TANGRAM 43

«Konservative Strömungen setzen die Meinungsäusserungsfreiheit gegen Minderheiten ein».

Interview mit Denis Ramond, Dozent für Politikwissenschaften an der Universität Angers

Autor

Das Interview führte Samuel Jordan

Überall auf der Welt kommt die Meinungsäusserungsfreiheit unter Druck. Das Grundrecht der freien Meinungsäusserung wird regelmässig in Frage gestellt oder instrumentalisiert. Als einer der Grundpfeiler der Demokratie hat die Meinungsäusserungsfreiheit in der Zeit der Aufklärung allgemeine Gültigkeit erlangt, wird heute jedoch allzu oft missbraucht, um Hassreden auf Kosten von Minderheiten zu rechtfertigen. Diese These vertritt Denis Ramond in seinem kürzlich erschienenen Buch – La bave du crapaud; Petit traité de liberté d’expression. Interview mit Denis Romond, Dozent für Politikwissenschaften an der Universität Angers, Frankreich.

Denis Ramond, beginnen wir mit dem Grundsätzlichen: Wie definiert man Meinungsäusserungsfreiheit?

Der Begriff der Meinungsäusserungsfreiheit ist komplex. Juristisch gesehen ist Meinungsäusserungsfreiheit das Recht, sich eine Meinung zu bilden und diese zu äussern. Laut Philosophen und Dissidenten dient die Meinungsäusserungsfreiheit dazu, das auszudrücken, was uns politisch und moralisch untersagt ist. Somit verkörpert sie eine Art zivilen Ungehorsam. Die Meinungsäusserungsfreiheit wird jedoch nicht nur rechtlich definiert. Sie besteht aus verschiedenen Praktiken, die dem geltenden Recht oftmals vorausgehen, es umstossen und weiterentwickeln. Die Meinungsäusserungsfreiheit ist die einzige Freiheit, von der Exzessivität verlangt wird. Sie ist eine Unruhestifterin: In Sprache, Schrift oder Bild kann sie die Rechte der Mehrheit, der Mächtigen und der Herrschenden in Frage stellen. Sie kann alle und alles hinterfragen; die Schwierigkeit liegt darin, die vertretbaren Grenzen dieser Subversion zu erkennen.

Warum interessiert man sich heute für die Meinungsäusserungsfreiheit?

Die Meinungsäusserungsfreiheit stellt trotz ihrer Bedeutung für unsere Demokratien und trotz der zunehmenden öffentlichen Aufmerksamkeit in Europa ein relativ junges Forschungsgebiet dar. Es gibt eine Reihe von juristischen Aufsätzen zu diesem Thema, aber fast nichts im Bereich der Philosophie. Mit meinem Buch wollte ich eine Lücke schliessen und eine Debatte anstossen.

Warum braucht es diese Debatte heute?

Ausgangspunkt des Buchs ist eine Diagnose, die mich beunruhigt und erschüttert hat: In den letzten Jahrzehnten ist die Meinungsäusserungsfreiheit politisch zu einem Wert der Rechten und der extremen Rechten geworden. Diese Freiheit wurde einst hart erkämpft, um der staatlichen Macht und der vorherrschenden Moral Grenzen zu setzen und Pluralismus und individuelle Rechte zu garantieren. Nun wird sie von konservativen und reaktionären Strömungen systematisch vereinnahmt, um über den Gleichheitsanspruch und die öffentliche Anerkennung von Minderheiten herzuziehen.

An welche Minderheiten denken Sie?

Ich denke an die Minderheiten nach Rasse, Geschlecht, Religion und gesellschaftlicher Zugehörigkeit. Kurz gesagt, an alles, was gemeinhin als «politisch korrekt» gilt.

Was bezwecken die Leute, die Sie als die «neuen Verteidiger der Meinungsäusserungsfreiheit» bezeichnen, wenn sie das «politisch Korrekte» angreifen?

Die Anprangerung des politisch Korrekten hat sich im rechten Spektrum zu einem Wahlrezept entwickelt. Dabei wird versucht, eine Grenze zwischen «uns» (zivilisiert) und den «anderen» (obskurantistisch) zu ziehen. «Die Tyrannei der Minderheiten», die progressiven, egalitären Gutmenschen, die antirassistischen und feministischen Vereinigungen und die damit verbundene Strapazierung der Meinungsfreiheit anzugreifen, ist in Mode gekommen. Endlich kann man sagen, was einem auf dem Herzen liegt, im Namen einer angeblichen Grenzüberschreitung. Es kommt zu einer Umkehrung der historischen Rolle der Meinungsäusserungsfreiheit, die nun von den Mächtigen gegen die Schwachen eingesetzt wird, indem Letztere zu den vermeintlich Mächtigen gemacht werden.

Was will Ihr Buch letztlich zeigen?

Ich glaube, dass man für die Meinungsäusserungsfreiheit eintreten kann, ohne diese anti-egalitäre politische Tendenz zu vertreten. Folgende Vorschläge können einem Korrektiv dienlich sein: 1. Ausgestaltung klarer, kohärenter Grenzen der freien Meinungsäusserung; 2. Die Verteidigung der Meinungsäusserungsfreiheit im Namen ihrer positiven Folgen ist zwecklos, um nicht zu sagen kontraproduktiv; 3. Angriffe gegen Personen zu ahnden ist gerechtfertigt, insbesondere solche, die die Zugehörigkeit der Personen betreffen, hingegen ist es nicht gerechtfertigt, Angriffe gegen Präferenzen zu ahnden.

Worin besteht dieser Unterschied zwischen Zugehörigkeit und Präferenz?

Präferenzen sind politische und religiöse Überzeugungen, Vorlieben oder Moralvorstellungen. Zugehörigkeiten sind Herkunft oder Geschlecht. Die Meinungsäusserungsfreiheit kann Präferenzen angreifen, die veränderbar sind, nicht jedoch Zugehörigkeiten, die gegeben und nicht austauschbar ist. Wir können also über Präferenzen diskutieren, nicht aber über Zugehörigkeiten. Von dem Moment an, in dem wir Menschen wegen ihrer Zugehörigkeit angreifen, reduzieren wir sie auf eine Identität. In einer Gesellschaft, die nicht zwischen den beiden Begriffen unterscheidet, kann es keine Meinungsäusserungsfreiheit geben.

Wenn ich Sie richtig verstehe, wären dann islamfeindliche Reden oder Blasphemien tolerierbar?

So habe ich es nicht gemeint. Religiöse Fragen sind ausserordentlich komplex, denn sie bewegen sich zum Teil an der Schnittstelle zwischen Zugehörigkeit und Präferenz. Man gehört zu einer Glaubensgemeinschaft und hat gleichzeitig religiöse Präferenzen. Sobald man davon ausgeht, dass Religion eine Zugehörigkeit ist, die die Gemeinschaft umfasst, ist es schwierig, Blasphemie zu akzeptieren. Andererseits zielen Islamophobe oft auf die muslimische Gemeinschaft als Ganzes, unabhängig davon, ob es sich im Einzelnen um praktizierende Musliminnen und Muslime handelt oder nicht.

Im Juni 2019 wurden Karikaturen aus der New York Times verbannt. Die US amerikanische Tageszeitung traf diese Entscheidung nach dem Aufschrei wegen einer Karikatur, die einige als antisemisch betrachteten. Wie denken Sie darüber?

Es ist ein Angriff auf die Meinungsäusserungsfreiheit, zumal die Karikatur einer ihrer stärksten Akteure ist. Man könnte sagen, die betreffende Karikatur – sie stellt einen blinden Donald Trump dar, der den als Blindenhund dargestellten israelischen Premierminister Benyamin Netanyahu an der Leine hält –, spiele mit bestimmten Stereotypen. Ich glaube jedoch nicht, dass daran etwas inakzeptabel war. Die Karikatur hätte nicht für so viel Aufsehen gesorgt, wenn es nicht um den Staat Israel gegangen wäre. In einem weiteren Sinn zeigt dieser Fall, dass Liberalismus und Meinungsfreiheit in den USA zwiespältig sind: Einerseits wird das verfassungsmässige Recht rigoros durchgesetzt, andererseits sind die Zeitungen gezwungen, sich einzuschränken aus Angst, Leser zu verlieren oder sich kostspieligen Prozessen oder Verleumdungen zu stellen, die ihrem Ruf schaden könnten. So gehen Wirtschaftsliberalismus und freie Meinungsäusserung eben nicht immer Hand in Hand.

Ein hoher Politiker und ein einfacher Bürger sagen dasselbe: «Schwarze sind fauler als Weisse». Welchen Unterschied macht das?

Aus rechtlicher Sicht macht das keinen Unterschied. Beide werden gleichbehandelt. Symbolisch ist der Unterschied hingegen fundamental. Denn die Meinungsäusserungsfreiheit ist eine Frage des Machtverhältnisses. Die Auswirkungen der Meinungsfreiheit sind je nach Sender sehr unterschiedlich. Um die Folgen der Meinungsfreiheit zu beurteilen, müssen drei Dinge berücksichtigt werden: 1. Wer ist der Sender, und wie gross ist seine Macht? 2. Wer ist der Empfänger? Ist er beeinflussbar? 3. Was ist das Ziel? Ist es verletzlich? Wenn ich selbst auf der Strasse verkünde, dass alle Muslime Terroristen sind, wird das nicht die gleiche Wirkung haben wie wenn ein Minister dies vor einer Menschenmenge sagt, die seine Sache unterstützt.

Wann also verbieten und wann bestrafen?

Das muss im Einzelfall beurteilt werden. Zugehörigkeit und Präferenz können gute Kriterien für eine Einschätzung sein. So halte ich es beispielsweise für legitim, die Verherrlichung von Gewalt oder Hassreden gegen Personen oder Personengruppen (Rassismus, Homophobie, Misogynie usw.) zu verbieten. Hingegen halte ich es insofern nicht für legitim, die Leugnung des Holocaust zu verbieten, als dies keinen ausdrücklichen Angriff gegen Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit darstellt.

Verschiedene europäische Staaten, darunter Frankreich, haben Gesetze gegen Hassreden im Internet erlassen. Ist dies Ihrer Meinung nach eine gute Lösung?

Angesichts der Tatsache, dass das Internet zu einem Ort geworden ist, wo sich der Hass gegen Minderheiten austobt, ist die Idee zu begrüssen. Weniger erfreut bin ich hingegen darüber, dass mit dieser Art von Gesetz die Internetfirmen verpflichtet werden sollen, die Inhalte auf ihren Plattformen selbst zu bereinigen. Denn das Gesetz räumt diesen privaten Akteuren einen riesigen Ermessensspielraum ein, die vermutlich lieber die öffentliche Freiheit zensieren und einschränken als ihr Image und ihren wirtschaftlichen Erfolg zu gefährden.

Ist die Bekämpfung des Rassismus angesichts dessen, was Sie als Missbrauch der Meinungsäusserungsfreiheit bezeichnen, zum Scheitern verurteilt?

Wir haben in den letzten Jahren wie gesagt eine Beschlagnahme der Meinungsäusserungsfreiheit zur Verteidigung einer einheimischen männlichen Identität auf Kosten ethnischer Minderheiten erlebt. Die freie Rede wird wieder einmal unter dem Deckmantel der Meinungsäusserungsfreiheit dazu benutzt, die ethnische Zugehörigkeit als Interpretations- und Erklärungsmuster der Realität und des gesellschaftlichen Verhaltens durchzusetzen. Dies ist ein bedauerlicher Rückschritt, und ich fürchte, dass Rassismus wieder in Mode kommt. Angesichts dieser Gefahr müssen die Akteure im Kampf gegen den Rassismus ihre Anstrengungen verdoppeln und sich neu erfinden.