Autoren
Simon Affolter und Vera Sperisen arbeiten als wissenschaftliche Mitarbeitende am Zentrum Politische Bildung und Geschichtsdidaktik an der PH der Fachhochschule Nordwestschweiz. vera.sperisen@fhnw.ch; simon.affolter@fhnw.ch
Das Interview führte Theodora Peter
Woran orientieren sich Lehrmittel? Wie präsent sind darin rassistische Wissensordnungen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich eine Lehrmittelanalyse im Auftrag der EKR. Die Studienleitenden Simon Affolter und Vera Sperisen geben in einem Werkstattgespräch Einblick in die laufenden Forschungsarbeiten.
Sie führen im Auftrag der EKR eine Lehrmittelanalyse durch. Was ist das Ziel?
Simon Affolter: Bislang gibt es in der Schweiz keine umfassende Analyse über den Status Quo der heute empfohlenen Lehrmittel. Vorarbeit geleistet haben unter anderem Rahel El-Maawi und Mandy Abu Shoak, die rassistische Wissensordnungen in Lehrmitteln thematisiert haben. In unserer Analyse interessiert uns, wie das Thema Rassismus angegangen wird. Wir nehmen damit verstärkt didaktische Zugänge in den Blick. Inwiefern sind rassistische Wissensordnungen präsent? Woran orientieren sich die Lehrmittel? Auch wollen wir von den Studienergebnissen her noch weiterdenken im Hinblick auf Empfehlungen. Wo liegt Entwicklungspotenzial? Was bedeutet dies für Lehrpersonen?
Welche Fragestellungen stehen bei der Untersuchung im Zentrum?
Simon Affolter: Zum einen geht es um die gesellschaftliche Perspektive: Welche Gesellschaft wird repräsentiert und diskutiert? Wer gehört dazu? Welche Subjekte kommen vor, welche Subjekte kommen nicht vor? Wie werden sie dargestellt in einer postkolonialen Perspektive? Was wird als das Eigene und das Fremde konstruiert? Die andere Dimension ist die Frage nach der gesellschaftlichen Teilhabe und Citizenship: Wer wird als Staatsbürgerin respektive Staatsbürger konzipiert und angesprochen? Wie wird gesellschaftliche, politische und soziale Teilhabe dargestellt für Nichtstaatsbürgerinnen und -staatsbürger. Zudem geht es um die Frage, ob und wie das Thema Rassismus aufgegriffen wird.
Vera Sperisen: Uns interessiert zudem, wie die Schülerinnen und Schülerin den Lehrmitteln adressiert werden. Wie werden sie selber in Beziehung gesetzt zu den Inhalten? Dies untersuchen wir bei den Aufgabenstellungen, die ebenfalls Teil von Lehrmitteln sind. Dabei geht es um das Verhältnis der Schülerin oder des Schülers zur Person, deren Geschichte im Lehrmittel vorkommt.
Sie stehen noch mitten im Analyseprozess. Gibt es dennoch erste Erkenntnisse Ihrer Arbeit?
Vera Sperisen: Wir untersuchen zwar den Status Quo, ziehen aber auch Vergleiche mit älteren Lehrmitteln. Dabei lässt sich eine Entwicklung feststellen: Im Vergleich zu früheren Lehrmitteln hat sicherlich eine Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus stattgefunden. So ist Diversität in den aktuellen Lehrmitteln relevanter als vor zehn Jahren. Gleichzeitig wiederholen sich bis heute tief verankerte Narrative. Wenn zum Beispiel das Thema Migration explizit auftaucht, ist es nach wie vor stark an ein Motiv gekoppelt – an dasjenige von ‘Herausforderung und Chance’. Einige Themen – wie Rassismus, Migration, Kolonialgeschichte – werden in den Lehrmitteln explizit behandelt. Daneben schauen wir auch Lehrmittel wie zum Beispiel im Fach Deutsch für die Primarstufe an, bei denen es darum geht, die Kinder ins Lesen einzuführen. Dort taucht die Dimension einer natio-ethno-kulturellen Wissensordnung sehr subtil auf. Allgemein lässt sich zum Zwischenstand sagen:
Es sind viele unterschiedliche Lehrmittel auf dem Markt, die sich wiederum auf verschiedene Weise mit dem Thema beschäftigen.
Betrachten wir die einzelnen Fragestellungen konkreter: Wie wird in den Lehrmitteln das Eigene und das Fremde konstruiert?
Simon Affolter: Grundsätzlich muss man festhalten, dass sich das Eigene mehrheitlich durch Konstruktion des Fremden festigt. Erst durch die Abgrenzung des Fremden wird das Eigene überhaupt fassbar. In den Narrativen der Lehrmittel geht es darum herauszufinden, inwiefern der Blick aufs Fremde als Wissensordnung zum Fundament der Betrachtung wird. Das zeigt sich zum Beispiel, wenn Schriften anderer Religionen damit erklärt werden, dass sie «von hinten nach vorne» gelesen werden. Diese Beschreibung festigt auf subtile Art und Weise die Vorstellung von Normalität. Doch was ist normal? Von «vorne nach hinten» oder «von hinten nach vorne»? Das ist letztlich eine Frage der Betrachtung. Darüber hinaus treten häufig immer wieder kulturelle Zuschreibungen auf, wie zum Beispiel das Essen auf dem Boden. Das Fremde wird oft näher bei folkloristischen Traditionen angesiedelt als das Eigene. Das sind wiederkehrende Muster, die sich erkennen lassen.
Vera Sperisen: Zur Konstruktion des Eigenen und des Fremden gibt es auch Beispiele im Bereich der Aufgabenstellung. In einem Lehrmittel des Fachbereichs Ethik-Religion-Gemeinschaftenlautet ein Auftrag an die Schülerinnen und Schüler: «Bring den Islam und dessen Rituale mit deiner eigenen Religion in Verbindung. Was ist gleich, was ist anders?» Wenn die Aufgabe so gestellt wird, bedeutet das implizit, dass man davon ausgeht, dass die Betroffenen selber nicht Musliminnen und Muslime sind. Dies ist eine Herausforderung in unserer Analyse: Sehr vieles ist subtil. Wenn man vor 10 bis 15 Jahren Lehrmittel mit dem heutigen Wissensstand untersucht hätte, hätte man viele Triggerbegriffe und Darstellungen gefunden, die aus heutiger wissenschaftlicher Perspektive klar rassistisch sind. Solches treffen wir in den aktuellen Lehrmitteln viel seltener an. Das ist eine positive Entwicklung. Gleichzeitig interessieren wir uns für die strukturelle Dimension von Rassismus. Das bedeutet, dass wir mit der Analyse auf eine strukturelle Ebene gehen müssen, die viel weniger greifbar ist. Aufgrund der Auseinandersetzung, die seit Jahren geführt wird, wirken heute eher die Sedimente und weniger die offenen und greifbaren ideologischen Rassismen. Das macht es aber für uns als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Lehrpersonen, Schülerinnen und Schüler schwieriger, diese Sedimente überhaupt zu erkennen.
Wer kommt in den Lehrmitteln vor und wer nicht? Wie werden die Subjekte dargestellt?
Vera Sperisen: Wenn man die Lehrmittel als Ganzes durchgeht, kann man untersuchen, welche Art von Repräsentationen vorkommen. Zum Beispiel findet sich ein Bild eines Speerfischers in einem Lehrmittel zum Fachbereich Natur-Mensch-Gesellschaft. Die Darstellung ist per se nicht problematisch. Doch wenn man dann feststellt, dass dies im gesamten Werk das einzige Bild einer Person of Colour ist, dann erhält dies eine ganz andere Bedeutung – nämlich die, dass People of Colour einzig in exotisierender Form vorkommen. Es geht in diesem Fall um die strukturelle Frage, welche Repräsentationsfunktion das Bild im entsprechenden Lehrmittel hat.
Simon Affolter: Wir stellen fest, dass durchaus unterschiedliche Menschen repräsentiert werden, und auch in der Bildsprache dringt ein Diversitätsaspekt durch. Doch oft taucht dann wieder das standardisierte Bild von «Normalität» auf. So wird etwa im Fach Biologie bei der Darstellung von Körperteilen eine weisse Hand gezeigt. Die «Anderen» tauchen dann auf, wenn es um unterschiedliche Lebensformen geht oder im Rahmen des Fachs Geschichte, zum Beispiel bei der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus. Die Subjekte sind dann eher unzivilisiert, naturnah oder fremd. Kommt dazu, dass in einer eurozentrischen Geschichtsschreibung aussereuropäische Narrative lediglich in einzelnen Berührungspunkten erscheinen.
Vera Sperisen: Was zum Thema Vielfalt in Darstellungen auch noch auffällt: Bislang haben wir erst zwei Bilder von Kindern of Colour gefunden, welche alleine abgebildet sind. Das ist insofern bemerkenswert, weil in den Lehrmitteln viele Kinder in Einzelsituationen zu sehen sind. Bei Kindern of Colour ist dies aber offensichtlich selten der Fall. Repräsentationen von Diversität kommen dort vor, wo dies auch gesellschaftlich diskutiert wird – zum Beispiel in Kapiteln wie «Ich und meine Familie». Dort scheint es ein Bewusstsein für Vielfalt zu geben.
Wie kommen Minderheiten wie Sinti, Roma und Jenische in den Lehrmitteln vor?
Simon Affolter: Wir wissen, dass es dazu Beispiele gibt. Sie sind uns bei der Analyse aber bislang nicht begegnet. Grundsätzlich stellt sich dabei die Frage: Werden Sinti, Roma und Jenische als Teil einer Wir-Geschichte oder als Darstellung fremder Lebensarten der «Anderen» behandelt?
Welche Gesellschaftskonzepte werden in den Lehrmitteln vermittelt?
Vera Sperisen: Unser Fokus liegt stark auf natio-ethno-kulturellen Wissensordnungen. In Zusammenhang mit Schule und Chancengleichheit ist aber auch die Klassenzugehörigkeit respektive das soziale Milieu von Bedeutung. Dies zeigt sich zum Beispiel in einem untersuchten Lehrmittel aus dem Fachbereich Wirtschaft-Arbeit-Haushalt, wo mehrheitlich ein erfolgsorientiertes, mittelständisch-bildungsbürgerliches Milieu von primär weissen Familien abgebildet wird. Auch bei den Themensetzungen steht deren Lebenswelt im Zentrum. Aus der Forschung wissen wir, dass die Schule auf Kinder zugeschnitten ist, die aus dieser sozialen Schicht stammen. Mit einem solchen Hintergrund kann man statistisch gesehen die Schullaufbahn am erfolgreichsten durchlaufen.
Stellen Sie Unterschiede zwischen den Landesteilen fest?
Simon Affolter: Die in der Westschweiz verwendeten Lehrmittel werden an der Pädagogischen Hochschule Freiburg untersucht. Wir stehen im Austausch und stellen Parallelitäten fest. Die Resultate werden wir am Schluss der Arbeiten zusammenführen. Wir sind selber gespannt darauf, welche Gemeinsamkeiten und allfälligen Unterschiede sich herausstellen werden.
Wo müsste man ansetzen für Veränderungen, etwa bei der Entwicklung von Lehrmitteln?
Simon Affolter: Es ist zu früh, in diesem Stadium der Analyse schon Empfehlungen zu formulieren. Klar ist, dass ein Konzept fehlt. Die grundsätzliche Auseinandersetzung mit Rassismus findet kaum statt. Das ist auch strukturell im Schulbetrieb begründet: Der Begriff Rassismus ist im Lehrplan nicht präsent, was sich auch in den Lehrmitteln zeigt. Es gibt eine Art Leerstelle. Damit bricht eine Perspektive weg, um die Thematik auf gesellschaftlicher Ebene kritisch zu durchdringen und im Unterricht zu bearbeiten. In den Lehrmitteln gibt es Anknüpfungspunkte, um Verbindungen zu schaffen zu alltäglichen Rassismuserfahrungen von Schülerinnen und Schülern oder auch zu strukturellem Rassismus in der Gesellschaft. Aber das findet nicht statt, weil über Rassismus als gesamtgesellschaftliches Phänomen nicht gesprochen wird. Es braucht diese Perspektive, um überhaupt eine kritische Auseinandersetzung führen zu können.
Wenn Diskriminierungserfahrungen von einzelnen Subjekten in einem Lehrmittel nicht auf dieser Ebene analysiert und dabei gesellschaftliche Machtverhältnisse thematisiert werden, dann lässt sich das Thema nicht durchdringen. Dann erscheinen bald Kulturalisierungen als Erklärungen für Ungleichheiten, ohne dass Rassismus als für Ungleichheit relevant betrachtet wird.
Vera Sperisen: Wir sind daran, zwei Spuren zu entwickeln: Zum einen, dass man die Auseinandersetzung um Fragen der Zugehörigkeit führt. Und diese Auseinandersetzung darf durchaus auch Ambivalenzen aufweisen. Zum anderen, dass man die Ungleichheit als gesellschaftliches Phänomen näher betrachtet – und die beiden Dinge dann miteinander verknüpft. Die klassischen Fragen zum Verstehen von gesellschaftlichen Verhältnissen und der eigenen Rolle darin lauten: Was sind meine Handlungsmöglichkeiten und Handlungsgrenzen in dieser Gesellschaft? Und was sind die Handlungsmöglichkeiten und Handlungsgrenzen meines Gegenübers? Wie erklärt sich dieser gesellschaftliche Zustand? Und was kann und will ich innerhalb meines Handlungsspielraums verändern? Der richtige Ort für diese Fragen ist die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen. Denn sogar mit Lehrmitteln, die als problematisch beurteilt würden, kann man rassismuskritischen Unterricht betreiben – indem man Bilder oder Narrative zur Disposition stellt und überlegt, was dahintersteckt. Damit ich richtig verstanden werde: Ich finde es toll, wenn es gute Lehrmittel gibt. Und es gibt sie durchaus. Man muss aber verstehen, dass die Materialien Zeitzeugnisse einer Debatte und eines Wissensstands sind, die jeweils ein paar Jahre zurückliegen. Dies aus dem einfachen Grund, dass die Inhalte jeweils auch didaktisch aufgearbeitet werden müssen, was Zeit braucht. Und die Lehrmittelentwicklung findet stets in einem engen Rahmen von Lehrplänen und bildungspolitischen Entscheidungsprozessen statt. Das heisst: Die Weiterentwicklung von Lehrmitteln ist ein völlig normaler Prozess. Und: Mit den aktuellen Lehrmitteln muss nicht per se ein schlechterer Unterricht stattfinden.
Wie werden die Lehrpersonen von den Erkenntnissen Ihrer Analyse profitieren können?
Vera Sperisen: Für die Lehrpersonen soll es Empfehlungen geben. Wir planen eine Art Leitfaden zum Umgang mit aktuellen Lehrmitteln. Viele der heutigen Lehrmittel sind aus didaktischer Sicht ausgesprochen gut. Es geht darum, eine Perspektive zu entwickeln, die dazu führt, dass man im Umgang mit den Lehrmitteln nicht rassistische Wissensordnungen reproduziert. Es ist uns bewusst, dass das Thema komplex ist, und es ist unsere Aufgabe, diese Komplexität auf eine praktische Ebene zu übersetzen.
Simon Affolter: Toll an dieser Studie ist, dass viele Akteurinnen und Akteure – unter ihnen Bildungsinstitutionen – beteiligt sind. Das ist eine grosse Chance, damit die Empfehlungen auch tatsächlich wirkungsmächtig werden. Das funktioniert nur, wenn viele dafür die Verantwortung übernehmen, die Inputs zu verbreiten und umzusetzen. Unsere Analyse soll nicht für die Schublade sein.
Das Interview fand im Juni 2022 statt. Die Lehrmittelanalyse wird Anfang 2023 publiziert.