Autorin
Martine Brunschwig Graf ist Präsidentin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus EKR
Diese 47. Ausgabe von Tangram befasst sich mit dem kolonialen Erbe der Schweiz, einem sensiblen, aber wichtigen Thema, will man bestimmte Aspekte im Zusammenhang mit Rassismus und rassistischer Diskriminierung in unserem Land verstehen. Das Thema ist schwierig und vielschichtig: Obwohl die Schweiz nie eigene Kolonien besass, haben einige ihrer – mitunter prominenten – Staatsangehörigen aus wirtschaftlichen Aktivitäten, die auf Kolonialismus und Sklaverei basierten, beträchtliche Ressourcen gezogen und Vermögen begründet. Auch die Schweiz als Staat trägt Verantwortung: Die Eidgenossenschaft hat vom Kolonialismus profitiert, wie mehrere Artikel in dieser Nummer zeigen.
Die vorliegende Tangram-Ausgabe geht die Problematik und ihre Folgen mit unterschiedlichen Ansätzen aus verschiedenen Blickwinkeln an: Ziel ist es, bestimmte Überlegungen und Forschungsarbeiten bekannter zu machen und auf Lücken hinzuweisen, die in der Wissenschaft, im Unterricht und in unserem allgemeinen Geschichtsverständnis noch zu schliessen sind.
Die Ausführungen der Autorinnen und Autoren dieser Nummer widerspiegeln den neuesten Stand der Forschung. Ich möchte an dieser Stelle einige Elemente hervorheben, die mir wichtig erscheinen.
In der Diskussion um die Schweiz, ihre Bürgerinnen und Bürger und deren Verstrickungen mit Kolonialismus und Sklaverei geht es oft um die Frage nach dem Kontext und nach der vorherrschenden Meinung zur Zeit der Ereignisse. Diese «vorherrschende Meinung» scheint in den 1860er-Jahren in den Debatten von Bundesrat und Parlament ein gängiges politisches Motiv gewesen zu sein. Dies, um nicht auf parlamentarische Vorstösse einzutreten, die Strafbestimmungen gegen Sklavenbesitz und Sklavenhandel von Schweizern forderten. Die Einschätzung der Sklaverei als «Verbrechen gegen die Menschheit», wie sie der Schaffhauser Nationalrat Wilhelm Joos einbrachte, wurde von der Mehrheit der damaligen Politiker nicht geteilt.
Dies zu wissen ist wichtig, um zu verstehen, in welchem Mass die Schweiz von Handelsgeschäften profitierte, bei denen Sklaverei im Spiel war. Heute hingegen engagiert sich unser Land international im Kampf gegen den Menschenhandel, diese moderne Form der Sklaverei.
Das Sklavereiabkommen wurde vom Völkerbund ausgearbeitet und am 25. September 1926 in der Schweiz, in Genf, unterzeichnet. Das Schweizer Parlament stimmte der Ratifizierung am 6. Oktober 1930 zu. 1963 folgte es der Empfehlung des Bundesrats, auch das Zusatzübereinkommen der Vereinten Nationen über die Abschaffung der Sklaverei zu ratifizieren. Der Bundesrat schrieb in seiner Botschaft dazu: Die Gründe, die der Schweiz im Jahre 1930 einen Beitritt nahelegten, haben ihren vollen Wert behalten. Sie können unser Land nur anspornen, auf dem Weg fortzuschreiten, den es sich vor mehr als 30 Jahren vorgezeichnet hat. Durch die formelle Hinterlegung einer Beitrittsurkunde zum Zusatzübereinkommen von 1956 würden wir erneut unseren Wunsch kundtun, uns im Geiste der Solidarität den Bestrebungen der anderen Staaten anzuschliessen, die für eine gerechte Sache kämpfen, indem sie aus der heutigen Welt die letzten Spuren eines sozialen Anachronismus auszulöschen trachten.
100 Jahre nach dem Sezessionskrieg und 33 Jahre nach der Ratifizierung des Abkommens die Sklaverei als «sozialen Anachronismus» zu bezeichnen, zeugt von einer Verweigerung, den Handel mit und die Ausbeutung von Menschen klar zu benennen sowie die Rolle, die Menschen in unserem Land hier hätten spielen können, transparent aufzuklären.
Und so ist es auch lange Zeit geblieben. Deshalb ist diese Ausgabe von Tangram zwar wichtig, es braucht aber viel mehr. Die Analysen und Forschungen sind längst nicht abgeschlossen, die pädagogischen Ansätze noch sehr zaghaft. In einer Zeit, in der «Wokismus» als Vorwand gegen jegliche Selbstreflexion ins Feld geführt wird, braucht es umso mehr Mut, die Vergangenheit zu beleuchten. Es geht nicht darum, Busse zu tun, mit dem Finger auf andere zu zeigen, Statuen vom Sockel zu stossen oder zu leugnen, dass namhafte Gelehrte, Wohltäter, Visionäre und gleichzeitig Komplizen und aktiv Handelnde im Rahmen von Wirtschaftsmodellen sein konnten, die auf der Ausbeutung von Menschen beruhten.
Wir leben im 21. Jahrhundert. Es ist nicht an uns, über Fehler, die in der Vergangenheit begangen wurden, zu richten. Doch wir sind es uns schuldig, aufzuklären, was aufzuklären ist, und dafür zu sorgen, dass die Debatte aufrichtig und gelassen geführt wird. Damit dies geschieht, muss man wissen und verstehen. Möge diese Ausgabe von Tangram dazu beitragen. Ich wünsche Ihnen gute Lektüre!