TANGRAM 47

Wie Bilder unseren Blick auf die koloniale Welt und die koloniale Schweiz geprägt haben

Autor

Patrick Minder ist Geschichtslehrer am Kollegium St. Michael und Lehr- und Forschungsbeauftragter für Geografie- und Geschichtsdidaktik an der Universität Freiburg (ZELF). Er befasst sich mit Kulturgeschichte und Ikonografie. patrick.minder@unifr.ch

Die Schweiz hatte keine Kolonien. Dominanzhaltungen und rassistische Diskurse verbreiteten sich hier aber nicht weniger als in den europäischen Kolonialstaaten. Bilder mit kolonialen Motiven trugen wesentlich zur Konstruktion kolonialer Vorstellungen in der Schweiz bei. Repräsentationen des Anderen, des Wilden wurden auch als Gegensatz zur aufstrebenden westlichen Moderne herangezogen.

Ereignisse der jüngeren Vergangenheit (Black lives matter) rücken die Frage des Rassismus in der Schweiz wieder stärker in den Vordergrund und erfordern eine neuerliche Auseinandersetzung mit der Art und Weise der nationalen Identitätsbildung und der Positionierung der Schweiz innerhalb der westlichen Grossmächte. Auch andere Aspekte wie die von religiösen und wissenschaftlichen Kreisen konstruierten Stereotype und diskriminierenden Diskurse müssen betrachtet werden, um die Haltung der Schweiz gegenüber dem Kolonialismus beurteilen zu können. Ein Blick auf die reproduzierten und verbreiteten Bilder trägt zu einem besseren Verständnis der historischen Hintergründe des rassentheoretischen Diskurses in der Schweiz bei.

Beginnen wir mit dem Verständnis der Schweiz als Nation: Die moderne schweizerische Identität hat sich erst mit der Bundesverfassung von 1848 wirklich herausgebildet, als sich die Eidgenossenschaft in die Reihe der europäischen Nationalstaaten einordnete. 1883 fand in Zürich die erste Schweizerische Landesausstellung statt, die zweite folgte 1896 in Genf, und nach intensiven Debatten wurde 1891 zum ersten Mal das Datum des 1. August als Nationalfeiertag festgelegt. In der gleichen Zeit industrialisierte und urbanisierte sich die Schweiz in rasantem Tempo dank technischer Innovationen, der Erschliessung neuer Energiequellen und des sich ausweitenden Strassen- und Schienennetzes. Diese tiefgreifenden Veränderungen verstärkten die sozialen Gegensätze und erschütterten das Verhältnis zwischen der Stadt als Spiegel der Moderne und dem Land, das als in der Tradition verhafteter Mythos wahrgenommenen wurde.

Dieser Zusammenhang ist wichtig für das Verständnis der aufkommenden und sich verbreitenden kolonialen Ikonografie in der Schweiz, auch wenn es im Land selber keine politischen Bestrebungen nach territorialer Inbesitznahme gab. Die Bilder trugen dazu bei, der Schweiz einen Platz unter den fortschrittlichsten Nationen der Welt zu verschaffen und diese Position unhinterfragt durch Grossveranstaltungen wie die Landesausstellungen zu festigen und die gesamte Bevölkerung für ein gemeinsames Bildungs- und Zivilisationsprojekt zu mobilisieren.

Wie wurden koloniale Bilder in der Schweiz produziert und verbreitet? Im 19. Jahrhundert erlebte die Werbung einen beispiellosen Aufschwung; das Plakat als Werbeträger wurde modernisiert und verbreitete sich in sämtlichen Metropolen der Welt. Illustrierte, Magazine und Sammelbilder erreichten nun sämtliche Zielgruppen (auch Frauen, Jugendliche, Kinder). Dasselbe gilt für Freizeitangebote, Zoos, Zirkusse und Attraktionen aller Art. Die Postkarte, früher eine schlichte weisse Korrespondenzkarte, wurde neu mit Illustrationen und Fotografien gestaltet, die Postkartenproduktion stieg auf unerreichte Höhen. Die Jahrhundertwende war visuell geprägt, Bilder wurden weltweit verbreitet.

Wie die Bilder rezipiert und die Stereotype wahrgenommen wurden, ist hingegen schwer zu beurteilen. Klar ist aber in jedem Fall, dass stereotype Darstellungen von afrikanischen Menschen, die auch in die Schulbücher Eingang fanden, ein Fenster darstellten, durch das Schweizerinnen und Schweizer aller sozialen Schichten auf «das Andere» blickten.

In der Schweiz diente die Figur des «Afrikaners», und die des Wilden, Barbarischen oder Unzivilisierten allgemein, als Gegenbeispiel zu Entwicklung und Modernität. Die Produktion und Verbreitung von Darstellungen des «Afrikaners» versetzte die Schweizer Betrachtenden in eine Haltung der Selbstzufriedenheit und Überlegenheit und überzeugte sie von der technologischen Macht und ideologischen Unfehlbarkeit des Westens.

Schweizerinnen und Schweizer, die an der kolonialen Expansion und Ausbeutung beteiligt waren, verbreiteten die gleichen Stereotype über die kolonisierten Völker wie die anderen Europäerinnen und Europäer. Der rassistische Diskurs verstellte ihren Blick auf die Welt, lange bevor sie zu exotischen Tourismusdestinationen aufbrachen. Deshalb präsentierten, legitimierten und reproduzierten Schweizer und andere westliche Missionare, Entdeckerinnen, Abenteurer und Kaufleute, die über keinerlei wissenschaftliche Kenntnisse verfügten, immer wieder die gleichen Bilder. Anders als in anderen europäischen Ländern war die Menge der verbreiteten kolonialen Bilder in der Schweiz allerdings sehr gering. Dies ist insofern nachvollziehbar, als die Kolonialreiche mit diesen Bildern ihre aktive Präsenz in den kolonisierten Gebieten zu rechtfertigen suchten.

Der Text auf der Rückseite einer Postkarte, die eine Gruppe afrikanischer Kinder zeigt, verdeutlicht, wie stark die Schweizer Repräsentantinnen und Repräsentanten vor Ort vom westlichen Rassendiskurs geprägt waren. Die Karte mit dem Bildtext «Eine Handvoll Eingeborener» wurde von einer Waadtländer Missionarin aus Elim (Südafrika) an ein kleines Mädchen in Pampigny (Kanton Waadt) geschickt (ohne Datum): «Sehr lieb von dir, an meine kleinen Negerlein zu denken. Hier ist eine ganze Kinderbande, die dich mit grossen Augen anschaut, weil Milines Haut weiss und rosa ist.»

Die koloniale Ikonografie in der Schweiz lässt sich nicht allein durch den Einfluss der europäischen Kolonialmächte und der Missionarinnen und Missionare in Afrika erklären. Auch der Gelehrtendiskurs spielte bei der Verbreitung von Stereotypen eine gewichtige Rolle. Er verstärkte die Überzeugungen und Vorurteile gegenüber Afrikanerinnen und Afrikanern. Mit führenden Fachleuten, Forschern, Professoren, Instituts- und Museumsleitern beteiligte sich die Schweiz an der hierarchisch geschlossenen Organisation der Welt, die sich zuerst das Lebendige und dann die anderen Wissenschaftsbereiche vornahm. Im Kontext der kolonialen Expansion bestand das Klassifizieren darin, Menschen in Rassen einzuteilen und sie innerhalb der Rasse nach Geschlecht und sozialer Stellung zu hierarchisieren: Zuoberst stand der weisse Mann.

Wie schon bei kolonialen und missionarischen Unternehmungen dienten die Bilder auch der Wissenschaft. Auch wenn die Fotografie, die reale Momente auf ein festes Medium bannt, als objektiv gelten mag, so verbreitete sie letztlich doch rassistische Stereotype. Wurden menschliche Exemplare in «Völkerschauen» vorgeführt, veröffentlichten die Veranstalter rasch positive Einschätzungen von Experten über die seriösen Absichten solcher Unterfangen. In Genf hielt 1896 der Anthropologe Emile Young, der Nachfolger von Carl Vogt, in einem Saal voller Gleichgesinnter einen Vortrag über Rassenkriterien. Er veranschaulichte diese an Menschen, die er zu diesem Zweck aus dem städtischen «Negerdorf» holen liess.

Bei der kritischen Lektüre der Arbeiten zum Thema fällt auf, dass Analyseraster fehlen, die die Schweiz in einen grösseren historischen Zusammenhang stellen könnten. Und bis heute wurden noch keine umfangreichen Vergleichsarbeiten mit anderen europäischen Ländern ohne Kolonialbesitz (skandinavische Länder) durchgeführt, um die Kräfte besser zu verstehen, die bei der Konstruktion von Mentalitäten zum Tragen kommen.

Es gab – mit Ausnahme der Anarchisten – viel zu wenige Stimmen, die die koloniale Ausbeutung und den Kolonialismus insgesamt kritisierten. Und angesichts der allgemein akzeptierten Diskurse, Bilder und Darstellungen konnten sich diese Stimmen kein Gehör verschaffen. Der übermächtige Mechanismus der übereinstimmenden diskursiven Praxis führte dazu, dass sich in der Schweiz koloniale Vorstellungen verbreiten und entwickeln konnten, obwohl das Land keine eigenen Kolonien hatte. Wollen wir den Blick, mit dem man das «Andere» und das «Fremde» betrachtete und heute noch betrachtet, besser verstehen, drängt sich das Studium der Bilder dieser kolonialen Welt, ihrer Produktion und Rezeption auf.

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