TANGRAM 47

Rassistisches und koloniales Erbe im öffentlichen Raum in der Stadt Genf

Autoren

Mohamed Mahmoud Mohamedou und Davide Rodogno sind Professoren für internationale Geschichte und Politik am Geneva Graduate Institute in Genf, mahmoud.mohamedou@graduateinstitute.ch; davide.rodogno@graduateinstitute.ch.

Das Problem umstrittener Denkmäler im öffentlichen Raum stellt sich heute, weil sich im Lauf der Zeit ungelöste Fragen angehäuft haben und die Aufmerksamkeit für das Thema derart rasch gewachsen ist. Vergangenheit und kulturelles Erbe sind nicht gleichbedeutend. Es gibt verschiedene Arten, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und sie mit der Gegenwart zu verknüpfen, so wie es verschiedene Arten gibt, Erbe und Ererbtes zu hinterfragen.

Unsere Studie «Temps, espaces et histoires: monuments et héritage raciste et colonial dans l’espace public genevois», die 2022 erschienen ist (1), bietet eine selektive, vergleichende historische Bestandsaufnahme der Denkmäler und des rassistischen, kolonialen und die Sklaverei unkritisch darstellenden Kulturerbes im öffentlichen Raum in der Stadt Genf. Die Arbeit versteht sich als Analysegrundlage und Informationsquelle und sie gibt Denkanstösse rund um Denkmäler und Symbole im öffentlichen Raum, die eine rassistische Konnotation haben oder mit Kolonialismus und Sklaverei in Verbindung gebracht werden können. Die faktenbasierte, analytische Arbeit versucht, frei von Werturteilen zu kontextualisieren.

Ziel der Studie ist es, das Wissen zum Thema öffentliches Gedenken, Rassendiskriminierung und koloniales Erbe konzeptionell zu bündeln und das weite Feld aus Information, Reflexion, Bildung und Handeln mit Fakten anzureichern und den von der Stadt Genf eingeleiteten Reflexionsprozess zu unterstützen. Es handelt sich um eine historische Einordnung, die sich auf öffentlich zugängliche Primär- und Sekundärquellen stützt.

Die Ergebnisse unserer Studie verstehen sich ergänzend zu möglichen Schritten und Aktionen der Stadt Genf, verschiedener Verbände der Zivilgesellschaft und Bürgeraktionen, auf der Suche nach unabhängig umsetzbaren Lösungen, mit denen die mit Kolonialismus und Sklaverei oder dem Kampf gegen Rassismus verbundenen erinnerungspolitischen Herausforderungen angegangen werden können. Die Studie liefert Anregungen und Werkzeuge, um ein unbekanntes oder verkanntes Kapitel der Geschichte zu lesen und zu verstehen.

Im ersten Teil gehen wir der Fragestellung rund um Denkmäler und öffentlichen Raum, Diskriminierung und Kolonialisierung, Beziehung zur Vergangenheit, verschleierte Geschichte, Wissensdefizite in Bezug auf die Vergangenheit und ihre Auswirkungen auf Gegenwart und Zukunft im Schweizer und im Genfer Kontext nach. Im zweiten Teil wird eine Anzahl Orte und/oder Denkmäler im öffentlichen Raum der Stadt Genf identifiziert, die Fragen zu Rassismus und Kolonialismus aufwerfen. Im dritten Teil schliesslich werden verschiedene Optionen im Umgang mit umstrittenen Denkmälern und Symbolen im öffentlichen Raum geprüft.

Beim untersuchten Rassismus geht es hauptsächlich um Rassismus gegen Schwarze und Menschen afrikanischer Abstammung, eingeschlossen sind aber auch alle anderen Formen von Rassismus oder rassistischer Diskriminierung wie Antisemitismus, Rassismus gegen Muslime, antiasiatischer Rassismus, Antiziganismus und Fremdenfeindlichkeit. Fragen zur Geschlechter- und zur Klassengleichheit sind integraler Bestandteil der vorgestellten Analyse. Der hier diskutierte Kolonialismus bezieht sich auf die extraterritorialen Aktivitäten europäischer Staaten vom 16. bis ins 20. Jahrhundert. Kolonialismus wird im historisch weiten Sinne verstanden und schliesst insbesondere die Periode der organisierten kolonialen Sklaverei und Ausbeutung sowie des Menschenhandels ein, die bereits im 15. Jahrhundert einsetzte.

In einer Zeit, in der Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten aufgrund von Diskriminierung im nationalen und internationalen Kontext angeprangert werden, sind seit 2020 auch Elemente im öffentlichen Raum, die auf Personen, Episoden oder Orte verweisen, die historisch mit Rassismus, Kolonialismus oder Sklaverei verbunden werden, Gegenstand von Überprüfungen, die zu öffentlichen Massnahmen führen können. So werden Denkmäler von Geschäftsleuten, Militärs, Schriftstellern und Politikgrössen, die bislang als bedeutende Figuren der Geschichte galten, aufgrund ihrer Beteiligung am kolonialen Geschehen oder wegen ihrer rassistischen, diskriminierenden oder die Sklaverei befürwortenden Ansichten gestürzt, beschmiert oder verunreinigt. In Genf und Neuenburg wurden Petitionen eingereicht, in Zürich Berichte veröffentlicht. In Genf wurde am 12. Juni 2020 im Grossen Rat eine Motion eingereicht, die ein Inventar solcher Orte in der Stadt und eine bessere Information der Öffentlichkeit fordert (Motion «pour un inventaire des lieux géographiques portant des noms en lien avec le colonialisme, la traite négrière ou le racisme, et pour une meilleure information du public à ce propos»).

Die für die Zuweisung und Ausgestaltung öffentlicher Räume zuständigen Behörden sind in der Pflicht, ihr Handeln klar und nachvollziehbar zu kommunizieren. Grundlegend dabei ist es, ein oft nicht weiter erklärtes Konzept zu verdeutlichen: Der Ruhm von gestern kann morgen Schande sein. Räumliche und zeitliche Koordinaten für historische Einordnungen ändern sich ebenso wie das Empfinden, das Wissen (d. h. Informationsdichte und Quellen) und die Auslegung der Vergangenheit.

Geschichte ein für alle Male festschreiben zu wollen, ist genauso utopisch wie sie auslöschen zu wollen. Vergangenheit und kulturelles Erbe sind nicht gleichbedeutend. Es gibt verschiedene Arten, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und sie mit der Gegenwart zu verknüpfen, so wie es verschiedene Arten gibt, das Erbe und Ererbtes zu hinterfragen. Die Frage der Historizität von Denkmälern stellt sich auf mehreren intersektionalen Ebenen und sie wirkt sich breit aus. Jemanden auf den Sockel zu stellen, ist problematisch; Überhöhungen zementieren Wahrheiten und führen zu einer Asymmetrie der Ansichten, die sich auf bestimmte Darstellungen der Geschichte beziehen, nicht auf die Geschichte selbst.

Das Problem umstrittener Denkmäler im öffentlichen Raum stellt sich heute, weil sich ungelöste Fragen im Laufe der Zeit angehäuft haben und die Aufmerksamkeit derart rasch gewachsen ist. Wer es als «Modeerscheinung» abtut oder es politisch auf ein «Betroffenenanliegen» reduziert, befindet sich intellektuell auf dem Holzweg und verzögert die notwendige öffentliche Debatte über das komplexe Zusammenspiel von Denkmal, Geschichte und Gerechtigkeit und über die Beurteilungskriterien der Public History. Was angeprangert oder behauptet wird, sind die – aktiven wie passiven – Wechselbeziehungen der gefeierten Personen oder Ereignisse zu Rassismus, Kolonialismus oder Sklaverei. Gleiches gilt für das Schweigen über die Vergangenheit, das sich de facto im Ausbleiben einer Reaktion oder im Aufrechterhalten des demütigenden Status quo zeigt, wenn solche Fragen aufgeworfen wurden.

Diejenigen, die sich gegen das Entfernen von Statuen, das Umbenennen von Strassen oder ähnliche Veränderungen aussprechen, argumentieren mit den beiden Begründungen, dass sie ein «Auslöschen» der Geschichte ablehnen und dass es sich um Symbole aus einer «anderen Zeit» handelt. Man kann der Komplexität des Problems nicht mit Wahrheitsmustern (truth commissions, Reparationen usw.) beikommen, die leicht zu instrumentalisieren sind und der Sühne ihre Legitimität absprechen.

Die Schweiz gehört zu jenen westeuropäischen Ländern, die am wenigsten mit Kolonialismus in Verbindung gebracht werden. Idee und Mythos des Sonderfalls Schweiz sind nach wie vor tief in der Selbstwahrnehmung verwurzelt. Das Nicht-Erwähnen bzw. regelmässige Übersehen der Schweiz in Untersuchungen zum Thema Kolonialismus konnte Generationen von Schweizerinnen und Schweizern sowie die öffentliche Meinung dazu verleiten, an die Pseudo-Einzigartigkeit der Schweiz zu glauben. Das Fehlen von staatlichem Kolonialismus rückt die Schweiz in ein objektiv anderes Licht im Vergleich zu vielen anderen westeuropäischen Ländern. Doch Kolonialismus ist ein System, das über den Staatsapparat und territorialen Zugewinn hinausreicht und auch wirtschaftliche und soziale Dimensionen einschliesst. Mit der Schweiz ändert sich das Paradigma des kolonialen Diskurses. Da es keinen staatlichen Kolonialismus gibt, wird die Mikrofrage nach den Menschen, ihren Entscheidungen und ihren Werdegängen drängender. Die Schweiz kannte weder staatliche Kolonialprojekte noch imperialistische Kampagnen im eigentlichen Sinne noch Einflusszonen, die als solche eingerichtet wurden. Doch gab es während des gesamten 19. Jahrhunderts zahlreiche Aktionen von Einzelpersonen und Körperschaften. Der Mythos des Sonderfalls wird durch die Geschichten von Soldaten und Söldnern, Unternehmen, Missionarinnen und Missionaren sowie anderen Schweizerinnen und Schweizern widerlegt, die an kolonialen Unternehmungen teilgenommen und davon profitiert haben. Die Schweiz und Genf bilden in der Kolonialgeschichte keine Ausnahme und können nicht als proto-antikoloniale Räume betrachtet werden. Auch die Schweizer Bevölkerung zeigte Interesse für «Menschenzoos» und rassistische Dauerausstellungen wie diejenige von 1896.

Ende des 19. Jahrhunderts, als Anthropologie und Eugenik an den Schweizer Universitäten und öffentlichen Institutionen an Einfluss gewannen, bezogen sich die Reden über den Schutz einer angeblich reinen Schweiz immer häufiger auf die Rasse. Anfang der 20. Jahrhunderts dienten der hygienische Rassismus und eugenische Diskurse und Politiken dazu, den Perimeter des Schweizer Körpers und der Schweizer Nation abzustecken. In diesem Kontext – bestehend aus Netzwerken, gegenseitiger Unterstützung, Freundschaften und strategischen Überlegungen, an denen Schweizerinnen und Schweizer beteiligt waren – muss die Frage der Teilnahme von öffentlich gefeierten Mitgliedern der sozialen, wirtschaftlichen, finanziellen und politischen Elite der Schweiz und Genfs untersucht werden. Es sei auch daran erinnert, dass in der Schweiz bereits Mitte des 19. Jahrhunderts eine antirassistische Stimmung entstand. Die Diskussion über den öffentlichen Raum in Genf unterscheidet sich qualitativ von jener in anderen Städten. Abgesehen von universellen ethischen Überlegungen und dem demokratischen oder demokratisierenden Rahmen, den man auch anderswo finden kann, ist Genf eine eminent heterogene Stadt, eine Stadt der Vielfalt, eine Stadt der Integration und eine Stadt der kosmopolitischen und inklusiven Werte. Hier geht es um die Rolle und das Bestreben einer Stadt, vorbildlich zu sein.

Unabhängig davon, welche Option gewählt wird, ist es von grundlegender Bedeutung, eine Vision zu entwickeln und sie zu erklären. Es bedarf einer allgemeinen öffentlichen Politik mit gezielten, mit langfristigen Lösungen, die die Frage des Umgangs mit umstrittenen und rassistischen Statuen und Denkmälern sowie die Entwicklung gemeinsamer, dokumentierter Kriterien einschliesst, wer wie wo geehrt, anerkannt oder gefeiert werden soll. Die Geschichte auszulöschen, ist keine Option, ebenso wenig wie stattgefundene rassistische, koloniale und die Sklaverei unterstützende Handlungen fortwährend und ungestraft unsichtbar zu machen. Was letztlich zählt, ist, wie «das, was geschehen ist», gedeutet wird, und es nicht einfach nur zu protokollieren, was fatalistisch wäre und uns potenziell mitschuldig machen würde.

Fussnote

(1) Mohamed Mahmoud Mohamedou et Davide Rodogno, Temps, espaces et histoires : monuments et héritage raciste et colonial dans l’espace public genevois, Ville de Genève, 2022, https://www.geneve.ch/fr/themes/developpement-durable/municipalite/engagements-societe/egalite-diversite/diversite-culturelle/actions-sensibilisation/monuments-heritage-raciste-espace-public