TANGRAM 46

Der Schutzbedarf ist entscheidend – nicht Ankunft und Herkunft!

Autor

Peter Meier ist Leiter Politik und Medien bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. Peter.Meier@fluechtlingshilfe.ch

Die grosszügige Regelung zur Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine in der Schweiz ist so bemerkenswert wie richtig. Sie offenbart aber auch die ungleiche Behandlung von Vertriebenen aus anderen Herkunftsländern, die nicht haltbar ist. Ein Plädoyer für Rechtsgleichheit im Flüchtlingsschutz.

Die russische Invasion der Ukraine löst Ende Februar 2022 die am schnellsten wachsende Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg aus: Innert nur weniger Wochen treibt Putins brutaler Angriffskrieg Millionen Menschen in die Flucht – innerhalb des Landes, in die Anrainerstaaten und von dort auch weiter in Richtung Schengen-Raum. Überall in Europa bieten zivilgesellschaftliche Organisationen und Freiwillige spontan Hilfe, Versorgung, Wohnraum an, um den Geflüchteten in den ersten Tagen und Wochen Halt und Stabilität zu geben. Auch die europäischen Regierungen handeln – so schnell, so entschlossen, so geeint, wie es angesichts ihrer bisherigen migrationspolitischen Diskrepanzen nicht zu erwarten war: Die Kriegsvertriebenen aus der Ukraine können ihr Aufnahmeland frei wählen, sie erhalten europaweit rasch und unbürokratisch Zugang zu Schutz, erfahren warmherzige Aufnahme und breite Unterstützung. Die uneingeschränkte Solidarität und Hilfsbereitschaft, mit der die EU-Staaten wie die Schweiz auf die humanitäre Katastrophe in der Ukraine reagieren, sind beeindruckend.

Hier wie dort entscheidet sich die Politik rasch für ein aussergewöhnliches rechtliches Instrument zur Aufnahme der Geflüchteten, zumal diese visumsfrei einreisen und sich 90 Tage frei im Schengen-Raum aufhalten können: In der EU ist es die sogenannte Massenzustrom-Richtlinie für die Gewährung vorübergehenden Schutzes, in der Schweiz der Schutzstatus S – beides bis dato nie angewendete theoretische Konstrukte, primär konzipiert als Notfallmechanismen. Sie sollen den Kollaps des Asylsystems verhindern, wenn innert kürzester Zeit eine grosse Zahl Geflüchteter ankommt. EU-Richtlinie wie S-Status sehen für diesen Fall sofort und kollektiv eine vorübergehende Schutzgewährung vor, ohne dass die Betroffenen zuerst das reguläre Asylverfahren durchlaufen müssen. Mit der EU-Richtlinie wie mit dem S-Status wird ein befristetes, aber verlängerbares Aufenthaltsrecht gewährt mit Aussicht auf Verstetigung bei länger anhaltender Kriegsdauer.

Die richtige Reaktion

Die Analogien sind gewollt. Die Schweizer Lösung soll möglichst gleichwertig sein mit jener der EU, ist das erklärte Ziel des Bundesrates. Die Folge: Statt den S-Status so restriktiv umzusetzen, wie er vor bald 25 Jahren im Gesetz angelegt wurde, schöpft der Bundesrat nun seine rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten bereitwillig aus – ungewöhnlich pragmatisch und bemerkenswert kulant. Den Geflüchteten aus der Ukraine ist umgehend die Einreise auch ohne die sonst notwendigen Identitätsdokumente erlaubt. Sie dürfen bei Privaten wohnen, sofort arbeiten und ihre Kinder einschulen, unbeschränkt reisen. Obwohl Integrationsmassnahmen gesetzlich nicht vorgesehen sind, spricht der Bund später zusätzliche Gelder für Sprachkurse, damit die Kriegsflüchtlinge hierzulande rasch Fuss fassen können.
Dieser grosszügige Umgang mit den Schutzbedürftigen aus der Ukraine ist völlig richtig und zeigt, was möglich ist, wenn der politische Wille vorhanden ist. Die beschlossenen Rechte, die mit dem Status S einhergehen, sind weitherum unbestritten. Selbst das längst widerlegte, sonst aber stets gern bemühte Argument vom angeblichen Pull-Faktor, mit dem auch kleinste Statusverbesserungen für andere Flüchtlingsgruppen üblicherweise politisch abgeschmettert werden, bleibt jetzt in der Schublade. Einhellig herrscht nach Ausbruch des Ukrainekrieges die Meinung: Diese Menschen brauchen Schutz und eine Perspektive in der Schweiz. Breite Unterstützung dafür kommt auch von anderen Flüchtlingsgruppen. Kein Wort des Neides oder der Missgunst ist von ihnen zu hören – nur die berechtigte Frage: «Warum ist all das für uns nicht möglich?»

Der Elefant im Raum

Das ist denn auch der Elefant im Raum: die Ungleichbehandlung von Geflüchteten unterschiedlicher Herkunft, die mit der Ausgestaltung des Status S offensichtlich wird. Davon betroffen sind vorab Kriegs- und Gewaltvertriebene aus anderen Herkunftsländern als der Ukraine – etwa Syrien, Afghanistan, Jemen, Somalia. Bei ihnen wird der S-Status nicht angewendet, weil sie aufgrund der langen und lebensgefährlichen Fluchtwege gar nicht gleichzeitig in so kurzer Zeit und in so grosser Zahl in der Schweiz ankommen können, wie es dafür nötig wäre. Zudem kommen sie aus komplexen Konfliktsituationen und haben teilweise individuelle Fluchtgründe, die zu prüfen sind. Sie absolvieren daher richtigerweise ein Asylverfahren, die allermeisten werden aber wegen der hohen Anforderungen an die Glaubhaftmachung zielgerichteter Verfolgung nicht als Flüchtlinge anerkannt. Für sie sieht das Gesetz stattdessen die vorläufige Aufnahme mit dem Ausweis F vor. Problematisch ist, was daraus für ihren Aufenthalt in der Schweiz folgt: Trotz gleicher Voraussetzungen und identischem Schutzbedarf wie bei den Kriegsvertriebenen aus der Ukraine werden vorläufig Aufgenommene statusrechtlich ungleich behandelt.

Nehmen wir das Beispiel Syrien: Waren die Menschen, die dort 2015 vor russischen Luftangriffen und Bomben flohen und in der Schweiz Schutz suchten, nicht genauso Opfer von Putins aggressiver Machtpolitik wie jetzt die Ukrainerinnen und Ukrainer? Dennoch haben sie als vorläufig aufgenommene Kriegsvertriebene bis heute nicht die gleichen Rechte wie die Geflüchteten aus der Ukraine. Warum? Wie ist zu rechtfertigen, dass vorläufig aufgenommene Syrerinnen und Syrer drei Jahre warten und strenge Auflagen erfüllen müssen (Sozialhilfeunabhängigkeit, genügend grosse Wohnung, Sprachkenntnisse der nachzuziehenden Person), bis sie nur ein Gesuch um Familiennachzug stellen dürfen? Derweil hier für Ukrainerinnen und Ukrainer mit Status S weder Wartefrist noch finanzielle Bedingungen bestehen. Oder weshalb sollten vorläufig aufgenommene Afghaninnen und Afghanen kein Bedürfnis haben, ihre Verwandten in Europa zu besuchen? Während dies für Geflüchtete aus der Ukraine umgehend als selbstverständlich anerkannt wurde, werden vorläufig Aufgenommenen Reisen in Europa nur dann bewilligt, wenn ihre Verwandten schwer krank oder bereits verstorben sind.

Status S: Rückkehr-, aber auch bedürfnisorientiert

Im funktionierenden Rechtsstaat gilt Rechtsgleichheit: Was den einen völlig zurecht gewährt wird, darf den andern nicht verwehrt bleiben. Aber dem ist hier nicht so. Die Rechtsungleichheit von Vertriebenen unterschiedlicher Herkunft ist ein Fakt – und Ausdruck einer strukturellen und institutionellen Diskriminierung von vorläufig Aufgenommenen, die sich gerade an diesem unterschiedlichen Umgang mit der Reisefreiheit der Betroffenen am augenfälligsten zeigt: Noch in der Wintersession 2021 beschloss das Parlament mit Unterstützung des Bundesrates sowohl für den Status F wie für den Status S ein rigoroses Verbot, das selbst Reisen ins benachbarte Ausland grundsätzlich untersagte. Keine drei Monate später aber hob der Bundesrat dieses generelle Reiseverbot einseitig wieder auf, indem er die massgebliche Verordnung kurzerhand um einen Absatz ergänzte, wonach Begünstigte des S-Status aus der Ukraine nun explizit «ohne Reisebewilligung ins Ausland reisen und in die Schweiz zurückkehren» können (Art. 9 Abs. 8 RDV). De facto ist dies nichts anderes als das politische Eingeständnis des Bundesrats, dass die massive Beschneidung des Grundrechts auf Bewegungsfreiheit zu weit geht – nur gilt das eben offensichtlich nicht für alle Betroffenen gleichermassen.

Die ungerechtfertigte Ungleichbehandlung ist die Konsequenz unterschiedlicher Ansätze, die beim Status S und beim Status F zum Tragen kommen. Der S-Status ist im Gesetz explizit als eigenständiger Schutzstatus konzipiert. Dabei erklärt der Bundesrat eine bestimmte Personengruppe für die Dauer einer schweren Gefährdung – insbesondere während eines Krieges, Bürgerkrieges oder in Situationen allgemeiner Gewalt – zu «Schutzbedürftigen», denen kollektiv Schutz gewährt wird. Der S-Status ist damit zwar grundsätzlich befristet und rückkehrorientiert. Er ist punkto Gestaltung des Aufenthalts der Kriegsvertriebenen aus der Ukraine aber dennoch an deren Bedürfnissen ausgerichtet und gibt ihnen ein sofortiges Aufenthaltsrecht und nach fünf Jahren auch ein Bleiberecht (Aufenthaltsbewilligung B); nach weiteren fünf Jahren können die Kantone dann eine Niederlassungsbewilligung erteilen.

Status F: Dauerprovisorium, das mehr verhindert als ermöglicht

Der F-Status hingegen ist kein Schutzstatus, noch nicht einmal ein selbstständiger aufenthaltsrechtlicher Status. Er ist vielmehr als provisorische bürokratische Übergangsregelung konzipiert: Als Ersatzmassnahme für eine nicht durchführbare Wegweisung nach einem negativen Asylentscheid – der Wegweisungsvollzug wird dann zugunsten der vorläufigen Aufnahme lediglich ausgesetzt. Sinn und Geist sind dabei im Grunde noch dieselben wie bei der ausländerrechtlichen Internierung, der früheren Ersatzmassnahme, auf der die in den 1980er-Jahren geschaffene vorläufige Aufnahme historisch gründet. Denn damals wie heute ist nicht die Schutzbedürftigkeit der Betroffenen ausschlaggebend für den Umgang mit ihnen, sondern deren nicht vollziehbare Wegweisung. Kriegs- und Gewaltvertriebene mit dem F-Ausweis werden in der Statistik denn auch als abgelehnte Asylsuchende erfasst – was fälschlicherweise oft zur Annahme eines missbräuchlichen Aufenthalts in der Schweiz führt.

Das Potenzial zur Diskriminierung ist also schon im ursprünglichen Konzept der vorläufigen Aufnahme angelegt, welches das politische Denken wie das gesetzgeberische Handeln fatalerweise bis heute prägt. Die sinnvolle Ausgestaltung des Status S macht das deutlicher denn je: Anders als die Geflüchteten aus der Ukraine sind vorläufig aufgenommene Kriegsvertriebene hierzulande bestenfalls geduldet, ihre Bedürfnisse während des Aufenthalts in der Schweiz jedenfalls nicht prioritär, weshalb ihnen nur eingeschränkte Statusrechte gewährt werden. Anspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung haben sie nicht – und damit auch keine sichere Bleibeperspektive. Trotz erfahrungsgemäss längerfristigem Aufenthalt in der Schweiz verbleiben sie so im Dauerprovisorium, wodurch ihre Integration und Teilhabe massgeblich erschwert, Selbständigkeit behindert und Sozialhilfeabhängigkeit begünstigt wird. Der Politik ist das längst bewusst, weshalb sie etwa vorläufig Aufgenommene paradoxerweise trotz unzureichender Statusrechte explizit zu einer Zielgruppe der Integrationsagenda erklärte. Seit 20 Jahren wird am Status F gewerkelt, um dessen gravierende Folgen für alle Beteiligten zu mildern. Der Erfolg: ungenügend. Punktuelle Verbesserungen wechseln sich regelmässig ab mit massiven Verschärfungen – eine Sackgasse.

Die Erfahrungen für den Neuanfang nutzen

Eine Umkehr ist nötig. Als Anstoss dazu können uns jetzt die Erfahrungen und die breite Akzeptanz der progressiven Aufnahme und Unterstützung der Geflüchteten aus der Ukraine dienen. Es geht dabei nicht darum, das ganze Asylsystem infrage zu stellen, wie mitunter behauptet wird. Es geht darum, dem hohen Gut der Rechtsgleichheit als einem Grundpfeiler des Gemeinwesens Achtung zu verschaffen. Die Ungleichbehandlung von Vertriebenen unterschiedlicher Herkunft ist nicht haltbar, lässt sich aber nicht einfach mit weiteren Reformen der vorläufigen Aufnahme beseitigen. Diese ist ein Relikt aus dem letzten Jahrhundert, überholt in Ausrichtung und Ausgestaltung – ein negatives Unikum im europäischen Kontext, wo mit dem subsidiären Schutz stattdessen grundsätzlich dieselben Rechte gewährt werden wie für anerkannte Flüchtlinge. Statt also hierzulande weiter an der komplizierten Differenzierung beim Umfang gewährter Rechte je nach Bewilligung festzuhalten: Warum nach der Harmonisierung beim Status S jetzt nicht auch hier eine Schweizer Lösung schaffen, die möglichst gleichwertig ist mit jener der EU?

Denn woher Vertriebene auch immer kommen – ihr Leidensdruck und Schutzbedarf sind vergleichbar. Einmal in der Schweiz angekommen, brauchen Geflüchtete bei uns nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern gleiche Rechte: rascher, bedingungsloser Familiennachzug; Reisefreiheit in einem Europa offener Binnengrenzen; ausreichende finanzielle Unterstützung; Zugang zu Arbeit und Integrationsmassnahmen. Das muss für alle Geflüchteten gleichermassen gelten, sobald ihr Schutzbedarf anerkannt ist und solange sie nicht in ihre Heimat zurückkehren können. Dazu braucht es einen Neuanfang: Einen echten Schutzstatus, der die vorläufige Aufnahme ablöst und Rechtsgleichheit schafft.