Autorin
Maya Hertig Randall ist ordentliche Professorin an der Universität Genf mit den Schwerpunkten schweizerisches, europäisches und vergleichendes Verfassungsrecht sowie Schutz der Menschenrechte. Sie ist Mitglied der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz.
Maya.Hertig@unige.ch
Der äusserst rigorose Schutz der Meinungsäusserungsfreiheit in den USA löst sowohl Bewunderung als auch Unverständnis aus. Auf der einen Seite fasziniert der Glaube an die Debattenfreiheit, und die grundlegenden Urteile des Obersten amerikanischen Gerichtshofs zur Meinungsäusserungsfreiheit finden weit über den nordamerikanischen Kontinent hinaus Widerhall.
1919 formulierte der Richter des Obersten Amerikanischen Gerichtshofs O.W. Holmes die berühmt gewordene Metapher des «freien Marktplatzes der Ideen»: Die Konkurrenz zwischen den Meinungen bildet gemäss Holmes das beste Mittel, um der Wahrheit zum Sieg zu verhelfen. Der freie Marktplatz der Ideen setzt sich dem konformistischen, dem Fortschritt abträglichen Druck der Gesellschaft entgegen und impliziert «Gedankenfreiheit nicht für diejenigen, welche mit uns übereinstimmen, sondern für diejenigen, die Gedanken verbreiten, die wir hassen». Sechs Jahre später warnt Richter L. Brandeis vor der Verherrlichung der Sicherheit auf Kosten der Freiheit. Er betont die Bedeutung der Meinungsäusserungsfreiheit in einer Demokratie und sein Vertrauen in die freie, mutige Debatte und in die Macht der Vernunft, die in der öffentlichen Debatte zum Ausdruck kommt. Wie Holmes sieht er die Meinungsfreiheit als Gegenmittel gegen die Tyrannei der Mehrheit. Der Glaube an den Marktplatz der Ideen bedeutet für beide Richter, dass schädliche Ideen durch die freie Debatte und nicht durch Verbote zu bekämpfen sind: « the remedy to be applied is more speech, not enforced silence».
Gleichzeitig wundern wir uns über Positionen der grössten amerikanischen Menschenrechtsvereinigung, der American Civil Liberties Union (ACLU): In einem berühmten Fall der 1970er-Jahre verteidigte die ACLU die Freiheit der Neonazi-Partei, durch ein Wohnviertel zu marschieren, in dem Holocaust-Überlebende wohnten; vier Jahrzehnte später setzte sie sich für die Meinungsfreiheit der Anhänger der Weissen Vorherrschaft («White Supremacists») gegen die Stadtverwaltung von Charlottesville ein. Unverständnis ruft auch die Argumentation des Obersten amerikanischen Gerichtshofs im Urteil R.A.V. vs. City of St. Paul vom 22. Juni 1992 hervor. In diesem Urteil hoben die Richter die Verurteilung einer Person, die im Garten einer afroamerikanischen Familie ein Kreuz verbrannt hatte, mit der Begründung auf, die Verurteilung stütze sich auf eine Gemeindeverordnung, bei der rassistische Meinungen gegenüber antirassistischen Positionen diskriminiert würden. Machen die Vereinigten Staaten aus der Meinungsfreiheit einen «Fetisch», wie es ein Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ausdrückte? (Richter Zupančič im Urteil von Hannover v. Deutschland vom 24.09.2004)
Diese spezielle Auslegung der Meinungsäusserungsfreiheit lässt einen nicht unberührt und drängt sich rasch als Referenz auf, sei es im negativen oder im positiven Sinn. Doch bevor man den amerikanischen Ansatz bewundert oder verurteilt, sollte man versuchen, ihn zu verstehen. Denn er ist in einem historischen und gesellschaftspolitischen Kontext zu sehen, der ganz anders ist als in Europa. Die Aussagen der Richter Holmes und Brandeis richteten sich damals gegen die massive Repression, der die Mitglieder der Kommunistischen Partei ab der Zeit des Ersten Weltkriegs ausgesetzt waren. Ihren Höhepunkt erreichte diese Repression während des Kalten Krieges im berühmten McCarthyismus, einer wahren Hexenjagd gegen tatsächliche oder vermeintliche Kommunisten. Der besondere Status der Meinungsäusserungsfreiheit als höchste Freiheit und kulturelle Ikone ist zum Teil eine Reaktion auf diese Erfahrungen. Der europäische und der in den Menschenrechtskonventionen vertretene Ansatz hingegen ist eine Reaktion auf die «Akte der Barbarei, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen», wie es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 heisst. Das Entsetzen über die Nazi-Ideologie erschütterte das grenzenlose Vertrauen in die Idee, dass Vernunft und Wahrheit immer über gefährliche Ideologien siegen würden. Es festigte sich die Überzeugung, dass Hassreden und Aufrufe zu rassistischen Diskriminierungen die Grundfesten der Demokratie und die Rechte der Betroffenen untergraben. Angesichts dieser Gefahr dürfen Demokratien nicht untätig bleiben. Es darf nicht sein, dass die Meinungsfreiheit sich gegen demokratische Gemeinwesen wendet und zu einer Waffe in den Händen der Feinde der Demokratie und deren Grundwerte der Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde wird. Der Staat hat nicht nur die Möglichkeit, diese Werte zu schützen, sondern die Pflicht, Hassreden einzuschränken. Die tatsächliche Verwirklichung der Menschenrechte von ethnischen, sprachlichen oder religiösen Minderheiten erfordert präventive und repressive Massnahmen des Staates, um den Schutz gegenüber Behörden und Privatpersonen zu gewährleisten. Mit anderen Worten: Der Schutz der Grundrechte bedeutet mehr als bloss die Pflicht der Nichteinmischung: Der Staat ist zum Handeln verpflichtet.
Dieses Verständnis der Grundrechte, das heute im Völkerrecht und in vielen nationalen Rechtsordnungen, u. a. auch in der Schweiz, fest verankert ist, unterscheidet sich grundlegend von der vorherrschenden Auffassung in den USA. Das Land ist nach wie vor einem ausschliesslich liberalen Verständnis verpflichtet: Die Grundrechte sind Schutzschilde gegen den Missbrauch staatlicher Macht und blind gegenüber dem Machtgefälle innerhalb der Gesellschaft. Sie sollen die Menschen nur gegen Übergriffe der Behörden, nicht auch gegen Übergriffe von Einzelpersonen schützen.
Neben diesen historischen Gründen lassen sich die unterschiedlichen Ansätze auch durch den gesellschaftlichen Kontext erklären. In den Vereinigten Staaten ist die Skepsis gegenüber dem Staat viel ausgeprägter als in Europa. Auf dem Alten Kontinent wird der Staat nicht nur als Bedrohung wahrgenommen, sondern auch als Garant der Grundrechte und -freiheiten. In den Vereinigten Staaten ist dies ganz anders, wie der Widerstand gegen die sozialen Rechte und die heftigen Kontroversen um die Einführung der obligatorischen Krankenversicherung (Obamacare) gezeigt haben.
Kommen wir wieder auf die Meinungsäusserungsfreiheit zurück: Der historische und gesellschaftspolitische Kontext der USA hat zum Glauben an eine unsichtbare Hand geführt, die den Marktplatz der Ideen optimal reguliert. Mit einer Reihe von Regeln soll das Recht des Staates, die Meinungsfreiheit einzuschränken, in einem sehr strengen Rahmen gehalten werden. Das grundsätzliche Verbot, die Meinungsfreiheit wegen des Inhalts der geäusserten Ideen, oder noch schlimmer, der vertretenen Ideologie («viewpoint») einzuschränken, ist das aufschlussreichste Beispiel. Dies führt dazu, dass in den USA heute praktisch keine Einschränkungen von Hassreden oder diskriminierenden Äusserungen toleriert werden. Aufgrund dieses Verständnisses der Meinungsfreiheit sind die Vereinigten Staaten die Hochburg für Websites mit negationistischen oder rassistischen Inhalten. Es liegt auch dem Urteil des Obersten Gerichtshofs im erwähnten Fall R.A.V. v. City of St. Paul zum brennenden Kreuz zugrunde: Die Mehrheit der Richter begründete die Verfassungswidrigkeit der einschlägigen Gemeindeverordnung damit, dass sie Äusserungen aufgrund des vertretenen Ideologie diskriminiere («viewpoint discrimination»), weil sie nur Äusserungen ins Visier nehme, die zu Gewalt aufgrund von Rasse, Religion oder Geschlecht aufrufen. Somit verzerre sie den freien Marktplatz der Ideen. Das Urteil wurde von Vertretern der kritischen Rassentheorie kritisiert (critical race theory). Sie wiesen darauf hin, dass Hassreden nicht bloss nonkonformistische Meinungen sind, sondern sich gegen verletzliche Minderheiten richten (wie die afroamerikanische Gemeinschaft in den Vereinigten Staaten) und verbale Gewaltakte darstellen, die darauf abzielen, Opfer zu erniedrigen, sie zum Schweigen zu bringen und gesellschaftlich und politisch zu marginalisieren. Dadurch entstehen echte Beeinträchtigungen, die sich durch den Marktplatz der Ideen, in dem die Opfer überdies kaum je zu Wort kommen, nicht beheben lassen. Fragwürdig ist auch, ob Einschüchterungen wie die für den Ku-Klux-Clan typischen Kreuzverbrennungen Ausdrucksformen darstellen, die einer echten Ideendebatte würdig sind. Aus europäischer Sicht fällt das Urteil schliesslich auch durch seine lakonischen Erwägungen zu den Minderheitenrechten auf. Das Gericht begnügte sich mit dem Verweis, der Gesetzgeber habe andere Möglichkeiten, diese Rechte zu schützen, als auf Massnahmen zurückzugreifen, welche die Meinungsfreiheit einschränken.
Elf Jahre nach dem Urteil R.A.V. v. City of St. Paul zeigt sich das Urteil Virginia vs. Black besorgter über die Opfer der Kreuzverbrennung. In diesem Fall war die betreffende Gemeindeverordnung anders formuliert: Darin war das Verbrennen von Kreuzen zu Einschüchterungszwecken ganz einfach verboten, ohne jeglichen Bezug auf das Motiv des Täters. Das Gericht stellte daher fest, dass die Verurteilung der Täter nicht gegen die Meinungsfreiheit verstosse. Wer in diesem Urteil einen radikalen Kurswechsel in der US-amerikanischen Rechtsprechung sieht, täuscht sich: Der Geltungsbereich des Urteils beschränkt sich auf verbale Einschüchterungen («fighting words») gegen klar definierte Opfer. Rassistische Propaganda fällt meist nicht unter diese Definition und geniesst aufgrund der Meinungsäusserungsfreiheit einen äusserst rigorosen Schutz.