TANGRAM 46

Strukturelle Diskriminierung: eine Bestandesaufnahme aus gewerkschaftlicher Sicht

Autoren

Marie Saulnier Bloch ist nationale Fachsekretärin Migration bei der Gewerkschaft Unia. marie.saulnierbloch@unia.ch

Hilmi Gashi ist nationaler Leiter IG Migration bei der Gewerkschaft Unia. Er ist zudem Mitglied der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus. hilmi.gashi@unia.ch

Der gewerkschaftliche Blick auf Diskriminierung befasst sich mit den Verflechtungen der Mechanismen von institutioneller und struktureller Diskriminierung, um konkrete Wege zu deren Vorbeugung und Bekämpfung hin zu einer gerechteren Gesellschaft aufzuzeigen.

Bestimmte Personen werden von der Gleichbehandlung und Chancengleichheit im täglichen Leben, in der Politik und am Arbeitsplatz ausgeschlossen, weil sie angeblich einer bestimmten Kategorie angehören. Die gesellschaftliche Organisation der Schweiz begünstigt die Entstehung dieser Zweiklassengruppe vor aller Augen, und dies umso leichter, als die Institutionen aufgrund ihrer Normen und Praktiken systematisch einem Teil der Bevölkerung, den sie als Minderheit betrachten und als solche festschreiben, ungünstigere Bedingungen auferlegen. Strukturelle und institutionelle direkte und indirekte Diskriminierungen greifen ineinander und behindern die volle Teilhabe an der Gesellschaft und die Anerkennung der Würde und der Rechte jeder und jedes Einzelnen. Im Mittelpunkt stehen dabei die sozialen, politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen starren Strukturen und Herrschaftsmechanismen. Sie schaffen einen polarisierten Kontext, in dem klassistische, fremdenfeindliche, rassistische, sexistische, homophobe, transphobe und validistische Äusserungen auch im Jahr 2022 fortbestehen. Nach einigen Feststellungen zum Thema stellen wir mehrere Beispiele konkreter gewerkschaftlicher Forderungen vor, die dringendst umzusetzen sind.

Institutionelle Diskriminierungen in der Praxis

Verschiedene Personengruppen haben aufgrund offener, aber vor allem versteckter Diskriminierungssysteme keinen Zugang zu öffentlichen Ressourcen und Angeboten des privaten Marktes. Dies gilt vor allem für die Bereiche Beschäftigung, Ausbildung, Wohnen, Justiz und Sozialhilfe, die mit institutionellen Regeln und Praktiken organisiert sind. Auch wenn klar ist, dass Rassismus und jede Form von Stigmatisierung, die insbesondere auf der Herkunft, der Nationalität, der Geschlechtsidentität, der sexuellen Orientierung oder dem Aussehen beruht, keine Privatmeinung ist und die Betroffenen und ihr Umfeld schwer beeinträchtigt, bestrafen Normen wie Artikel 261bis des Strafgesetzbuches (StGB) oder Artikel 171c des Militärstrafgesetzes (MStG) doch nicht alle problematischen Verhaltensweisen, und die Beweislast macht es sehr schwierig, die Opfer angemessen zu schützen und den erlittenen Schaden wiedergutzumachen. Viele Fachleute und Akteurinnen und Akteure aus der Praxis, darunter auch die Gewerkschaften, prangern regelmässig materielle Mängel und die nur teilweise Anwendung der Antidiskriminierungsnormen an .

So sind beispielsweise Staatsangehörige von Nicht-EU-Ländern besonders häufig von institutioneller Diskriminierung betroffen , es sei denn, sie bekleiden sehr hohe Ämter oder sind besonders finanzstark. Wir stellen fest, wie sehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ohne Schweizer Pass, vor allem wenn sie aus sogenannten Drittstaaten stammen, mit zahlreichen bürokratischen und finanziellen Hürden konfrontiert sind, oder sie sind der Rechte, die ihre Kolleginnen und Nachbarn geniessen, ganz beraubt. Die Gesetzgebung – das Ausländer- und Integrationsgesetz, das Abkommen über den freien Personenverkehr, das Asylgesetz – wird immer strenger. Darüber hinaus sind die Einbürgerungsprozesse voller Hindernissen und die politischen Rechte von in der Schweiz lebenden Ausländerinnen und Ausländern sind nur in einer Minderheit der Kantone und Gemeinden anerkannt. Viele Menschen, die in der Schweiz leben und arbeiten, manche seit ihrer Geburt, sind nur auf dem Papier Ausländer. Dennoch werden sie von der Staatsbürgerschaft ausgeschlossen, als hätten sie mehr Pflichten als Rechte. Täglich wenden sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an die gewerkschaftlichen Anlaufstellen im ganzen Land, um sich bei der Erteilung oder Verlängerung ihrer Aufenthalts- oder Arbeitsbewilligung unterstützen zu lassen. Das Risiko, eine Bewilligung zu verlieren, ist für die meisten von ihnen Realität, wenn sie aufgrund eines Unfalls oder einer Krankheit und ohne ausreichendes eigenes Einkommen auf Sozialhilfe angewiesen sind. So droht etwa einem Paar, das seit 15 Jahren in der Schweiz lebt und das seit zwei Jahren Sozialhilfe von über 50 000 Franken bezieht, die C-Bewilligung zu verlieren. Hinzu kommt, dass die Kantone und Gemeinden die Bundesgesetzgebung unterschiedlich auslegen, was gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstösst. Darüber hinaus stellen wir häufig fest, dass L-Bewilligungen (für Kurzaufenthalte) auch für nicht befristete Anstellungen ausgestellt werden, ohne dass die Betroffenen über ihre Rechte informiert würden. Es entsteht der Eindruck, als sei der Saisonarbeiterstatus in verkappter Form zurück. Mehrere Gewerkschaftsmitglieder mit F-Bewilligung (vorläufige Aufnahme, mit oder ohne Anerkennung des Flüchtlingsstatus), die auf der Flucht ums Überleben gekämpft haben, sind gezwungen, getrennt von ihren Angehörigen zu leben, da der Familiennachzug aufgrund ihres Status eingeschränkt ist. Eine Umwandlung in eine B-Bewilligung wird zudem immer wieder aufgeschoben. Es kommt nicht selten vor, dass Menschen seit zehn, zwanzig oder mehr Jahren eine «vorläufige» Aufenthaltsbewilligung haben ... Dieser Status bringt echte Schwierigkeiten mit sich, wenn es zum Beispiel darum geht, eine Wohnung zu finden, eine gute Arbeitsstelle zu bekommen, eine Versicherung abzuschliessen oder langfristige Pläne zu machen. Schliesslich leisten Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus, die sogenannten Sans Papiers, unabhängig davon, ob sie im Land geboren wurden oder hier studieren oder arbeiten, täglich ihren Beitrag zur Gesellschaft. Und doch zeichnet sich ihre Situation durch eine schwere institutionelle und soziale Benachteiligung aus, solange ihr Dossier nicht regularisiert ist.

Strukturelle und multiple Diskriminierung in der Arbeitswelt

Zu den institutionellen Diskriminierungen kommen auf sozialer und gesellschaftlicher Ebene strukturelle Diskriminierungen hinzu, die durch ungleiche Machtverhältnisse aufrechterhalten werden. Mit seinen kaum regulierten Arbeits- und Lohnbedingungen bringt der Stellen- und Beschäftigungsmarkt eine Klasse von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern hervor, die stärker als andere von ihren Arbeitgebern abhängig sind. Atypische Beschäftigungsformen wie Teilzeitarbeit, Arbeit auf Abruf, Null-Stunden-Verträge, Scheinselbstständigkeit, digitale Plattformarbeit, Kettenarbeitsverträge oder lange unbezahlte Praktika, die immer häufiger werden, gehen mit Unsicherheit, geringem Handlungsspielraum und eingeschränkter sozio-professioneller Autonomie einher. Working Poor, die keinen Zugang zu Arbeitslosengeld oder Erwerbsausfallentschädigung haben, gehören zu den besonders betroffenen Bevölkerungsgruppen, wie andere Personengruppen auch: Obdachlose, LGBTIQ*, Menschen in Gemeinschaftsunterkünften, Menschen mit Behinderungen, Menschen, die auf Nothilfe angewiesen sind, Opfer von häuslicher Gewalt und Opfer von Menschenhandel. Das Risiko nimmt zu, wenn sie rassisiert oder ausländisch sind, wenn sie einer religiösen oder kulturellen Minderheit angehören und wenn sie keinen (festen) Aufenthaltsstatus haben. Ebenso ist es für Menschen mit einem aussereuropäischen Abschluss sehr schwierig, ihre Dokumente und damit ihre Kompetenzen anerkennen zu lassen; diese Hürden machen sie noch gefährdeter für Lohndumping und prekäre Arbeitsbedingungen. Viele Lohnklassen sind nicht transparent und Karrierepläne werden durch den restriktiven Zugang zu Weiterbildungsangeboten und bezahlten Schulungen verhindert.

Eine intersektionale Analyse der Situation zeigte, dass die Diskriminierungen nicht kumulativ, sondern auf komplexe Weise miteinander verflochten sind. Was rassisierte aussereuropäische Frauen erleben, verdeutlicht den inneren Zusammenhang zwischen zahlreichen Diskriminierungen. Frauen, die insgesamt stärker von friktioneller und struktureller Arbeitslosigkeit betroffen sind, sehen sich mit einer systematischen überproportionalen Arbeitslosigkeit konfrontiert, wobei Migrantinnen am stärksten betroffen sind. Und während der Beschäftigungsgrad von Arbeitnehmerinnen systematisch niedriger ist als derjenige ihrer männlichen Kollegen, ist der Beschäftigungsgrad von Nicht-EU-Bürgerinnen fast durchweg höher als derjenige der Schweizerinnen, wenn sie Mütter von mindestens einem Kind unter fünf Jahren sind. Warum sind immer mehr Frauen gezwungen, Berufstätigkeit mit elterlichen, ehelichen und häuslichen Pflichten zu kombinieren? Frauen sind stärker als Männer von Lohndumping betroffen, und wenn sie nur ihr eigenes Einkommen haben, um die Familie zu versorgen und ihre Rechnungen zu bezahlen, sind sie gezwungen, unterbezahlte Jobs zu kumulieren, bei denen ihre Qualifikationen nicht anerkannt werden. Nicht oder nicht mehr erwerbstätige Frauen stellen den höchsten Anteil der Personen, die sich dauerhaft ohne Erwerbstätigkeit in der Schweiz aufhalten, und sie werden dann oft darauf reduziert, sich um die «Integration» ihrer Kinder zu kümmern. Frauen sind häufiger Opfer von häuslicher Gewalt und rassisierte Menschen sind Opfer des sogenannten «Racial Profiling» . Da rassisierte aussereuropäische Frauen zu verschiedenen benachteiligten Kategorien gehören, sind sie auch viel stärker darauf angewiesen, dass ihre Rechte anerkannt und gewahrt werden und dass Chancengleichheit auch tatsächlich gilt. Zwei Fälle von Verweigerung einer Anstellung aus rassistischen Gründen, die von der Gewerkschaft Unia begleitet wurden und 2006 vor Gericht kamen, veranschaulichen diese Problematik – ein Novum in diesem Bereich: Das Arbeitsgericht der Stadt Zürich verurteilte eine Reinigungsfirma, weil sie sich geweigert hatte, eine verschleierte Schweizerin mazedonischer Herkunft anzustellen («Wir stellen keine Kopftücher ein», hatte der Arbeitgeber dem RAV Zürich geschrieben), und das Arbeitsgericht Lausanne verurteilte ein privates Altersheim, weil es die Anstellung einer Frau als Pflegefachfrau aufgrund ihrer Hautfarbe verweigert hatte («Für diese Stelle suchen wir eine junge, gewissenhafte und geistig rege Person. Keine Schwarze. Nur Schweizerinnen oder EU-Bürgerinnen», machte der Arbeitgeber klar). Die Vermutung liegt nahe, dass es sich hier um Arbeitgeber handeln könnte, die mit Begeisterung für das Verbot von Minaretten und Burkas oder für die Ausweisung schwarzer Schafe gestimmt haben ...

Vielschichtige Antworten

Diskriminierung liegt nicht in der privaten Verantwortung der Betroffenen. Es handelt sich um ein gesellschaftliches Problem, das in der kollektiven Verantwortung liegt. Zudem ist der Kampf gegen Diskriminierung und für soziale Gerechtigkeit nicht nur eine moralische Frage; er ist rechtlich begründet. Es gilt, die vorhandenen Instrumente zu verbessern. Die Gewerkschaften fordern mehrere konkrete Massnahmen. Erste Priorität haben konkrete Handlungen zur Prävention und Bekämpfung von rassistischer Diskriminierung, die unter anderem auf der Hautfarbe, der Herkunft oder dem ausländerrechtlichen Status beruht, insbesondere auf den Beschäftigungs-, Arbeits- und Wohnungsmärkten, im Bildungsbereich, aber auch im politischen Diskurs und in den Medien, in Verfahren des Ausländer- und Asylrechts sowie in der Polizeipraxis. Der Kampf gegen jede Form von Hassrede (Hatesspeech) muss verstärkt werden, indem der Anwendungsbereich von Artikel 261bis StGB auf jede fremdenfeindliche, rassistische, sexistische, homophobe oder behindertenfeindliche Handlung oder Rede ausgeweitet wird. Von ganz besonderer Bedeutung ist auch die Intensivierung des Kampfes gegen rassistische und antisemitische Symbole. Der Zugang zu Verfahren, die den Erwerb der Staatsbürgerschaft ermöglichen (Einbürgerung und politische Rechte auf Gemeinde- oder Kantonsebene für ausländische Personen), muss erleichtert werden. Unerlässlich ist es zudem, allen in der Schweiz geborenen und/oder arbeitenden Menschen stabile Aufenthaltsbewilligungen zu erteilen und die Praxis der Kurzaufenthaltsbewilligungen strikte einzuschränken. Das Recht auf berufliche Bildung und die Anerkennung ausländischer Abschlüsse und Berufserfahrungen muss garantiert werden. Allgemeinverbindliche Gesamtarbeitsverträge, die Bestimmungen zum Mindestlohn enthalten und anonymisierte Bewerbungsverfahren vorsehen, müssen breit eingeführt werden. Schliesslich sind kombinierte Statistiken mit Geschlecht, Herkunft, ausländerrechtlichem Status, Qualifikation und Berufskategorie (einschliesslich Beschäftigungsgrad und Lohnentwicklung) und Daten erforderlich, die speziell über strukturelle und institutionelle Diskriminierung Auskunft geben. Es liegt in der Verantwortung der Institutionen, des Staates und jeder und jedes Einzelnen, die Diskriminierungen, denen ein Teil der Bevölkerung tagtäglich ausgesetzt ist, anzuprangern und sich den kollektiven Kämpfen anzuschliessen, geht es doch um nichts Geringeres als um Grundwerte und Grundrechte.