TANGRAM 46

Editorial

Autorin

Martine Brunschwig Graf ist Präsidentin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus EKR

Die EKR hat sich für die 46. Ausgabe des Tangram ein komplexes Thema ausgesucht: struktureller Rassismus. Wie die Beiträge in dieser Nummer zeigen, steht die Erforschung dieses Themas in der Schweiz noch am Anfang. Das heisst nicht, dass die Problematik nicht existiert, doch stand sie bisher selten im Fokus. Dahinter steckt keine bewusste Absicht, doch wir alle spüren, wie heikel diese Debatte ist zu einem Thema, das sich nicht in groben Zügen abhandeln lässt.

Um die Problematik anzugehen, muss eines vorweg klargestellt werden: Strukturellen Rassismus gibt es auch in der Schweiz, was aber nicht bedeutet, dass unser Land und seine Bewohnerinnen und Bewohner rassistisch sind. Dies geht auf unterschiedliche Art und Weise aus den Beiträgen der Expertinnen und Experten im vorliegenden Tangram hervor. Diese Klarstellung ist wichtig, um zu verhindern, dass man sich nicht jeglicher Debatte über den strukturellen Aspekt von Rassismus verschliesst.

Rassismus ist ein heikles Thema geworden. Die Spannung ist spürbar zwischen jenen, die meinen, es werde zu viel getan, und anderen, die glauben, es bräuchte mehr Anstrengung im Kampf gegen Rassismus. Grund dafür ist häufig ein fehlendes gemeinsames Verständnis, was als Rassendiskriminierung und Rassismus bezeichnet werden kann. Versucht man, strukturellen Rassismus aufzuzeigen, gestaltet sich diese Aufgabe noch schwieriger; man geht vom individuellen zum kollektiven Begriff über. Rassismus entspringt dabei nicht von einem klar definierten Individuum, sondern von einer Organisation, einem System, gesetzlichen und regulatorischen Massnahmen oder Handlungsweisen gegenüber Personengruppen, die Diskriminierung besonders stark ausgesetzt sind.

Nehmen wir die Fahrenden als Beispiel: Rein theoretisch profitieren sie wie alle Menschen vom Schutz vor Diskriminierung. In der Praxis aber erfahren sie effektiv institutionelle rassistische Diskriminierung durch behördliche Vorschriften, die sich nachteilig auf ihre Lebensweise und ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit auswirken, beispielsweise, wenn es die Behörden nicht schaffen, für Einzelne oder für die Gemeinschaft ausreichend Standplätze zur Verfügung zu stellen.

Ein anderes, bekannteres Beispiel ist Racial Profiling. Es ist ein schmaler Grat zwischen der legitimen Suche nach Verdächtigen und dem systematischen Anvisieren von Personen, die aufgrund von Herkunft und Hautfarbe besonders exponiert sind. Fehlende Ausbildung und Begleitung, unklare Richtlinien und eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber dem Phänomen können solche problematischen Praktiken begünstigen und manchmal sogar eine systematische diskriminierende Kultur – sei diese bewusst oder unbewusst – fördern. Staatliche Institutionen, insbesondere jene, die für Sicherheit und Justiz zuständig sind, müssen allfällige Entgleisungen vollumfänglich erfassen. Der Kampf gegen den strukturellen Rassismus ist ein langwieriges Unterfangen. Strukturen und Institutionen müssen stets kritisch hinterfragt und Präventivmassnahmen regelmässig angepasst werden.

Nicht nur der öffentliche, sondern auch der private Sektor ist von strukturellem Rassismus betroffen. Besonders die Bereiche des täglichen Lebens, wie Arbeit und Wohnen, aber auch Sport und Bildung. So muss beispielsweise im Sport dem Risiko einer Banalisierung von Rassismus besser Rechnung getragen werden. Sonst wird als begeistertes Fanverhalten toleriert, was in Wirklichkeit eine rassistische, diskriminierende Haltung gegenüber Spielern mit Migrationshintergrund ist. Schweigen ist eine Form der Komplizenschaft, die den strukturellen Aspekt des Rassismus verstärkt und möglicherweise dazu führt, dass Nichttolerierbares in gewisser Weise «normal» wird.

Ziel dieser Tangram-Ausgabe ist es, die mit dem Thema verbundenen Überlegungen und Analysen bekannter zu machen. Vor allem geht es darum, sich des strukturellen Rassismus bewusst zu werden, der in verschiedenen Bereichen vorkommt – von der Schule bis hin zur Migrationspolitik.

Die Debatte über den strukturellen Rassismus, und wie man ihn bekämpfen kann, beschränkt sich nicht auf die Publikation einiger Artikel. Es geht auch darum zu erarbeiten, wie sich Diskriminierung am besten vorbeugen und eindämmen lässt. Darüber hinaus muss dafür gesorgt werden, dass Opfer, die besonders exponierten Gruppen angehören, vermehrt zu Wort kommen. Sie sollen beschreiben können, was sie erleben und was sie fühlen. Uns allen steht somit eine Aufgabe bevor, die einen langen Atem erfordert.