Zusammenfassung des Artikels
«Les frontières mouvantes de la tolérance» (französisch)
Autor
Der Theologe Xavier Gravend-Tirole ist Seelsorger an der EPFL (Eidgenössische Technische Hochschule Lausanne)
xavier.gravend@unil.ch
Sollen kontroverse öffentliche Äusserungen von Neonazis zensuriert werden? Ohne Intervention besteht das Risiko, dass solche Aussagen allmählich als normal betrachtet werden und sich verbreiten. Dies vergiftet die demokratische Debatte und bringt letztlich Figuren wie Trump und andere Rechtspopulisten an die Macht, die unverfroren Fakten zu ihrem eigenen Vorteil zurechtbiegen. Moralisch und intellektuell gesehen muss man diese von Hass geprägten Haltungen bekämpfen, verurteilen, anprangern. Doch wie ist es in rechtlicher und politischer Hinsicht? Das Leben in einer Demokratie bedingt, dass man andere Meinungen akzeptiert. Abweichende politische Meinungen zum Schutz von Minderheiten zu zensurieren würde bedeuten, die Toleranz als Kardinaltugend der modernen Demokratie zu opfern.
Hinter Hassreden stehen eine bestimmte Sicht der «nationalen Identität» und die Wahrnehmung des Ausländers als Bedrohung. Das daraus abgeleitete Gefühl der Frustration kann zu Hass gegenüber dem Fremden werden. Doch gerade dank der Begegnung von Menschen unterschiedlicher Herkunft entstehen neue kulturelle Gemeinschaften und ein neues «Wir», das sonst verkümmern würde. Doch auch das Gefühl der nationalen Identität soll bestehen bleiben, denn es trägt im positiven Sinn zur Bildung einer Gemeinschaft bei. Es gilt daher, Beziehungen nach einer anderen als der binären Logik zwischen einem «Ihnen» und einem «Wir» zu denken und zu verstehen, dass sich Identität laufend verändert.
Es ist schwierig zu beurteilen, was tolerierbar ist und eine klare Grenze zu ziehen zwischen einer konservativen Rede mit einer kohärenten gesellschaftlichen Vision und einer Hassrede. Grundsätzlich sind diese beiden Arten von Reden völlig identisch. Sie unterscheiden sich lediglich auf der Ebene ihrer Virulenz. Neonazi-Reden gesetzlich zu verbieten oder zu zensurieren ist daher nicht einfach: Ab welchem Punkt kann man sagen, dass bestimmte Aussagen die Grenze überschritten haben? Die einzige mögliche Antwort lautet, dass die Meinungsäusserungsfreiheit nur eingeschränkt wird, um (Todes- oder Gewalt-)Drohungen zu verbieten. Denn Pluralismus bedeutet, alle Minderheiten zu verteidigen und auch zu akzeptieren, von anderen gestört, aufgerüttelt oder gar beschimpft zu werden.
Die Zensur ist für eine wirkungsvolle Bekämpfung von Frustrationen nicht zielführend. Man muss eher die Quelle des Problems angehen: Die Verunsicherung der Bürgerinnen und Bürger, die den Eindruck haben, verglichen mit den vermeintlich bevorzugten Immigrantinnen und Immigranten benachteiligt zu sein. Das beste Mittel ist die Bildung, die hilft, Ängste und Ablehnung zu überwinden. Wir müssen lernen, Dinge anzugehen, die uns stören. Diskriminierte Menschen müssen die Möglichkeit haben, sich zu verteidigen, damit alle in einer angstfreien, friedlichen Solidarität leben können.