TANGRAM 47

«Die Dekolonisierung von Museen und Universitäten ist eine kolossale Aufgabe»

Autorin

Noémie Etienne ist Kunsthistorikerin und seit 2023 Professorin an der Universität Wien. Von 2016–2022 leitete sie an der Universität Bern das Forschungsprojekt Exotic Switzerland? Heute arbeitet sie an der Konservierung der Sammlungen und an den anthropologischen Abgüssen. noemie.etienne@univie.ac.at


Interview: Sylvie Jacquat und Theodora Peter

Die Kunsthistorikerin Noémie Etienne hat mit einem Forschungsteam die Spuren der Kolonialgeschichte in Museen und Archiven untersucht. Für eine echte Dekolonisierung braucht es aus ihrer Sicht auch eine strukturelle Veränderung von Arbeitsmethoden in den Institutionen.

Viele Museen überprüfen ihre Bestände auf Kolonialismus. Worin wurzelt der Wille zur Dekolonisierung?
Noémie Etienne: Historisch, theoretisch, aber auch ganz konkret ist die Dekolonisierung mit dem Kampf der indigenen Völker um die Rechte an ihrem Land verbunden. Auch wenn der Begriff heute in verschiedenen Zusammenhängen und insbesondere in Museen verwendet wird, darf man nicht vergessen, dass der Kolonialismus immer noch eine treibende Kraft ist. Für viele indigene Völker ist die Realität weder postkolonial noch dekolonial. Die Zerstörung von Wohnstätten, Menschen und Kulturen, um Land und Ressourcen zum Zwecke der Wohlstandsvermehrung zu beschlagnahmen: Das sind aktuelle Realitäten. Der Beitrag von indigenen Aktivistinnen und Aktivisten, Kunstschaffenden und Intellektuellen ist entscheidend, um zu verstehen, dass die Dekolonisierung ein sehr konkretes, brennendes Thema ist und insbesondere die Rücknahme des Landes und der Vorfahren beinhaltet.

Was heisst dies konkret für die Kunst?
Im Bereich der Kunst und Kultur meint Dekolonisierung, die Spuren der Kolonialgeschichte aufzudecken, sie zu verstehen und aktiv gegen deren Auswirkungen vorzugehen. Seit den 1970er-Jahren gibt es eine intellektuelle, künstlerische und literarische Bewegung, die zum Teil aus denselben Regionen kommt: Palästina, Indien, Nordafrika, Subsahara-Afrika oder den Antillen. Dort reflektiert eine Reihe von Denkerinnen und Denkern darüber, wie die Kolonialgeschichte beziehungsweise die koloniale Realität ihre Art, die Welt zu sehen, ihren Körper wahrzunehmen usw., verändert hat. Später kommt dazu eine Bewegung in Europa, bei der es darum geht, darüber nachzudenken und aufzuspüren, wie wir selbst auch Erben dieser Geschichte sind - und wie sie sich auswirkt auf unsere Art zu leben, zu sehen und uns zu verhalten.

Welche Fragen stellen sich dabei?
Wie sprechen wir über «andere»? Wer spricht? Welche Geschichten werden erzählt? Welche Bilder vermitteln wir? Zunächst wurde die kritische Perspektive von Studierenden, Kunstschaffenden, Aktivistinnen und Aktivisten eingebracht. Institutionen wie Museen und Universitäten haben den Diskurs erst in den 2000er-Jahren aufgenommen. Dies geschieht manchmal auch unter dem Druck von Kulturschaffenden und Öffentlichkeit.

Die Schweiz verfügte selber über kein Imperium. Weshalb ist die Dekolonisierung der Museen trotzdem relevant?
Die Schweiz hatte kein Imperium, wie man es in Frankreich oder England findet. Aber mindestens seit dem 17. Jahrhundert waren Einzelpersonen an der Besetzung und Ausbeutung internationaler Gebiete beteiligt. Städte, die diese Geschichte noch immer widerspiegeln, finden sich etwa in Amerika: zum Beispiel «New Bern» in North Carolina, das auf ein Siedlungsprojekt zweier Berner zurückgeht, das von den lokalen Eliten unterstützt wurde. Entsprechende Zeichnungsbücher waren in unserer Ausstellung 2020–2021 Exotic? im Palais de Rumine in Lausanne zu sehen.

Der Kolonialismus ist nicht nur ein nationales Phänomen, sondern auch eine Geschichte von Personen und Netzwerken (Religion, Handel, Banken). Das Schweizer Modell ist interessant, um den Begriff des Kolonialismus neu zu überdenken. Dies, indem man sich dessen verschiedenen Formen ansieht und nach unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren fragt: Söldner für fremde Armeen, Handlanger der grossen Handelsgesellschaften, Missionare usw. Man muss auch an die Folgen und die heutige Dauerhaftigkeit der Kolonialgeschichte denken, insbesondere in der Schweiz. Die Ausbeutungsverhältnisse zwischen dem Norden und dem Süden, die Logik der Rassenklassifizierung: All das ist nicht verschwunden.

Inwiefern geht die Debatte über den historischen Kolonialismus hinaus?
Heute öffnet sich die Diskussion nicht nur für den historischen Kolonialismus, sondern auch für den zeitgenössischeren Begriff der Kolonialität. Kolonialität beschreibt ein Verhältnis von Macht, Herrschaft und Ausbeutung, welches auch ausserhalb des «offiziellen» Kolonialismus stattfinden kann. Wie bereits erwähnt ist die Realität in Amerika, im Pazifik oder im Nahen Osten kolonial. Der Kolonialismus ist nicht nur eine vergangene Realität.

Zudem bezieht sich die Idee der Kolonialität auch auf Machtverhältnisse, die sich beispielsweise gegen Frauen, die Natur oder bestimmte soziale Klassen richten. In der Ausstellung Exotic? haben wir auch untersucht, wie die Bauernschaft von den städtischen Eliten in der Schweiz im 18. Jahrhundert vertreten und manchmal ausgebeutet wurde. Es gibt auch Differenzen innerhalb von Ländern, soziale Brüche und Formen der Herrschaft – zum Beispiel zwischen dem Lebensraum der Städte und den Bergregionen.

Diese ungleichen Beziehungen können auch in kulturellen Einrichtungen stattfinden. Museen und Universitäten versuchen heute, diese Formen der Unterdrückung aufzuspüren und rückgängig zu machen. Viele Akteure und Akteurinnen denken beispielsweise über die Machtverhältnisse zwischen Professorinnen/Professoren und Mittelbau nach oder zwischen Kuratierenden, Konservator-/innen und Restaurator/-innen - wobei die beiden Letzteren in Museen manchmal weniger Anerkennung erhalten.

Wie sind koloniale Objekte in den Sammlungen von Schweizer Museen gelandet? Wer hat sie erworben?
Die Sammlungen, die sich heute noch in Schweizer Museen befinden, zeigen die Spuren ihrer jeweiligen Reisen. Im Forschungsprojekt Exotic Switzerland?, das wir – zusammen mit Claire Brizon, Chonja Lee, Patricia Simon und Etienne Wismer – von 2016 bis 2022 an der Universität Bern durchführten, gingen wir von den jeweiligen Sammlungen in den Depots aus. Einige waren noch nie zuvor erforscht oder gezeigt worden. Die Hunderten von Objekten, die wir gefunden haben, reichen von in Asien gesammelten Schuhen bis hin zu Naturgegenständen aus Lateinamerika. Sie zeugen von der kolonialen Geschichte der Schweizerinnen und Schweizer in der Welt.

Die Arbeit von Historikerinnen und Historikern hat in den letzten Jahrzehnten viel dazu beigetragen, die Rolle der Schweiz im kolonialen Kontext besser zu verstehen. Auch Disziplinen wie Kunstgeschichte und Anthropologie können eine wichtige Rolle dabei spielen, diese Geschichten zu beleuchten und zu erweitern, da sie mit Objekten arbeiten. Objekte verdeutlichen gewisse Dinge, die nicht immer in schriftlichen Quellen zu finden sind. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit ist in diesem Zusammenhang sehr hilfreich. Schon der Gedanke, bestimmte Taonga des Pazifiks als «Objekte» zu bezeichnen, kann problematisch sein. Denn diese sind auch Vorfahren und Geister – also alles andere als leblose Wesen.

Angelegt wurden einige Sammlungen auf Erkundungsreisen bestimmter Gebiete, die oft auf deren Besetzung und der Ausbeutung der Natur abzielten. Auch das Schweizer Militär spielte eine Rolle, und viele Schweizer arbeiteten als Söldner für ausländische Armeen. Andere Gegenstände wurden in Geschäften gekauft, sei es in der Schweiz oder über ein ganzes Netzwerk von Händlern, zum Beispiel in Frankreich, Holland oder England. All diese Gegenstände sind manchmal auch Fragmente der Schweizer Kolonialgeschichte.

Was beinhaltet die Dekolonisierung eines Museums?
Die Dekolonisierung von Museen und Universitäten ist eine kolossale Aufgabe, die nicht nur Willen, sondern auch Zeit und Geld erfordert. Es geht nicht einfach darum, am Ende einer Sonderausstellung ein Video hinzuzufügen, um die Sklaverei zu thematisieren. Oder einen afrikanischen Künstler einzuladen, der die Verantwortung übernimmt, die kritische Arbeit zu erledigen. Es ist wichtig, die Arbeitsmethoden sowie die in den Institutionen – auch in den Dauerausstellungen – behandelten Themen grundlegend zu verändern. Dies mit dem Ziel, die heute nach wie vor funktionierenden Herrschaftsstrukturen aufzuzeigen.

Neben Arbeit und Zeit erfordert dieser Prozess auch Bescheidenheit. Man muss akzeptieren, dass man sich irrt und Fehler macht. Das ist normal, und manchmal ist es schwierig, die im kulturellen und akademischen Umfeld seit langer Zeit eingeübte Logik zu durchbrechen. Die im Eiltempo durchgeführten Dekolonisierungsprojekte werfen Fragen auf. Es kommt mitunter zu einer Instrumentalisierung und Kapitalisierung der Kämpfe von Indigenen, Studierenden, Kunstschaffenden oder Aktivistinnen/Aktivisten durch Institutionen, die bis dahin wenig Interesse an diesen Themen gezeigt hatten.

Es ist fraglich, ob es möglich ist, ein positives Ergebnis zu erzielen, wenn die Museen ihre Funktionsweise nicht ändern. Deshalb versuchen einige Institutionen heute, sich vom historischen Modell der Anhäufung von Reichtum zu verabschieden und sich ethischeren, kollaborativeren und nachhaltigeren Modellen zuzuwenden. Dieser Prozess betrifft nebst den Museen aber auch alle anderen Institutionen, namentlich die Hochschulen.

Wie müssen sich die Institutionen im Rahmen einer Dekolonisierung verändern?
Es lassen sich mehrere Wege skizzieren. Wichtig ist es, nicht an der Oberfläche und beim blossen Kommunikationseffekt («decolonial washing») stehen zu bleiben. Erstens gilt es, über die Organigramme nachzudenken, um die Teams zu diversifizieren und die Art und Weise der Führung zu hinterfragen: Wer ist beteiligt? Wer leitet? Wie werden Entscheidungen getroffen? Wie soll das geschehen?

Zweitens müssen Überlegungen zu allen Strukturen des Museums angestellt werden, auch zu denen, die nicht sichtbar sind, wie die Depots oder Lagerräume. Wer hat Zugang zu den Lagerräumen? Wie werden die Objekte behandelt? Sind die konservatorischen Bedingungen respektvoll und nachhaltig?

Drittens muss man andere Diskurse und Werte in die Institutionen tragen und sich fragen: Wer spricht dort? Welche Geschichten werden erzählt? Können andere Sichtweisen einbezogen werden? Heute wird die Unterscheidung zwischen «Subjekten» und «Objekten», «Kultur» und «Natur» immer wieder neu überdacht. Schliesslich müssen rassistische Fragen mit feministischen und ökologischen Herausforderungen verknüpft werden. Die Kolonialität zu entkräften, bedeutet auch, Rassen-, Geschlechter- und Klassenfragen zu verschränken. Wie bereits erwähnt, muss dies auch in akademischen Kreisen geschehen. Denn auch dort bestehen Formen von Sexismus, Rassismus und Klassismus, die z.B. in Bewerbungsverfahren eine Rolle spielen können.

Wie steht es um die Provenienzforschung und um die Rückgabe von Objekten?
Bei der Provenienzforschung müssen verschiedene Quellen miteinander verglichen werden: Inventare von Museen, Verkaufskataloge und die Untersuchung von Objekten. So gelingt es, die Wege eines Objekts nachzuvollziehen, zum Beispiel zwischen verschiedenen Auktionshäusern. Manchmal kann man mit etwas Glück den Weg bis zu der Gemeinschaft zurückverfolgen, welche die Gegenstände hergestellt hatte. Oft läuft die Suche aber auch ins Leere, weil die Quellen fehlen. Deshalb ist der Nachweis von Enteignungen oft schwierig und komplex. Stattdessen folgt man der Logik, den korrekten Erwerb der Sammlungen zu beweisen. Darüber hinaus betont die Kunsthistorikerin Claire Brizon in ihrem Buch Collections coloniales (2023), wie kollaborativ diese Arbeit sein kann. Wenn man mit den Kunstschaffenden der Herkunftsländer spricht und auch die mündlichen Erzählungen mit einbezieht, kann man zu vielen Informationen gelangen.

Zur Frage der Rückgabe: Die Schweiz hat einige Gegenstände bereits zurückgegeben und ist in diesem Bereich Vorreiterin. Es gibt jedoch nur wenige laufende Anträge auf Restitution von Kulturgütern. Dies wahrscheinlich deshalb, weil die Schweiz nicht als wichtige Raubnation identifiziert wird.

Wie steht es um den Zugang zu Privatarchiven?
Dieser ist nach wie vor schwierig. Im Rahmen unseres Forschungsprojekts war es nicht einfach, Zugang zu Privatarchiven in der Stadt Neuenburg zu erhalten. Darüber hinaus muss man sich fragen, was in einem Archiv tatsächlich aufbewahrt wird. Die Archive der Schweizer Kolonialgeschichte stammen in der Regel von Personen, welche die kolonialen Unternehmungen getragen und unterstützt haben. Die Arbeit von Forschenden besteht heute auch darin, diese Quellen in Bezug auf ihre Lücken und ihre Einseitigkeit zu hinterfragen.

In der Ausstellung und dem Buch Exotic? versuchten wir, das Fehlen bestimmter Figuren zu thematisieren, zum Beispiel die der versklavten schwarzen Frauen. Ihre Geschichte zu erzählen ist schwierig, da die entsprechenden Quellen problematisch sind. In ähnlicher Weise haben auch Sammlungen eine Grenze. Was in den Depots der Museen aufbewahrt wird, zeugt von der Kolonialgeschichte, aber auch von ihrer Absenz. Bilder, Kleidung und Besitztümer der versklavten Menschen wurden kaum aufbewahrt. Die strukturelle Gewalt hat ihre Aufbewahrung verhindert. Manchmal hat sie sogar ihre Herstellung verhindert. Forschende müssen sich mit diesen Lücken auseinandersetzen und Strategien finden, um die Leerstellen zu thematisieren.

Bibliografie

Ausstellung: Noémie Etienne, Chonja Lee, Claire Brizon, Exotic? Palais de Rumine, Lausanne, 2020-2021. Virtueller Rundgang: https://www.archeotech.ch/fpcm/nzx8imbn384

Noémie Etienne, Chonja Lee, Claire Brizon, Etienne Wismer (eds.), Exotic Switzerland?, Zürich, Diaphanes, 2020.

Claire Brizon, Collections coloniales, Genf, Seismo, 2023.
Open Acces : https://www.seismoverlag.ch/fr/daten/collections-coloniales/