Autor
Tarek Naguib ist Jurist und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Sozialrecht der ZHAW School of Management and LAW. tarek.naguib@zhaw.ch
Das Interview führte Theodora Peter
Aus Sicht des Juristen und Antidiskriminierungsexperten Tarek Naguib reichen die heutigen Regelungen nicht aus, um strukturellen Rassismus zu bekämpfen. Er ist überzeugt, dass mit der Schaffung eines umfassenden Rahmengesetzes zur Bekämpfung struktureller Diskriminierungen grundlegendere Debatten angestossen und innovativere Lösungen gefunden werden als bis anhin.
Lässt sich struktureller Rassismus überhaupt mit dem Recht erfassen? Inwiefern?
Tarek Naguib: Dazu müssen wir zuerst klären, was strukturell aus rechtlicher Perspektive heisst. Im Kern geht es um Wirkungen und Effekte von Gesetzen und ihrer Anwendung, deren Ursachen nicht in erster Linie bei individuellen-konkreten Handlungen und Unterlassungen liegen, sondern in übergeordneten gesellschaftlichen Zusammenhängen zu suchen sind. Mit Blick auf das Phänomen des Rassismus geht es um rassistische Auswirkungen, die auf historisch gewachsenen Rassismen zurückzuführen sind und durch das Recht und seine Um- und Durchsetzung (mit)unterstützt werden. Dies manifestiert sich durch staatliche Praktiken und Kulturen, welche andauernd Diskriminierungen verursachen, diese mitgetragen oder sie nicht angemessen unterbinden.
Das Migrationsrecht beispielsweise spiegelt auch eine Geschichte des Rassismus wider, die sich wiederum in der Praxis der zuständigen Behörden manifestiert. Der Zugang zur Schweizer Gesellschaft wird selektiv über Aufenthaltstitel (C, B, F, S usw.) ermöglicht und behindert, wobei dies nur «scheinbar» nach Kriterien erfolgt, die frei von Rassismus sind. Wenn wir genauer hinschauen, werden über die Setzung und Anwendung des Migrationsrechts historische wie geltungszeitliche Vorstellungen von Fremdheit und Inferiorität mittransportiert und institutionalisiert. Menschen aus Staaten der EU und bis zu einem gewissen Grad aus allen Staaten des sogenannten Globalen Nordens haben mehr Möglichkeiten, in der Schweiz ein Aufenthaltsrecht oder den Schweizer Pass und der damit verbundenen Aufenthaltssicherheit, Bewegungsfreiheit und Zugangsmöglichkeiten zu staatlichen Leistungen zu erhalten. Über Ermessensspielräume, die den Behörden sowohl bei der Erhebung von Fakten und der juristischen Beurteilung zukommen, werden auch problematische, historisch länger zurückreichende Vorstellungen von Fremdheit und begrenzter kultureller «Anpassungsfähigkeit» institutionalisiert. Zudem kann das Aufenthaltsrecht jederzeit widerrufen oder zurückgestuft werden, insbesondere bei Arbeitslosigkeit, Straffälligkeit oder Sozialhilfebezug. Auf diese Weise wird innerhalb der «fremden» Wohnbevölkerung im Zusammenwirken von sozioökonomischen und rassistischen Kriterien hierarchisiert.
Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, welche Antwort unser Recht geben kann, um Rassismus zu verhindern, zu bekämpfen und zu sanktionieren?
Dazu gibt es bereits heute gesetzliche Bestimmungen. Ich denke beispielsweise an das verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbot und die Verordnung über Menschenrechts- und Antirassismusprojekte, die den Bund dazu verpflichten, Projekte zur Sensibilisierung und Prävention gegen Rassismus durchzuführen. Darüber hinaus steht das strafrechtliche Verbot der Diskriminierung und Aufruf zu Hass sowie eine Reihe von verwaltungs- und privatrechtlichen Regelungen zur Verfügung, die dazu beitragen können, dass sich Menschen gegen Rassismus zur Wehr setzen und Projekte gegen Rassismus angestossen werden. Hierzu gibt es mittlerweile genügend Übersichtsstudien.
Reichen die heutigen Regelungen aus?
Nein. In einem ersten Schritt wäre es wichtig, strukturelle Diskriminierung in einem Rahmengesetz zu definieren, damit eine breite Auseinandersetzung innerhalb des Rechtsstaates und der Gesellschaft über die Hintergründe des Rassismus stattfinden kann. Bislang verlief der Diskurs so, Rassismus sei ein individuelles Problem und im besten Falle auf Einzelfälle von Menschen zurückzuführen. Nach wie vor wird Diskriminierung nicht als gesellschaftliches Problem und als Verantwortung politischer und operativer Entscheidungsträger/innen wahrgenommen. Das könnte sich ändern, zum Beispiel: Wenn im Rahmen eines Antidiskriminierungsgesetzes vom strukturellen Rassismus die Rede ist, müssten Polizeibehörden, Sicherheitspolitiker/innen und die Justiz ernsthaft darüber nachdenken, welche Änderungen im Polizeirecht, in der Aus- und Weiterbildung, in den Dienstanweisungen, bei der Personalrekrutierung, im Beschwerdemanagement und insbesondere im Controlling erforderlich sind.
Gibt es auch Grenzen dessen, was das Recht leisten kann?
Es gibt einige, ich möchte mich hier auf die Grundlegende beschränken. Sie liegt in der Verfassungsordnung selbst, die unser Rechtssystem als Nationalstaat konzipiert. Eine nationale Rechtsordnung unterstützt die bereits beschriebene Selektion nach «Schweizer» und «Ausländern» und hierarchisiert unter diesen nach ökonomischen und kulturellen Interessen und damit auch rassistischen Vorstellungen in der Gesellschaft. Um das zu ändern, müssten wir viel grundlegender über unser Verständnis einer nationalstaatlichen Sicherheits-, Wohlstands- und Bürgerrechtspolitik nachdenken, bei der es historisch und aktuell praktisch überwiegend darum geht, das Bedürfnis nach Identität, Sicherheit und Wohlstand mittels polizei- (und jüngst wieder militärrechtlicher) Massnahmen gegen «Fremde» abzusichern. Viel effektiver für eine Politik gegen strukturellen Rassismus und grundlegende Ungleichheiten wäre es doch, das Geld in Zukunft in eine Infrastruktur der Solidarität zu investieren, wie es die Soziologin Sarah Schilliger beschreibt. Es geht in meinen eigenen Worten und in Anlehnung an das Institut Neue Schweiz INES auch darum, eine Vorstellung zu fördern, die die Schweiz als Land des guten Lebens und der globalen Verantwortung beschreibt und zwar für alle, die hier sind und noch kommen werden. Und auch hier könnte trotz der Grenzen des Rechts ein Gesetz, welches strukturellen Rassismus – oder viel breiter strukturelle Diskriminierung – in den Mittelpunkt rückt, seinen Beitrag leisten. Ab dem Zeitpunkt der Einführung von Rechtsprogrammen nämlich werden nicht nur Rechte und Pflichten verankert und gesellschaftliche Entwicklungen nachvollzogen, sondern vielmehr innovative gesellschaftliche Diskurse gefördert und mit angestossen, die Menschen breitenwirksam im Guten mobilisieren kann. Die grundlegenden Probleme des Rassismus jenseits von uns einzelnen Individuen würden viel präsenter und bekam dadurch eine stärkere Bedeutung.
Wie wirken sich die Machtverhältnisse in einer Gesellschaft auf die Rechtsetzung und Rechtsprechung aus?
Wie bereits angedeutet, war Rassismus bisher keine präsente Kategorie im Schweizer Recht. Wir verfügen weder über ein Antidiskriminierungsgesetz noch ist im Bildungs-, Sozial- oder Sicherheitsrecht und anderen Rechtsgebieten von Rassismus die Rede. Insofern hat sich das in der Bundesverfassung verankerte Diskriminierungsverbot kaum auf die gelebte Geschichte des Schweizer Rechtes ausgewirkt. Die konkrete und materielle Folge davon ist, dass auch die Verwaltung und vor allem die Justiz, welche die Gesetze anwendet, keine hohe Sensibilität für das Thema aufweist. So gibt es, um nur ein Beispiel zu nennen, einzig ein paar wenige Verfahren, die den Rassismus bei Polizeikontrollen und -gewalt thematisieren – wie erst jüngst die Fälle von Mohamed Wa Baile, Wilson A. oder Mike Ben Peter. Dabei wurde zum ersten Mal in der Schweizer Geschichte des Polizeirechts derart offensiv die Verletzung des verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbotes eingeklagt. Was in diesen Fällen typisch ist: Die Richter/innen befassen sich gar nicht mit der eigenen Rechtsprechung zum Diskriminierungsverbot. Das heisst, die Justiz prüft nicht sauber, ob eine Diskriminierung vorliegt. Wenn der Anschein da ist, müsste gemäss allgemeiner Rechtsprechung die Polizei den vollen Gegenbeweis erbringen, dass die Kontrolle nichtdiskriminierend war. Doch der Widerstand in der Justiz, die Grundsätze des Rechts anzuwenden, bleibt gross, solange Antirassismus in der Schweizer Rechtsprechung nicht die nötige Relevanz hat. Als Rechtsdozent der ZHAW, der ich auch bin, müsste ich meinen Studierenden da die Note deutlich ungenügend erteilen, wenn sie so an Fälle herangehen würden.
Haben Sie ein weiteres Beispiel für den strukturellen Rassismus in der Justiz?
Die Spruchkörper der Gerichte und ihr Ermessenspielraum etwa spielen eine wichtige Rolle. Unter anderem am Bundesverwaltungsgericht wird die Zuteilung der Richter/innen bei Asylrekursfällen durch eine Software vorgenommen. Damit versucht man Ausgeglichenheit bei der Zusammensetzung der Gerichte zu erreichen. Zugleich gibt es die Möglichkeit, manuell einzugreifen und Anpassungen vorzunehmen, aus objektiven Gründen wie etwa die Arbeitslast der einzelnen Richter/innen. Dies kann aber auch dazu führen, dass Entscheide gar nicht, oder mehr oder weniger rassistisch ausfallen, abhängig von den jeweiligen Richtern/innen. Auch wenn jeder Richter, jede Richterin dem Gesetz verpflichtet ist, hat die Parteizugehörigkeit massive Auswirkungen und führt zu politisierten Entscheiden. Die Gefahr ist mit Blick auf die Schweizer Justiz auch deshalb vergleichsweise real, als Rassismus in der juristischen Aus- und Weiterbildung sowie in den rechtlichen Publikationen als Thema noch kaum präsent ist. Ein Gesetz, welches diese strukturellen Hintergründe des Rassismus thematisiert, könnte hier nicht nur die Sensibilität, sondern auch den Handlungsdruck auf die Justiz und sämtliche Institutionen des Rechtsstaats erhöhen, wirksame Instrumente und Prozesse zur Prävention rassistischer Diskriminierungen zu entwickeln.
Welche Veränderungen wären aus Ihrer Sicht auch noch nötig, um strukturellen Rassismus zu bekämpfen?
Der Beseitigung struktureller Ungleichheiten sind immer auch zivilgesellschaftliche Kämpfe vorausgegangen, das zeigte sich bei der Frauenbewegung wie nun auch im Kampf gegen Rassismus. Daraus entstehen auch Gesetze. Diese verhelfen nicht nur zu neuen Möglichkeiten, sich real gegen Unrecht zu wehren, sondern haben auch einen Effekt auf die Gesellschaft. So hatte zum Beispiel das Behindertengleichstellungsgesetz einem massiven Impact auf das behindertengerechte Bauen und damit auch auf die Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen im öffentlichen Raum. Nicht, dass es vorher keine Vorschriften dazu gegeben hätte, aber es wurde nun expliziter. Dieser Effekt zeigt sich weltweit bei allen Gesetzen gegen Rassismus. Dort, wo ein solches Gesetz entstanden ist, gab dies immer einen massiven Impuls in die Gesellschaft, die breite Bevölkerung und die Medien. Es kommt zu mehr Rechtsverfahren, es wird mehr darüber nachgedacht.
Gibt es dazu Vorbilder in anderen Ländern?
Gute Beispiele gibt es in England, wo in den 1950-er und 1960er-Jahren der Race Relations Acts erkämpft wurden. Durch gesetzliche Fortschritte wurden nicht nur wirksame Beschwerden ermöglicht, sondern auch Institutionen und Verwaltungen zu Sensibilisierungen verpflichtet – inklusive Monitoring und Berichterstattungspflicht. Der Equality Act 2010 führte schliesslich weitere Antidiskriminierungs-Acts zusammen. Ambivalent an gesetzgeberischen Errungenschaften ist, und das zeigt sich weltweit in gesetzgeberischen Errungenschaften gegen Diskriminierung, dass dort, wo Gesetze erkämpft wurden, es in der Folge zu Ermüdungen in der Zivilgesellschaft kam. Das ist verständlich und zugleich ist es wichtig, ab dem Inkrafttreten eines Gesetzes dieses auch mittels Beschwerden systematisch und strategisch vor den Gerichten zu mobilisieren.