat – der Volks- und der Kantonskammer – tendiert jedoch dazu, Polarisierungen zu hemmen und zu mässigen. Ausserdem verpflichtet das Kollegialitätsprinzip die Mitglieder des Bundesrats, Entscheidungen der Exekutive zu vertreten, auch wenn sie nicht auf ihrer Parteilinie liegen. Das Gleiche gilt für die Kantone. Es ist auch die Folge einer politischen Realität: Keine Partei verfügt über eine echte und entscheidungsfähige Mehrheitsmacht, sämtliche Gruppierungen sind gezwungen, Kompromisse einzugehen, um politischen Einfluss auszuüben.

Ist die Polarisierung der Politik ein Abbild der Gesellschaft im Allgemeinen? Oder ist sie das Werk starker populistischer Persönlichkeiten, die ihre Visionen durchsetzen?
Populistische Persönlichkeiten spielen oft eine zentrale Rolle bei der Polarisierung der öffentlichen Debatte. Gleichzeitig brauchen solche Leaderfiguren ein gewisses Mass an sozialen Unsicherheiten und Erwartungen, die auf Frustration beruhen, um ihre schlichten Botschaften, die die Wünsche und den Willen des Volkes verkörpern sollen, zu vermitteln.

Die Polarisierung dreht sich häufig um Migrationsfragen. Geht die Schweiz Ihrer Meinung nach angemessen mit ihrer kulturellen Vielfalt um?
Die Schweizer Geschichte zeigt, dass der Umgang mit kultureller Vielfalt kein langer, ruhiger Fluss ist. Ganz im Gegenteil. Wir dürfen nicht vergessen, dass Polarisierungen rund um Migrationsströme und die Präsenz von Ausländerinnen und Ausländern seit einem halben Jahrhundert im Zentrum der politischen Mobilisierung in der Schweiz stehen. Das Schweizer Volk stimmt seit 1970 – beginnend mit der Schwarzenbach-Initiative «gegen die Überfremdung» – regelmässig über Migrationsfragen ab. Seither stehen sich zwei Lager gegenüber: Das eine ist der Ansicht, dass ausländische Menschen unsere Gesellschaft sozial, wirtschaftlich und kulturell bereichern, das andere findet, dass Menschen aus anderen Ländern die Schweizer Identität geschwächt oder gar zerstört haben. Diese Kluft, die sich teilweise mit der Frage des Verhältnisses und der Beziehungen zur EU überschneidet, wird auch in den kommenden Jahren einer der Gründe für die politische Polarisierung in der Schweiz sein.

Fremdenfeindlichkeit durchdringt den politischen Diskurs einiger Schweizer Eliten. Wie beeinflusst die manchmal ungehemmte Rede die öffentliche Meinung?
Fremdenfeindlichkeit – also die Feindseligkeit oder das Misstrauen gegenüber ausländischen Menschen – kann als ein Produkt betrachtet werden, das ver- und gekauft wird, ein Produkt, das den Gesetzen von Angebot und Nachfrage gehorcht. Ob sie nun aus Überzeugung oder einfach nach Bedarf eingesetzt wird, die fremdenfeindliche Rhetorik hat sich in den letzten Jahren in der politischen Landschaft der Schweiz gewissermassen normalisiert. Beispielsweise war die Bezeichnung «falscher Flüchtling» in den 1990er-Jahren für viele politische Kräfte tabu: Heute hat sich die Verwendung weitgehend eingebürgert und durchgesetzt. Gleichzeitig soll klargestellt werden, dass die Schweiz keine Ausnahme ist: Dieses Phänomen kennzeichnet die jüngsten politischen Entwicklungen in ganz Europa.

Wie erklären Sie, dass die internationale Aktualität – die Krise im Nahen Osten etwa – so stark zur Polarisierung der innerpolitischen Debatten in der Schweiz beiträgt?
Heute ist die Trennung zwischen nationaler und internationaler Politik aufgebrochen. Die Globalisierung der medialen Kommunikation hat dazu geführt, dass jedes Ereignis ausserhalb der Schweiz einen Einfluss auf unser Land ausüben kann, und zwar auf unvorhergesehene Weise, was sich manchmal in der politischen Agenda niederschlägt. Vor allem, wenn es um Krisen geht, wie die nukleare Katastrophe in Fukushima 2011, die bewirkt hat, dass die Energiepolitik zur Diskussion gestellt wurde. Oder im Falle eines bewaffneten Konflikts, wie beim Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine oder bei der Krise im Nahen Osten, wo sich in der Schweiz, in der öffentlichen Meinung und in der Politik gegensätzliche Lager herausbilden. Krisen verursachen Unsicherheiten und führen zu ideologischen und politischen Neupositionierungen – mit dem Ergebnis, dass sich die Polarisierung verändert und verstärkt.

Neuere Begriffe wie Wokeismus, Cancel Culture oder kulturelle Aneignung werden in allen möglichen und unmöglichen Kontexten verwendet und stehen heute im Mittelpunkt der politischen Debatte. Auf welche Weise tragen diese Konzepte dazu bei, Polarisierungen zu begünstigen?
Die Ablehnung und Verunglimpfung von «Wokeismus» – ein Begriff aus Übersee – ist ein Versuch, auf polemische Art auf feministische Mobilisierungen, die Kritik am strukturellen Rassismus und die Verteidigung der kulturellen und sexuellen Vielfalt zu reagieren. Angesichts der zunehmenden, manchmal auch heftigen Kritik an den Machtverhältnissen ist das Anprangern des «Wokeismus» eine ungehemmte Art, traditionelle Werte zu verteidigen. Auch wenn es stimmt, dass die Ablehnung von «Wokeismus» eine neue Form der ideologischen Polarisierung darstellt, gilt, dass die Verteidigung traditioneller Werte nicht das alleinige Vorrecht der populistischen Rechten ist. Sie wird auch von einigen linken Bewegungen praktiziert.

Wie beurteilen Sie die Auswirkungen der Polarisierung auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und den Kampf gegen Rassismus in der Schweiz?
Soziale Spaltungen fördern Polarisierungen, die wiederum soziale Spaltungen fördern, mit unüberbrückbaren Gegensätzen, manchmal auch mit Verachtung der anderen. Etwa wie bei der Schlange, die sich in den Schwanz beisst. Daher lässt sich nicht leugnen, dass die zunehmende Polarisierung eine Reihe von Hindernissen für die Bekämpfung von Rassismus darstellt. Insbesondere ist es schwierig, eine politische Instrumentalisierung zu vermeiden oder sich von den Polen zu distanzieren, die sich in der politischen Arena gegenüberstehen, sei es bei Abstimmungskampagnen oder Wahlen.