Autor
Peter G. Kirchschläger ist Ordinarius für Theologische Ethik und Leiter des Instituts für Sozialethik ISE an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.
peter.kirchschlaeger@unilu.ch
Sind das Recht auf freie Meinungsäusserung und der Kampf gegen Rassismus unvereinbar? Die Vorstellung eines vermeintlichen Konflikts steht im Widerspruch zum Prinzip der Unteilbarkeit der Menschenrechte. Wichtig wäre das Verständnis eines Nebeneinanders.
Sowohl der Kampf gegen Rassismus als auch die Meinungsäusserungsfreiheit stehen unter dem Schutz der Menschenrechte. Artikel 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 schützt jeden Menschen vor Rassismus und Diskriminierung. Artikel 19 garantiert jedem Menschen das Recht auf Meinungsäusserungs- und Informationsfreiheit. Beide Menschenrechte lassen sich nicht nur rechtlich, sondern auch moralisch begründen. Kann sich jemand nun auf das Recht auf Meinungsäusserungsfreiheit beziehen, um rassistische Äusserungen zu verbreiten? Oder muss die Meinungsäusserungsfreiheit zum Schutz vor Rassismus aufgegeben werden?
Beide Zugänge nehmen zwei Menschenrechte vermeintlich im Konflikt wahr und entscheiden sich dann für das eine oder das andere Menschenrecht. Dies führt automatisch zur Verletzung eines der beiden Menschenrechte, was nicht legitimierbar ist. Denn der Mensch ist Träger aller Menschenrechte. Und diese schützen essentielle Bereiche der menschlichen Existenz.
Darum sollten die beiden Menschenrechte nicht als in einem Konflikt stehend, sondern als Verbündete gedacht werden, denn beiden Rechten liegt das Prinzip der Unteilbarkeit zugrunde, das besagt, dass der Katalog der Menschenrechte ein Ganzes bildet. Die Unteilbarkeit der Menschenrechte impliziert, dass stets alle und nicht nur einzelne Teile von ihnen realisiert sein müssen. Es muss also immer der optimale Schutz aller Menschenrechte verfolgt werden.
Jedes spezifische Menschenrecht schützt einen essentiellen Bereich der menschlichen Existenz, der aufgrund des Prinzips der Verletzbarkeit nach menschenrechtlichem Schutz verlangt. Daraus folgt, dass ein spezifisches Menschenrecht erst dort an seine Grenzen stösst, wo es nicht mehr im Einklang mit anderen Menschenrechten oder mit den Menschenrechten der anderen steht.
Dieses Prinzip der Unteilbarkeit der Menschenrechte erteilt der Rede von einem Konflikt zwischen zwei Menschenrechten eine Absage und propagiert ein Verständnis des Nebeneinanders aller Menschenrechte. Dieser Ansatz ist dadurch begründet, dass die allgemeinen Menschenrechte als Gesamtkatalog aller spezifischen Menschenrechte gelten und so 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte konzipiert und deklariert worden sind. Das Recht auf Nichtdiskriminierung ist – wie alle anderen spezifischen Menschenrechte – a priori mit dem Recht auf Meinungsäusserungsfreiheit mitzudenken. Dieses Verständnis des Nebeneinanders aller Menschenrechte ist ethisch begründbar und lässt es nicht zu, sie angesichts von vermeintlichen Konflikten abzuschwächen, zu verwässern, zu unterwandern oder gegeneinander auszuspielen.
Dem Nebeneinander aller Menschenrechte liegt das Prinzip der Interdependenz zugrunde, das besagt, dass die spezifischen Menschenrechte sich gegenseitig bedingen. Die konkreten Herausforderungen und Fragestellungen lassen den Verdacht eines Konflikts zwischen spezifischen Menschenrechten aufkommen und rufen nach Antworten hinsichtlich der Balance zwischen einzelnen Rechten. Dies bedeutet erstens, dass jeweils das eine Recht vom anderen Recht abhängig ist und dass die spezifischen Menschenrechte auch in den jeweils anderen Menschenrechten enthalten sind. So ist die Durchsetzung des Rechts auf Meinungsäusserungs- und Informationsfreiheit darauf angewiesen, dass niemandem aus rassistischen Gründen diese Freiheit verwehrt bleibt. Die Realisierung des Rechts auf Nichtdiskriminierung braucht Meinungsäusserungs- und Informationsfreiheit, um beispielsweise aufgrund von Informationen und im Zuge von kritischen Diskussionen für Respekt von Diversität und gegen Rassismus zu sensibilisieren.
Zweitens bedeutet dieses Nebeneinander aller Menschenrechte, dass die Menschenrechte das Verständnis des jeweiligen spezifischen Menschenrechts prägen. Der Inhalt der einzelnen spezifischen Menschenrechte wird durch die allgemeinen Menschenrechte (z. B. dass allen Menschen dieses spezifische Recht zusteht) und durch die anderen spezifischen Menschenrechte beeinflusst.
Drittens definieren die allgemeinen Menschenrechte und die anderen spezifischen Menschenrechte die Grenzen des jeweiligen spezifischen Menschenrechts. Für das Recht auf Nichtdiskriminierung legt z. B. das Recht auf Meinungsäusserungs- und Informationsfreiheit eine Grenze fest, sodass nicht jede Kritik als vom Recht auf Nichtdiskriminierung geschützt verstanden werden darf. Für das Recht auf Meinungsäusserungs- und Informationsfreiheit bildet das Recht auf Nichtdiskriminierung eine Schranke. Das Recht auf Meinungsäusserungsfreiheit beinhaltet zwar auch die Äusserung von Ansichten und Meinungen, die verletzen, schockieren oder stören. Es gibt aber Formen von Meinungsäusserung und Information, die nicht mit anderen Menschenrechten zu vereinbaren sind, z.B. Kinderpornographie, Hassrede und die Aufhetzung zum Rassenhass. Diese Auswahl wird damit begründet, dass sie andere Menschenrechte und/oder die Menschenrechte von anderen verletzen würden. Jede diesbezügliche Einschränkung muss jedoch Hand in Hand mit dem Recht auf Meinungsäusserungs- und Informationsfreiheit gehen, sie muss menschenrechtlich begründet und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig und verhältnismässig sein.
Schliesslich gilt es zu bedenken, dass Rassismus dazu führt, dass nicht alle Menschen ihre Meinungsäusserungsfreiheit ausüben können, sondern zum Schweigen gebracht werden. Dies steht im Widerspruch zur Universalität der Menschenrechte. Da Menschenrechte keine exklusiven Rechte für bestimmte Menschen darstellen, sondern allen Menschen in gleichem Masse zustehen, sind alle Menschen Träger des Rechts auf Meinungsäusserungsfreiheit. Im Dienste dieses Rechts und der Achtung seiner universellen Geltung soll sich der Kampf gegen Rassismus auch hinsichtlich der Wahrnehmung der Meinungsäusserungsfreiheit auswirken.
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