TANGRAM 46

Unsichtbares durch Theater sichtbar machen

Autorin

Kathrin Iten ist Schauspielerin und Sozialarbeiterin (MSW SAR als Menschenrechtsprofession). kathrin.iten@dasventil.ch

Das Theaterstück Formular:CH beleuchtet institutionellen Rassismus und bringt dabei auch Diskriminierungserfahrungen von Geflüchteten auf die Bühne. Die Mitgründerin der Plattform DAS.VENTIL. berichtet über Entstehung und Weiterentwicklung des Projekts.

Kennen Sie das Spiel: Ich sehe etwas, was Du nicht siehst? So habe ich mich als Sozialarbeiterin bei meiner Arbeit mit Menschen, die in unser Asylwesen eingeordnet wurden, gefühlt. Jeden Tag aufs Neue. Immer wieder beobachtete ich ungesehene oder vielleicht gesehene, dafür aber ignorierte bzw. tabuisierte Situationen von Diskriminierung und Rassismus. Darüber wurde, so schien mir, nicht gesprochen. Weder über die diskriminierenden Strukturen, noch die ungeschriebenen Regeln, noch darüber, dass auch Fachleute aus dem sozialen Bereich, die in den meisten Fällen eine Machtposition mit Privilegien innehaben, durchaus verletzend handeln können.

Auch ich war Teil dieses Systems, stolperte über meine Vorurteile und hoffte auf Ehrlichkeit gegenüber mir selbst. Fachleute diskriminieren nicht, weil sie professionell handeln. Das schien mir das ungeschriebene Gesetz. Ich würde mir aber wünschen, dass gerade Fachleute sich immer wieder hinterfragen, ob sie nicht doch auch, aufgrund von Stereotypen, Emotionen, rassistischen Strukturen und Menschenbildern diskriminierend handeln.

Ganz alltägliche Teamsitzungen können dabei ein Spiegel sein und aufzeigen, welche Menschenbilder vertreten werden. Nehmen wir das Beispiel einer Fallverteilung im Sozialdienst:

«Eine Familie aus Eritrea, vier Kinder, VA7+.»
«Schon eine Gefährdungsmeldung?»
«Nein.»
«Vier Kinder? Habt ihr mit ihr schon einmal über Verhütung gesprochen? Ah nein, das bezahlt die Krankenkasse nicht. Eine Unterbindung würde bezahlt werden.»
So wird hin und her geplaudert.

Eines Tages erzählten ich und Tanja Rohrer, ebenfalls Sozialarbeiterin, der Regisseurin und Autorin Christine Ahlborn von den Beobachtungen in unserem Arbeitsumfeld. Ihr Kommentar: Wann beginnen wir mit den Probearbeiten? Gemeinsam mit den beiden und der Schauspielerin Karin Maurer entwickelte ich 2014/15 während Monaten das Theaterstück Formular:CH.

Unser Proberaum war überfüllt mit Materialien: Wissenschaftliche Texte, Studien, Theorien. Gesetzesartikel, Richtlinien, Konzepte unterschiedlicher Kantone zum Thema Asyl. Ausländergesetze. Einbürgerungsvorlagen. Integrationsvereinbarungen, die damals gerade neu waren! Notizen und Gedanken aus Teamsitzungen innerhalb von Sozialdiensten und anderen Institutionen. Und immer wieder die Frage: Wo wollen wir unsere Prioritäten setzen, wenn uns doch alles wichtig ist?

Wir entschieden uns, auf der Bühne DAS nationale Kompetenzzentrum zu sein. Zuständig für alle Gesetze. Für alle Kantone. Für alle Gemeinden. Für alle Menschen in Not. Wir wollten von der Integrationsvereinbarung bis zum Einbürgerungstest alles verhandeln.
Im Probeprozess wurde uns aber auch bewusst, dass wir nicht nur unsere Perspektive auf die Bühne bringen können. Wir brauchten unbedingt die Perspektive bzw. die Stimmen von geflüchteten Menschen, insbesondere von Menschen, die während Jahren keinen sicheren Aufenthaltsstatus hatten. Also haben wir Interviews gemacht mit dem Fokus: Wie fühlt es sich an, in die Schweiz zukommen bzw. hier zu leben? Diese Gespräche sind in Form von Audioeinspielungen während des ganzen Theaterstücks immer wieder zu hören.

Es war die erste Produktion von DAS.VENTIL, und wir hatten 2015 vorerst nur sechs Vorstellungen geplant. Schon nach den ersten Vorführungen erhielten wir unzählige Rückmeldungen, die uns ermutigt haben, bis heute weiterzuspielen. Durch die Kunstform Theater konnten wir die sensiblen und komplexen Themen in eine Form bringen, mit welcher sich das Publikum leicht identifizieren und hinterfragen kann. Oftmals tut es weh, sich selbst zu sehen. Und doch: «Créer plus pour ignorer moins». (Publikumszitat)

Aufgrund der vielen Anfragen spielen wir das Stück seit 2017 auch auf Französisch und in einer bilinguen Version ( Details siehe Webseite www.dasventil.ch ). Wir treten nicht nur in Theatern auf, sondern spielen auch im Rahmen von Weiterbildungen, Teams, Ausbildungsstätten und Büros. Mit dem Format Theater&Labor bieten wir seit 2018 nach dem Stück zusätzlich Workshops an. Dabei geht es darum, mit den Teilnehmenden das eigene Alltagshandeln zu reflektieren, die vorherrschenden Strukturen genau zu beobachten und Probleme benennen zu lernen.

«Ich sehe etwas, was Du nicht siehst», und das ist immer da.
Es kann sein, dass es irgendwann einmal weg ist.
Wenn es gesehen wird.
Wenn es gehört wird.
Wenn es wirklich niemand mehr will.

DAS.VENTIL wurde 2014 gegründet. Es ist eine Kreationsplattform für Theater, Kunst und soziale Themen sowie ein kreatives Instrumentarium zur Bewusstseinsbildung. www.dasventil.ch