TANGRAM 35

Editorial

Autorin

Martine Brunschwig Graf ist Präsidentin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus EKR

Am 25. September 1994 haben 54,6 % der Stimmenden die Einführung einer Norm ins Strafgesetzbuch und ins Militärstrafgesetzbuch angenommen, die eine Bestrafung von Rassismus, rassistischen Äusserungen, Aufrufen zu Rassenhass und Leugnung von Völkermord erlaubt. Der Wortlaut ist, wie immer in der Schweiz, das Resultat eines Kompromisses. Die Strafnorm gilt nur für den öffentlichen Raum und/oder wenn der Wille zur Verbreitung rassistischer Ideen nachgewiesen wird.

Trotz des deutlichen Entscheids des Parlaments wurde die Abstimmungskampagne äusserst engagiert geführt, was sich auch im Ergebnis der Volksabstimmung widerspiegelte. 20 Jahre später darf man sich fragen, ob die Vorbehalte der Gegner berechtigt waren, deren Hauptargument gegen Artikel 261bis die Befürchtung eines Beitritts zur UNO «durch die Hintertür» war. Heute wissen wir, dass nicht die Strafnorm zur Annahme der Volksinitiative vom 3. März 2002 zum Beitritt der Schweiz zur UNO geführt hat!

Die Gegner von damals waren im Übrigen der Ansicht, Artikel 261bis richte sich gegen die Schweizer Bürgerinnen und Bürger. Sie befürchteten, dass die Bevorzugung von Schweizerinnen und Schweizern auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt eine Strafverfolgung bewirken könnte. Betrachtet man die aktuelle Situation, sieht man, dass wir weit entfernt sind! Derzeit fehlen sogar Bestimmungen im Strafgesetz, um beispielsweise gegen die Diskriminierung bei der Anstellung oder bei der Wohnungssuche aus Gründen der Hautfarbe oder des fremd klingenden Namens vorgehen zu können! Und man sieht Slogans ins Kraut schiessen, die die nationale oder kantonale Bevorzugung auf dem Arbeitsmarkt propagieren, ohne dass sich jemand daran stösst.

Die weiteren Befürchtungen der damaligen Gegner, dass bestraft würde, wer die Asyl- und Einwanderungspolitik kritisiert, haben sich bei der Umsetzung der Strafnorm nicht bewahrheitet. Die Praxis ist hier so restriktiv, dass auch gegen äusserst umstrittene politische Plakate nie gerichtlich vorgegangen wurde.

Ein anderes Gegnerkomitee fürchtete 1994 um die Meinungsäusserungsfreiheit. Die Überprüfung der in den vergangenen 20 Jahren ausgesprochenen Urteile zeigt jedoch, dass die Meinungsfreiheit von den Richtern stets berücksichtigt wurde, und dies bisweilen so weitgehend, dass man die Folgen der restriktiven Umsetzung ernsthaft bedauern muss, beispielsweise im Zusammenhang mit dem Hitlergruss auf der Rütliwiese.

Man könnte mit vielen weiteren Darstellungen belegen, dass die damaligen Befürchtungen unbegründet waren. Die Antirassismus-Strafnorm war und bleibt unerlässlich. Der Hauptgrund liegt nicht in unseren internationalen Verpflichtungen, auch wenn diese wichtig sind. Viel wichtiger ist die Norm, weil sie uns alle schützt, Schweizerinnen und Schweizer, Ausländerinnen und Ausländer, Frauen und Männer jeglicher Herkunft, Gläubige und Ungläubige. Sie ist ein unentbehrliches Instrument unseres Rechtsstaates, denn sie setzt die Grenze, jenseits welcher die Menschenwürde durch Taten und Worte verletzt wird.

Artikel 261bis könnte vielleicht verbessert oder gar verschärft werden. An Ideen mangelt es nicht. Doch heute geht es vor allem um die Bestätigung, dass der Entscheid vom
25. September 1994 richtig und wichtig war.