TANGRAM 46

«Rassismus an sich ist strukturell»

Autorin

Denise Efionayi-Mäder ist Soziologin, Projektleiterin und Vizedirektorin am Schweizerischen Forum für Migrations - und Bevölkerungsstudien SFM der Universität Neuchâtel. denise.efionayi@unine.ch

Das Interview führte Samuel Jordan

Im Auftrag der Fachstelle für Rassismusbekämpfung führt das Schweizerische Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien (SFM) der Universität Neuchâtel eine Studie über strukturellen Rassismus durch. Ziel ist es, den Forschungsstand und die Erscheinungsformen dieses Phänomens in der Schweiz abzubilden. Gespräch mit Denise Efionayi-Mäder, die die Studie leitet.

Denise Efionayi-Maeder, Sie leiten eine Kollektivstudie der Universität Neuchâtel über strukturellen Rassismus in der Schweiz. Wozu dient diese Studie und warum kommt sie gerade jetzt?
Denise Efionayi-Maeder: Seit zwei, drei Jahren wird das Thema Rassismus breiter diskutiert. Viel zu lange wurde diese Problematik vertraulich und nur in interessierten Kreisen thematisiert. Die «Black Lives Matter»-Bewegung hat sie wieder in den Vordergrund gerückt, in der Schweiz wie anderswo. Rassismus an sich ist strukturell. Daher ist es wichtig, die Begrifflichkeit klar zu definieren und eine Bestandsaufnahme zu machen. Für diese Studie, die wir zusammen mit Leonie Mugglin, Didier Ruedin und Gianni D'Amato durchgeführt haben, haben wir 25 Fachleute aus Forschung und Praxis befragt und über 300 Publikationen erfasst, die sich mehr oder – häufiger allerdings – weniger gezielt mit Fragen des Rassismus in der Schweiz befassen.

Hinkt die Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern in diesem Bereich hinterher?
Ja, die Schweiz ist diesbezüglich im Rückstand. Die Fachliteratur ist eher spärlich. Die öffentliche Debatte und die Rassismusforschung ist in Ländern wie Deutschland, Österreich, Frankreich oder auch Grossbritannien und den Niederlanden viel weiter fortgeschritten. Das bestätigten die befragten Fachleute einhellig und ergab sich auch aus einer breiten und in kurzer Zeit durchgeführten Bestandsaufnahme der verfügbaren Quellen.

Der Begriff «struktureller Rassismus» ist relativ neu und wird in der Schweiz kaum verstanden. Wie liesse er sich einfach und verständlich erklären?
Eine allgemein akzeptierte Definition fehlt ja. Darum schlage ich die folgende vor: Struktureller Rassismus bezeichnet jede Form von Benachteiligung aufgrund von vermeintlicher «Rasse», Ethnie, Herkunft, Religion oder sozialer Gruppe, die von einem zugrunde liegenden Herrschaftssystem gestützt wird. Man könnte hinzufügen, dass es sich um einen Mechanismus handelt, der Ungleichheiten fördert oder sie (re)produziert.

Sie sprechen von strukturellem oder systemischem Rassismus – sind die beiden Bezeichnungen austauschbar?
Die beiden Begriffe werden in der englisch- und in der französischsprachigen Welt oft synonym gebraucht. Im deutschsprachigen Raum wird der Begriff «systemischer Rassismus» hingegen nicht verwendet. Im Englischen und im Französischen unterscheiden sich die beiden Begriffe manchmal in dem Sinne, dass sich «struktureller Rassismus» eher auf das historische Erbe bezieht, während sich «systemischer Rassismus» auf die Institutionen als Ganzes bezieht.

Können Sie aufgrund Ihrer Studie sagen, dass es in der Schweiz tatsächlich einen strukturellen Rassismus gibt?
Ja, zweifellos. Wir sprechen hier jedoch nicht von institutionalisiertem Rassismus. Es lässt sich eine Parallele zum Sexismus ziehen. Niemand kann behaupten, die Schweiz als Ganzes sei sexistisch. Aber wer könnte bestreiten, dass der Sexismus die Schweiz durchdringt? Wie der Sexismus ist auch der Rassismus grundsätzlich strukturell, da er potenziell mit sämtlichen sozialen Prozessen verbunden ist.

Warum sperrt man sich so sehr gegen den Begriff «struktureller Rassismus»?
Fällt das Adjektiv «strukturell», denken die Leute, dass es auf allen Ebenen, Stufen und zu allen Zeiten einen rassistischen Determinismus gibt, was in der Fachliteratur niemand behauptet.

Woher kommt der strukturelle Rassismus in der Schweiz?
Unser struktureller Rassismus besteht, seit die globalisierte Schweiz existiert und wirtschaftlich mit dem Rest der Welt verbunden ist. Zwar besass unser Land selbst keine Kolonien, es hat sich aber aktiv am Kolonialismus mit all seinen Folgen beteiligt. Es gab auch Wissenschaftler wie Louis Agassiz, deren rassistische Theorien das Denken der Menschen stark beeinflussten. Darüber hinaus hat die Schweiz eigene Formen von Rassismus entwickelt, insbesondere gegenüber Juden, Jenischen, Roma. Das gilt auch für Menschen mit Migrationshintergrund im Allgemeinen, die im Laufe der Jahrhunderte in erster Linie weitgehend als Arbeitskräfte betrachtet wurden.

Kann man in Anbetracht des kolonialen Erbes der Schweiz unseren strukturellen Rassismus mit demjenigen der ehemaligen Kolonialmächte vergleichen?
Rassismus nimmt in allen Ländern unterschiedliche Formen an, da er sich jeweils an Kontext und Gesellschaft anpasst. Das heisst auch, dass es nicht immer sinnvoll ist, beispielsweise die Schweiz und die USA zu vergleichen. Insgesamt betrachtet und abgesehen von der Art und Weise, wie Rassismus thematisiert oder benannt wird, sind Rassismus und rassistische Mechanismen überall ähnlich. Auch zu erwähnen ist vielleicht, dass die Schweiz im Migrant Integration Policy Index (MIPEX) regelmässig schlecht abschneidet, wenn es um die Bekämpfung von Diskriminierung geht. Die Schweiz wird dort wegen ihrer in diesem Bereich wenig entwickelten Gesetzgebung immer wieder kritisiert.

Ist der heutige strukturelle Rassismus in der Schweiz bewusst oder gar beabsichtigt?
Zu behaupten, strukturelle Ausdrucksformen des Rassismus, wie sie etwa in der Schweiz bekannt sind, würden bewusst eingesetzt, ist falsch, aber sie werden verharmlost. Denn für viele Menschen der Mehrheitsbevölkerung stellen rassistisch bedingte Beeinträchtigungen weisse Flecken in ihren Vorstellungen von sozialen Beziehungen dar. Sicher gibt es Menschen, die rassistische Überzeugungen an den Tag legen und der Meinung sind, dass bestimmte in- oder ausländische Minderheiten keinen Platz in der Schweiz hätten. Und es stimmt, dass wir alle rassistische Reflexe haben können. Aber zu behaupten, dass es eine absichtlich/bewusst in die Prozesse des täglichen Lebens eingeschriebene rassistische Systematik gibt, wäre eine grobe Übertreibung.

In welchen Lebensbereichen drückt sich der strukturelle Rassismus in der Schweiz besonders deutlich aus?
Wenig überraschend sind die Bereiche Arbeit, Wohnen und Bildung besonders betroffen. Dabei ist es so wichtig, dass jede und jeder, um ein würdiges Leben zu führen, Geld verdienen, wohnen und sich weiterbilden können muss. Unser Hauptproblem besteht darin, dass es noch zu wenige flächendeckende Daten gibt, um diese Phänomene einzuschätzen und einzuordnen.

Wird man in Genf, Zürich oder Lugano mit demselben strukturellen Rassismus konfrontiert?
Ich stelle keine nennenswerten Unterschiede zwischen den Sprachregionen fest. Unterschiede sehe ich aber bei den Debatten rund um das Thema. So hatte beispielsweise die «Black Lives Matter»-Bewegung laut Fachleuten in der Deutschschweiz einen grösseren und nachhaltigeren Einfluss. Die Bevölkerung in der französischsprachigen Schweiz wiederum ist insgesamt jünger und ist stärker durch Migration geprägt als in anderen Regionen, was sich positiv auf das Verständnis des Phänomens auswirken kann, wie Umfragen zeigen.

Sie sagen es: Eine der Folgen von strukturellem Rassismus ist die Beeinträchtigung der «Chancengerechtigkeit» von rassifizierten Minderheiten gegenüber der Mehrheit. Welche Minderheiten gibt es in der Schweiz und welche sind am stärksten betroffen?
Unter anderem die jüdischen, muslimischen, Schwarzen, jenischen, Roma- und Sinti-Minderheiten. Die Studien geben zum jetzigen Zeitpunkt keinen Aufschluss darüber, welche Minderheiten tatsächlich am stärksten von strukturellem Rassismus betroffen sind. Hingegen steht fest, dass struktureller Rassismus wegen unterschiedlicher vorherrschender Stereotype eine Schwarze Person anders betrifft als eine jüdische.

Jenische und Sinti/Manouches sind in der Schweiz anerkannte Minderheiten. Sind sie heute noch Opfer von strukturellem Rassismus?
Nicht alle Beeinträchtigungen dieser Minderheit sind behoben. Als Erstes zu nennen ist die Problematik der Standplätze, von denen es immer noch zu wenige gibt, und das rassistische Profiling. Die Wunden, die die Kindswegnahmen aus den jenischen Familien im 20. Jahrhundert hinterlassen haben, sind noch nicht verheilt. Noch heute fällt es der Schweizer Gesellschaft schwer, die Mitschuld der Behörden und der Justiz an diesem nationalen Drama anzuerkennen.

Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie aus Ihrer Forschung?
Das Fazit ist nicht revolutionär und besteht hauptsächlich darin, dass es nicht genügend Studien gibt, weil das Thema unbequem ist und spaltet. Rassismus darf kein Tabu mehr sein. Das Thema sollte unaufgeregt und freiwillig angegangen werden. Wir empfehlen das Durchführen systematischer, transdisziplinärer Studien sowohl zu statistischen und quantitativen als auch zu qualitativen Aspekten des Rassismus. Spezielle Lehrstühle könnten eingerichtet werden, was in anderen Ländern bereits gemacht wurde. Oder warum nicht ein nationales Forschungsprogramm zum Thema Rassismus lancieren?

Wenn Sie einen Zauberstab hätten, um den strukturellen Rassismus zu beseitigen, was würden Sie tun?
Jede und jeder muss sich darüber im Klaren sein, dass Rassismus ein Problem ist, das uns alle angeht, unabhängig von der eigenen Herkunft. Rassismus ist ein Problem, das – in allen Lebensbereichen – zu anhaltendem Stress führen und die Gesundheit der Betroffenen beeinträchtigen kann. Ich würde meinen Zauberstab nehmen und mir wünschen, dass jedes Individuum der Mehrheitsgesellschaft einen Monat lang in die Haut einer rassifizierten Person schlüpft. Die Menschen würden die Erfahrung von Rassismus teilen, was die Suche nach Lösungen erleichtern dürfte.

Welche Wege gibt es, um strukturellen Rassismus zu bekämpfen?
Die am stärksten Betroffenen müssen mehr Gehör erhalten und in die Bekämpfung dieses Phänomens einbezogen werden. Davon ausgehend geht es weniger darum, sich auf die Absichten der Diskriminierenden zu konzentrieren, sondern vielmehr die Erfahrungen der Direktbetroffenen sowie die damit verbundenen Nachteile zu berücksichtigen. Auch bestimmte Diskurse und gängige Praktiken müssten kritisch betrachtet werden.