Autor
Matteo Gianni ist Professor am Departement für Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen sowie Mitglied des Institut d’études de la citoyenneté (InCite) der Universität Genf. Seit 2014 ist er zudem Mitglied von «NCCR – On the move», einem nationalen Kompetenzzentrum für Migrations- und Mobilitätsforschung mit Sitz an der Universität Neuenburg. Matteo.Gianni@unige.ch
Das Ende des biologischen Rassismus bedeutet längst nicht das Ende des strukturellen Rassismus. Struktureller Rassismus lebt in essentialisierten und naturalisierten Konzepten wie Ethnizität, Kultur oder Religion fort und wird durch sprachliche Formulierungen und oft unbewusstes Verhalten vermittelt. Will man ihn bekämpfen, muss die individuelle Logik der Rassismusbekämpfung aufgegeben werden, um auf institutioneller und kollektiver Ebene zu handeln und «Rasse» als politische Kategorie sichtbar zu machen. So erhalten Angehörige rassisierter Minderheiten eine Stimme.
Bin ich, männlich, weiss, Universitätsprofessor (und daher privilegiert), mittleren Alters (und somit gut situiert), berechtigt und legitimiert, über strukturellen Rassismus zu schreiben? Meine Situation ist die Summe von sich überschneidenden Privilegien, während sich die Lebensumstände von rassisierten Menschen, über die ich schreiben soll, im Allgemeinen aus einer ganzen Reihe von Benachteiligungen und Ausgrenzungen ergibt. Wie sollte ich über sie oder in ihrem Namen schreiben, wo sie das doch sehr gut selbst könnten, noch dazu aus eigener Erfahrung heraus? Diese Fragen sind mir durch den Kopf gegangen, als mir Tangram angeboten hat, bei dieser Ausgabe mitzuwirken. Nach reiflicher Überlegung habe ich zugesagt, bin mir jedoch nach wie vor nicht sicher, ob es die richtige Entscheidung war. Ich frage mich tatsächlich, ob ich, indem ich für rassisierte Menschen spreche, nicht selbst dazu beitrage, ein Herrschaftssystem zu reproduzieren und ein illegitimes Privileg zu legitimieren, nämlich das Privileg, kulturelle Macht zu haben und eine autorisierte öffentliche Stimme. Zwar halte ich dies für vereinbar mit meinem politischen und akademischen Wissen, es ist aber, über meine Person hinaus, auch ein Privileg, das auf einer langen Geschichte der Ausgrenzung beruht.
Ich kann mir vorstellen, was gewisse Leserinnen und Leser von meiner Ratlosigkeit halten. Viele werden meine Bedenken wahrscheinlich als unnötig oder als übertriebene, an Universitäten und in progressiven Kreisen vorherrschende Manifestation politischer Korrektheit betrachten. Ich glaube, sie liegen falsch, denn diese Fragen sind nicht nur aus politischer Sicht berechtigt, um politisches Unrecht zu vermeiden, (wenn zum Beispiel im Namen anderer gesprochen und deren Stimme untergraben wird), sondern vor allem auch aus intellektueller und ethischer Sicht. Sich diese Fragen nicht zu stellen – sei es aus Gründen der Kompetenz, der Sichtbarkeit, der Verdienste, des Status oder aus anderen Gründen –, könnte tatsächlich als Indiz dafür gewertet werden, dass struktureller Rassismus fortbesteht.
Das Konzept des strukturellen Rassismus versteht Rassendiskriminierung als Ergebnis struktureller Mechanismen, die rassisch begründete Machtverhältnisse aufrechterhalten, die wiederum über Ausgrenzungen und Privilegien entscheiden. Struktureller Rassismus bedeutet im Wesentlichen, dass bestimmte Gruppen unter Ausgrenzung, Unterordnung und Benachteiligung leiden, die in der Gesellschaft verwurzelt sind und sich im Laufe der modernen, stark durch die koloniale Logik strukturierte Geschichte herauskristallisiert haben. Wie verschiedene Forscherinnen und Forscher aufgezeigt haben, sind auch Staaten wie die Schweiz, die nicht direkt am Kolonialismus beteiligt waren, nicht vor der Kolonial- und Rassenideologie gefeit, da letztere wirtschaftliche, soziale und politische Praktiken geprägt hat, deren Dynamik und Auswirkungen weltweit spürbar waren (Purtschert et al., 2013).
Obwohl das Konzept von menschlichen biologischen «Rassen» heute nicht mehr haltbar ist und die Erscheinungsformen von Rassismus daher im öffentlichen Raum zunehmend stigmatisiert werden oder Rasse tabuisiert wird, was an andere Orte und Zeiten erinnert (Michel, 2020), wirkt Rassismus in den heutigen Gesellschaften weiter. Genauer gesagt bedeutet das Ende des Begriffs des biologischen Rassismus nicht das Ende der Rassisierung, d. h. des Prozesses, in dem eine dominante Gruppe einer oder mehreren dominierten Gruppen entmenschlichende und erniedrigende Merkmale zuschreibt, und zwar durch Formen der Verunglimpfung, der Unterdrückung, der direkten oder institutionellen Gewalt, die einen Zustand materieller und symbolischer Benachteiligung und Ausgrenzung schaffen (Young, 1990). Essentialisierte und naturalisierte Begriffe wie Ethnizität, Kultur, Identität, Religion, Herkunft oder Migrationsstatus haben die Rasse in rassisierenden Gesprächen und Praktiken ersetzt. In Sprachformen, Symbolen, Verhaltensweisen und sozialen Praktiken verwurzelte rassistische Vorurteile, die als «normal» angesehen werden, haben Diskriminierung, Gewalt, psychische Verletzungen und Benachteiligungen zur Folge, ohne unbedingt von den Angehörigen der kulturellen Mehrheit als problematisch oder ungerecht empfunden zu werden. Dass Rassismus fortbesteht und sich manifestiert, ist daher für Angehörige der kulturellen Mehrheit oft ein unbewusster Prozess.
Um die Logik des strukturellen Rassismus in liberalen und demokratischen Gesellschaften zu verstehen, muss man sich mit einem Erklärungsmodell auseinandersetzen, das im Angelsächsischen als postracialism bezeichnet wird, als postrassialistisches Paradigma (Taylor, 2014). Dabei handelt es sich um einen institutionellen und gesellschaftlichen Diskurs, wonach der mit Kolonialismus und Segregation verbundene Rassismus beseitigt ist. Insofern Rassismus durch Antirassismus- und Antidiskriminierungsmassnahmen ausgemerzt wurde, wäre er, wenn er sich manifestiert, nicht auf institutionelle, kulturelle oder systemische Gründe zurückzuführen, sondern auf «abweichende» Verhaltensweisen Einzelner. So gesehen ist die Gleichstellung der Rassen heute eine gesetzlich verankerte Tatsache, die von einer in Sachen Hautfarbe farbenblinden Gleichstellungspolitik (politics of color blindness) vorangetrieben wurde, die die Rassenprivilegien ausgehebelt hätte.
Postrassialistische Positionen anerkennen die Auswirkungen eines strukturellen Rassismus oder einer – stets präsenten – Vergangenheit rassischer Hierarchisierung nicht. Aus Sicht der kritischen Rassentheorie haben diese Positionen im Grunde genau den gegenteiligen Effekt als erhofft: Im Namen einer formalen und rechtlichen Gleichstellung führen sie wieder zu rassischen Diskriminierungen, selbst wenn diese auf einem Rassismus «ohne Rasse» (racelessness) beruhen (Michel, 2020), da die Logik der Farbenblindheit im Gegensatz zur Erzeugung von rassischen Kategorien steht. Wie beim magischen Denken wird die Blindheit gegenüber ethnischen oder rassischen Unterschieden als Mittel zur Gleichstellung zwischen den Mitgliedern der Mehrheit und der Minderheit betrachtet. Wäre das wirklich der Fall, wäre es längst bekannt! Viele Fachleute stellen fest, dass die rassische Struktur weiterhin präsent bleibt, allerdings eher in impliziten Praktiken und Diskursen und ohne dass immer auf explizite rassische Kategorien verwiesen wird.
Rasse und die damit zusammenhängende Diskriminierung nicht zu «sehen», trägt also wenig dazu bei, rassistische Strukturen zu dekonstruieren oder die Alltagsbedingungen rassisierter Menschen konkret zu verbessern. Will man ungerechte und diskriminierende Strukturen abbauen, ist es notwendig, Rasse sichtbar zu machen, insbesondere als politische Kategorie. Die Betrachtung der Rasse als politisches Thema – und nicht nur als ethisches, historisches, biologisches oder sonstiges Thema – ermöglicht es, zu verstehen, welche Auswirkungen sie in einem bestimmten Kontext hat, zum Beispiel, wer vom Konzept der Rasse profitiert, wer aufgrund von Rassenvorurteilen Nachteile erleidet (in Beruf, Medizin, Gesundheit usw.) und wer Macht und Privilegien geniesst. Die Tabuisierung der Rassisierung verstärkt strukturellen Rassismus.
Strukturelle Probleme erfordern komplexe, mehrdimensionale Lösungen. Patentrezepte gibt es nicht. Dennoch scheint es mir wichtig, zwei Lösungswege zu skizzieren, die neben der Stärkung der Antidiskriminierungspolitik und der Bekämpfung rassistischer Äusserungen im öffentlichen Raum dazu beitragen können, dieses Ziel gemeinsam anzugehen.
Der erste Weg besteht darin, sich politisch bewusst zu werden, dass man sich zur Bekämpfung des strukturellen Rassismus von einer rein individuellen Logik der Rassismusbekämpfung verabschieden muss. Dabei ist es sicherlich notwendig, jene Personen zu unterstützen, die nicht über die entsprechenden materiellen, rechtlichen, kulturellen oder symbolischen Mittel verfügen, um mit dem gleichen Respekt behandelt zu werden (Galeotti, 2010). Wird der Schwerpunkt systematisch auf individuelle Faktoren gelegt, werden die strukturellen Ursachen von Benachteiligungen und Ausgrenzungen verschleiert. Daher ist es notwendig, auf institutioneller und kollektiver Ebene zu handeln, beispielsweise durch die Entwicklung neuer Organisationsformen (Präsenz von Minderheitenmitgliedern, Public-Management-Kriterien, die für das Problem der Rassisierung sensibel sind, usw.).
Der zweite Weg führt über die Anerkennung der politischen Stimme der Angehörigen rassisierter Minderheiten und die Wertschätzung ihrer politischen Vorschläge. Dies setzt voraus, dass die Politisierung der Rasse als Faktor des sozialen und politischen Wandels akzeptiert wird. Den Angehörigen rassisierter Minderheiten eine politische Stimme und Präsenz zu geben, bedeutet zum Beispiel, gegen epistemische Ungerechtigkeit zu kämpfen (Della Croce, Gianni und Marino, 2021) und somit das legitime Wissen und die legitime Erfahrung von Mitgliedern rassisierter Gruppen einzubeziehen. Ein fundierter Austausch unter Achtung der Unterschiede ermöglicht es, gemeinsam über Werte, Zugehörigkeiten und Institutionen zu diskutieren und diese in einem integrativeren und gerechteren Sinne zu verändern. Es wird allerdings niemals möglich sein, das Übel des Rassenessentialismus auszurotten, indem man ihn durch andere Essentialismen ersetzt, die per Definition keine vernünftigen Überlegungen und keine von allen mitgetragenen Kollektivveränderungen zulassen.
Nur unter diesen Voraussetzungen wird die Idee einer postrassischen Gesellschaft nicht nur ein von der Mehrheit diktierter Slogan sein, sondern ein echtes Ideal, das es anzustreben gilt, damit eine soziale und kulturelle Gerechtigkeit erreicht wird, die diesen Namen auch verdient.
Bibliografie:
Della Croce, Y., Gianni, M., Marino, V. (2021). «What’s True in Truth and Reconciliation? Why Epistemic Justice is of Paramount Importance in Addressing Structural Racism in Healthcare», The American Journal of Bioethics 21:3, 92–94.
Galeotti, AE. (2010). La politica del rispetto. Bari: Laterza.
Michel N. (2020). «Rassismus ‹ohne Rasse›», Tangram 44: 84–88
Purtschert P., Falk F., Lüthi B. (Hg.) (2013). Postkoloniale Schweiz: Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien. Transcript Verlag.
Taylor Paul C. 2014. «Taking Post-Racialism Seriously: From Movement Mythology to Racial Formation». Du Bois Review, 11 (1): 9–25.
Young, iris (1990). Justice and the Politics of Difference. Princeton: Princeton University Press.