TANGRAM 46

Strukturellen Rassismus systemisch angehen

Gestern war ich klug und wollte die Welt verändern. Heute bin ich weise und möchte mich verändern. (Rumi)

Autorin

Dr. Nora Refaeil unterstützt Prozesse des Systemwandels. Sie begleitet Transformationen in Institutionen, Organisationen und Gemeinschaften sowie von Individuen. Sie ist Anwältin, Mediatorin, Trainerin und Coach mit mehr als 20 Jahren Erfahrung im nationalen und internationalen Umfeld. Sie unterrichtet an der Universität Basel und weiteren Institutionen. Sie ist Vizepräsidentin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus und im Vorstand des Instituts Neue Schweiz. nora.refaeil@gmail.com

Wie kann Rassismus als eine gesellschaftliche Herausforderung und ein strukturelles Phänomen angegangen werden? Der systemische Ansatz gibt hierfür wichtige Hinweise. In diesem Beitrag werden einige Bedingungen für den Wandel auf Systemebene vorgestellt.

Noch heute wird Rassismus regelmässig als Ergebnis bestimmter Einstellungen oder Massnahmen betrachtet, die immer wieder auch unbeabsichtigt Menschen aufgrund ihrer Herkunft, Ethnie, Religion, Hautfarbe etc. benachteiligen. Die Ansätze, die dieser Form der Ausgrenzung und Diskriminierung entgegenwirken sollen, bleiben mit individualistischem Antidiskriminierungsansatz oder Bewusstseinstraining auf einer Mikroebene. Diese weiten sich jedoch nicht ohne weiteres auf eine Makroebene aus und wirken deshalb meistens nicht strukturell. Wird Kindern of Color bzw. mit Migrationshintergrund von Lehrpersonen weniger zugemutet und werden sie stereotyp auf ihre gelesene nicht schweizerische Herkunft reduziert, dann ist es nicht allein damit getan, einzelne Lehrpersonen in dieser Hinsicht weiterzubilden und mit ein paar Schulhäusern den Weg der institutionellen Öffnung zu durchlaufen. Steht fest, dass Menschen, die als Nichtschweizerinnen oder Nichtschweizer gelesen werden, im Wohnungsmarkt schlechtere Chancen haben als Menschen, die primär als Schweizerinnen oder Schweizer durchkommen, dann wird der strukturelle Rassismus im Wohnungsmarkt nicht allein dadurch beseitigt, dass beispielsweise eine kantonale Immobilienverwaltung Anti-Rassismus Trainings erhält oder der Diskriminierungsschutz gestärkt wird. Auch wenn diese Massnahmen alle für sich richtig und wichtig sind: Alleine werden sie der systemischen Benachteiligung von Menschen, die nicht als Schweizerinnen oder Schweizer gelesen werden, nicht genügend entgegenwirken können.

Wie kann nun Rassismus als strukturelles Problem angegangen werden? Der systemische Ansatz hilft uns, Dynamiken auf der Makroebene zu erkennen, die Auswirkungen auf der Mikroebene haben. Nachfolgend werden Ansätze vorgestellt, die sich bei der Frage, wie komplexe systemische Herausforderungen angegangen werden können, bewährt haben.

Rassismus als strukturelle Herausforderung

Wir wissen heute, dass Rassismus ein individuelles, institutionelles, gesellschaftliches und letztlich strukturelles bzw. systemisches Problem darstellt. Wir wissen auch, dass die individuellen (Wissens- und Haltungsebene) und institutionellen Ansätze (institutionelle Öffnungsprozesse) strukturelle Dynamiken nicht zu erfassen vermögen. Was bedeutet struktureller Rassismus? Hierbei geht es darum, welches kulturelles Grundverständnis eine Gesellschaft hat und wie sie sich organisiert, zum Beispiel in den Bereichen Arbeit, Wohnen, Bildung, Gesundheit, Verwaltung, etc. Der systemische Ansatz behandelt diese Bereiche jedoch nicht in Silos. Vielmehr geht es dabei um dynamische, miteinander verbundene Prozesse, die Teil eines grösseren sozioökonomischen und politischen Systems sind. Es geht um die Frage, wie systemrelevante Komponenten in einem fortlaufenden Prozess zueinander in Beziehung stehen, miteinander agieren und welche Muster sie an gewollten oder ungewollten Wirkungen (wie Ausgrenzung, Diskriminierung, Rassismus) produzieren. In diesen Strukturen wirken immanent auch Werte und Kulturen, die die jeweilige Gesellschaft teilt und im Gegenzug reproduzieren Strukturen wiederum gesellschaftliches Verständnis von Werten und Kulturen, die identitätsstiftend wirken können oder eben auch nicht. Für die Frage also, wie struktureller Rassismus angegangen werden kann ist es also entscheidend, den Blick auf die für das System relevanten Beziehungen und Interaktionen zu richten.

Wechsel in der Denk- und Herangehensweise

Der strukturelle Rassismus als gesellschaftliches Phänomen gehört zu den Herausforderungen, die komplex sind, und zwar einerseits in der Erfassung des Problems an sich und entsprechend auch in der Lösungsentwicklung. Komplexität zeichnet sich dadurch aus, dass die Problemstellung multidimensional und vielschichtig ist und nicht mit einer linearen Denkweise gelöst werden kann. Wir neigen jedoch dazu, Probleme technisch zu verstehen, diese in Einzelteile zu zerlegen, diese Teile mehr oder weniger in Isolation voneinander zu analysieren, nach linearen Ursachen und Wirkungen zu suchen und Lösungen vorzuschlagen. Diese lineare Vorstellung bekämpft in der Tendenz Symptome, weshalb komplexe Grundbedingungen weiter bestehen bleiben. Der systemische Ansatz hingegen versucht das System in seiner Gesamtheit zu erfassen, geht von einer Dynamik von vielfachen Ursachen und Faktoren aus und sucht nach grossen Zusammenhängen. In der Komplexität gibt es keine einfachen «Lösungen», sondern immer nur adaptive Lösungsansätze. Deshalb wird ein grosses Augenmerk auf den Prozess gelegt, wie die verschiedenen Dynamiken aufgedeckt werden. Wir wissen z.B. von der Diskriminierung im Arbeitsmarkt. Immer wieder wird untersucht, inwieweit Menschen mit einem als nicht typisch empfundenen Schweizer Namen es beim Zugang zur Arbeit, z.B. bei der Lehrstellensuche, schwer haben und diskriminiert werden. Diese Art von Analyse, beschränkt auf den Arbeitsmarkt, ignoriert regelmässig kumulative Ursachen und Wirkungen, die nicht nur punktuell, sondern langfristig und strukturübergreifend zusammenwirken. Mögliche weitere Faktoren für den Ausschluss könnten auch z.B. in der Bildung aber auch im Rahmen von Wahlen- und Abstimmungsnarrativen, im Einbürgerungsverfahren etc. gesucht und gefunden werden. Um komplexe Themen wie strukturellen Rassismus wirklich zu erfassen, muss dieser systemisch, also in seiner Gesamtheit angegangen werden. Dies bedingt also primär einen Wechsel in der Denk- und Herangehensweise, unter anderem auch mit praktischen Konsequenzen für Kapazitätsbildung für sowie Finanzierung und Evaluierung von solchen Prozessen (im Gegensatz zu Projekten).

Das System aufdecken und verstehen

Das System zu verstehen, ist eine Grundvoraussetzung für die Frage, wie auf dieses eingewirkt werden kann. Es gibt hier verschiedene Ansätze wie z.B. die Systemabbildung durch Systemanalyse. Auch bewährte weitere Methoden wie z.B. Theorie U, entwickelt von Otto Scharmer, Massachusetts-Institut für Technologie, oder Social Innovation Labs von Zaid Hassan, bieten Ansätze und Methoden, wie komplexe Systeme abgebildet und angegangen werden können. Bei allen Methoden ist jeweils der Multi-Stakeholder Ansatz und Dialog entscheidend. Es geht darum, verschiedene Stakeholder aus dem System miteinander in Austausch zu bringen, um systemrelevante Informationen zu erhalten. Entscheidend ist jeweils, den von der Marginalisierung und Diskriminierung betroffenen Personen hierbei eine Stimme einzuräumen. Ein solcher Multi-Stakeholder-Ansatz zum Thema struktureller Rassismus findet zurzeit im Kanton Basel-Stadt statt, wo Repräsentantinnen und Repräsentanten verschiedener Systeme zusammenkommen und sich austauschen. Aus diesem Dialog wird Wissen und Einsicht entstehen, die bei separater Analyse einzelner Bereiche nicht hervorgetreten wären. Ein weiterer Ansatz, der tendenziell in diese Richtung geht, wären die regelmässigen Arbeitstreffen zum Thema «Förderpraxis Kultur und Integration» - mit Verantwortlichen von EKM, SEM und BAK, ausgewählten Expertinnen und Experten aus dem In- und Ausland, sowie weiterer Schlüsselakteure.

Grundbedingungen für den Systemwandel

Vereinfacht gesagt, wandelt sich ein System dann, wenn die Bedingungen verändert werden, die das Problem aufrechterhalten. Es gibt verschiedene Ansätze, wie ein System transformiert werden kann. Hier wird insbesondere das von FSG entwickelte Modell gestreift, das die voneinander abhängige Bedingungen beschreibt, die ein Problem typischerweise bewahren. Die Abbildung zeigt diese verschiedenen Elemente, die sich in sichtbaren, semi-expliziten und impliziten Bedingungen aufteilen lassen:

• Sichtbare Strukturen: Gesetze und Richtlinien einer Regierungseinheit, Praktiken und Netzwerke auch von Institutionen und Organisationen, sowie Verteilung von Mitteln und Ressourcen.

• Semi-explizite Elemente: Diese sind nicht auf den ersten Blick sichtbar. Das sind Beziehungen und Verbindungen wie auch Macht-Dynamiken.

• Implizit: Nicht leicht zugänglich bzw. erkennbar sind Denkmuster, tief verwurzelte Überzeugungen, Annahmen und Selbstverständlichkeiten, die beeinflussen, wie wir denken und was wir tun. Gemäss Donella Meadows, eine Vorreiterin des Systemdenkens, ist die Transformation der mentalen Modelle diejenige mit der grössten Hebelwirkung, obschon dies die schwierigste Aufgabe ist.

Themen wie Rassismus oder geschlechtsspezifische Vorurteile gehören zu den impliziten mentalen Modellen, die schwer anzugehen und zu verändern sind. Diese Modelle beeinflussen, wie Beziehungen gestaltet werden. Sie sind die Grundlage der Strukturen, die wiederum Ausschluss bewirken können. Gut lässt sich das an den abwertenden und diskriminierenden Einbürgerungspraktiken gewisser Gemeinden und Kommissionen zeigen. Seit Jahrzehnten in der Schweiz lebende und arbeitende Menschen, z.B. aus dem ehemaligen Jugoslawien, werden strukturell diskriminiert. Regelmässig liegt der Grund für den Ausschluss im «Wir und sie»-Denken, in der Vorstellung, wer die Schweiz ist und wer die Schweiz ausmacht, wer dazu gehört und wer nicht. Diese Einstellung ist mitunter auch die Basis für die verschiedenen Bestimmungen des Migrationsrechts, die Kriterien für die Bestimmung der Integration und wiederum der Einbürgerung. Die Hürden in der Einbürgerungspraxis beeinflussen auf der anderen Seite wiederum den Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie zu Dienstleistungen im Gesundheitsbereich. Gleichzeitig beeinträchtigen sie das Abstimmungs- und Wahlrecht sowie die Demokratie-Resilienz der Schweiz.

Tief eingesessenen Denkmustern und Glaubensansätzen kann beispielsweise durch neue Narrative entgegengewirkt werden. Einen wichtigen Beitrag hierzu leistet INES, das Institut Neue Schweiz, das neue Narrativakzente setzt. Mit Geschichten der Deep Diversity wird eine Realität der Schweiz gespiegelt, in der Migration und Vielfalt normal sind. Sie ist Teil der Schweizer Geschichte und Kultur und wird täglich gelebt.

Die in der Abbildung gezeigten Ebenen bedingen und beeinflussen sich gegenseitig, weshalb es wichtig ist, die verschiedenen Elemente für mögliche Lösungsansätze zu berücksichtigen, auch wenn es kaum möglich sein wird, auf allen Ebenen gleichzeitig zu wirken.

Eine entscheidende Komponente für den Wandel ist, dass Individuen, Gemeinschaften und Organisationen, die sich für die strukturelle Veränderung einsetzen, auch sich selbst als Teil des Systems sehen. Was bedeutet das? Sich als Teil des Systems sehen, bedingt auf der Organisationsebene, dass diese den Prozess der institutionellen Öffnung durchlaufen und dabei untersuchen, welche systemischen Barrieren über Verfahren, Produkte und Dienstleistungen, Partnerschaften sowie Personal aufrechterhalten werden und damit zum Ausschluss von anderen führen können. Wenn ein paar Institutionen diesen Weg gehen, dann bewirkt das noch keine strukturelle Veränderung auf der Makro-Ebene. Auf der anderen Seite ist ein Systemwandel nicht denkbar ohne den Öffnungsprozess der Institutionen.

Auf der individuellen Ebene bedeutet Teil des Systems sein, dass wir das System nicht ändern können, wenn wir nicht bereit sind, auch uns selbst zu reflektieren: unsere Denkweisen, Muster, Werte und Haltungen, wie wir Sachen deuten und wie wir mit der Macht umgehen und unsere Beziehungen gestalten. Dies mag auf den ersten Blick selbstverständlich klingen, ist aber in meiner Erfahrung bei Begleitung von Transformationsprozessen selten der Fall. In diesem Sinne und für den Systemwandel zu verorten ist auch der von Mahatma Ghandi gesprochene Satz: «Sei die Veränderung, die Du dir für die Welt wünschst».

Fazit

«Systemwandel» ist ein wichtiger Ansatz, um komplexe Herausforderungen unserer Zeit wie Rassismus anzugehen. Immer mehr gemeinnützige Organisationen und andere Einrichtungen des sozialen Sektors sehen darin eine Möglichkeit, eine grössere Wirkung zu erzielen. Um diesen Weg gehen zu können, ist die Haltung, wonach Komplexität normal ist, hilfreich. Wenn wir uns zurücklehnen und uns die Zeit nehmen, die Zusammenhänge innerhalb eines Systems zu untersuchen und herauszufinden, wie ein bestimmtes Muster zu einem unerwünschten Ergebnis geführt hat, erhalten wir bessere Einblicke in die Gestaltung von Massnahmen, die eine nachhaltige Wirkung haben. Die aufgezeigten Bedingungen für den Systemwandel stehen in Wechselwirkung und müssen zusammen gedacht werden. Adaptive Lösungsansätze können Muster verändern, die zum Wandel beitragen können. Letztendlich ist es entscheidend, dass diejenigen, die einen Systemwandel anstreben, auch sich selbst reflektieren.

Bibliografie:

FSG, John Kania, Mark Kramer, Peter Senge, The Water of Systems Change, June 2018
Donella Meadeows, Thinking in Systems, 2015

Institut Neue Schweiz, www.institutneueschweiz.ch