TANGRAM 35

20 Jahre «Rassismus» in der Schweiz

Autor

Michele Galizia ist seit 2001 Leiter der Fachstelle für Rassismusbekämpfung FRB. Von 1995 bis 2000 war er verantwortlich für Forschung, Tagungen und Publikationen der EKR.
michele.galizia@gs-edi.admin.ch

Mit dem Abstimmungskampf zur Antirassismus-Strafnorm fand der Begriff des Rassismus Eingang in die sozialpolitische Auseinandersetzung in der Schweizer Gesellschaft. Die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus trug mit ihren Diskussionen und Publikationen zur Vertiefung und Differenzierung des Konzepts bei. Auf dieser Basis konnte die Fachstelle für Rassismusbekämpfung ihre pragmatische Sensibilisierungs- und Präventionsarbeit aufbauen und ihre systematische Monitoringberichterstattung entwickeln.

1994, mit der Abstimmung zur Antirassismus-Strafnorm, fand der Begriff «Rassismus» den Weg in die Schweiz. Auswertungen der Medien zeigen es auf: Erst mit dem Abstimmungskampf wurde der Begriff auch in der Schweiz systematisch zur Beschreibung hiesiger gesellschaftlicher Zustände verwendet.

1995, nach Annahme der Strafnorm, konnte die Schweiz dem Internationalen Übereinkommen gegen Rassismus CERD beitreten. Mit der Gründung der EKR verfügte sie erstmals über eine staatliche Stelle, die «Rassismus» im Namen trug und die Aufgabe hatte, die schweizerische Gesellschaft systematisch unter diesem Gesichtspunkt zu beobachten und zu analysieren. Zwar war der Begriff punktuell schon in den sechziger Jahren gebraucht worden, doch beschränkt als Kampfbegriff gegen die Ausgrenzung und Erniedrigung der arbeitenden, italienischen «Gäste».

Herantasten an ein schwieriges Phänomen

Das Besondere einer ausserparlamentarischen Kommission wie der EKR ist die Zusammenführung von Sensibilitäten, Engagement und Fachwissen unterschiedlichster Prägung. In den ersten Jahren widmeten sich die Kommissionsmitglieder engagiert und kontrovers der systematischen Abklärung bzw. Anwendung des Rassismusbegriffs auf die schweizerische Gesellschaft. Verschiedene gesellschaftliche Lebensbereiche – Jugend, Gender, Religion, Recht, Forschung, Medien, Arbeitswelt –, spezifische Ausformungen von Rassismus und die Sicht potentieller Opfer – Juden, Farbige, «Zigeuner», Muslime – wurden nach und nach thematisiert. Arbeitstagungen und darauf aufbauende Themenausgaben des neuen Publikationsorgans der Kommission, dem Tangram, dienten dazu, sich differenziert mit den unterschiedlichen Ausformungen, Sensibilitäten und möglichen Präventionsstrategien auseinanderzusetzen: Juden und Antisemitismus, Muslime und Antiislamismus mit dem ersten Auftritt von Tarek Ramadan in der Deutschschweiz, Jenische, Manusch bzw. Fahrende – die damals auf ihren Wunsch hin im Tangram kämpferisch als «Zigeuner» bezeichnet wurden.

Die Mehrheit der Kommission ging von einem theoretischen, auf dem Entkolonisierungsdiskurs beruhenden und kulturalistisch erweiterten Rassismusbegriff aus. Es war erhellend, doch manchmal auch schmerzhaft, von Vertreterinnen und Vertretern potentieller Opfergruppen zu erfahren, wie sie das abstrakte Konstrukt in ihrem Alltag erlebten und was das für die Sensibilisierungsarbeit bedeuten konnte und musste. Denkwürdig, als ein Vertreter der Schwarzen sich vehement gegen kulturalistische Rassismuskonzepte mit den Worten wandte: «Wenn die Kinder von Italienern, Serben und Türken Schweizer geworden sind, werden meine Kinder und Kindeskinder immer noch schwarz sein.» Oder der Vertreter der Jenischen, der nach einer längeren Ausführung zur Ethnogenese der Jenischen in den letzten zwei Jahrhunderten aufstand und zu den Wissenschaftlern gewandt meinte, wenn er sie recht verstehe, existiere er gar nicht. Entlarvend aber auch die Reaktionen der Kommissionsmitglieder, als bei der jährlichen Retraite, in Obwalden, die begrüssende Regierungsrätin in voller Tracht auftrat.

Die Kommission war vor eine doppelte Herausforderung gestellt: Sie musste eine eigenständige Position erarbeiten, sowohl gegenüber jenen, die grundsätzlich in Frage stellten, dass es in der Schweiz überhaupt Rassismus gibt, als auch gegenüber jenen, die die Schweizer Gesellschaft als strukturell fremdenfeindliche und rassistische Gesellschaft brandmarkten. Sie hatte andererseits die pragmatische Aufgabe, gezielte Präventions- und Sensibilisierungsvorschläge zu formulieren. Um die Grundlagen zu einer eigenständigen Position zu erarbeiten, widmete sich bereits die vierte Ausgabe von Tangram, 1998, der Frage, ob und wie man Rassismus beobachten und messen könne. Bezugnehmend auf das «Schwerpunktprogramm Zukunft Schweiz» wollte die Kommission einen Beitrag dazu liefern, dass die Dauerbeobachtung von Diskriminierungen, Rassismus und Integration zu einem Bestandteil der geplanten nationalen Sozialberichterstattung werde.

Kontroversen in der Gesellschaft

Mit dem Beginn des neuen Jahrtausends fand der Rassismusbegriff endgültig seinen Platz in der Schweiz. 2001 schloss die Unabhängige Expertenkommission Schweiz–Zweiter Weltkrieg ihre 1996 begonnenen Arbeiten mit der Publikation zahlreicher Spezialstudien und eines umfassenden Schlussberichts ab. Im selben Jahr war die Schweiz massgeblich an den Arbeiten der ersten, erfolgreich abgeschlossenen Weltkonferenz gegen Rassismus in Durban beteiligt und verpflichtete sich zur Umsetzung der Abschlusserklärung.

In diesen Jahren war auch der rechtsextreme Rand der Gesellschaft besonders aktiv. Am 1. August 2000 störte eine Gruppe Rechtsextremer die Rede von Bundesrat Kaspar Villiger auf dem Rütli. 2001 ermordeten Mitglieder eines sogenannten Ordens der arischen Ritter einen Kameraden. Bis Mitte der 2000er-Jahre machten Neonazis immer wieder mit Festen, Rechtsrockkonzerten und Schlägereien auf sich aufmerksam, parallel dazu wurde die Partei National Orientierter Schweizer PNOS gegründet. Eine Partei, die sich ausdrücklich – wie 2005 gerichtlich festgestellt – rassistisch definierte. Der Bundesrat reagierte mit dem Nationalen Forschungsprogramm NFP 40+ «Rechtsextremismus – Ursachen und Gegenmassnahmen». Dieses lieferte eine Reihe interessanter Erkenntnisse zu Ursachen und Wirkungen des Rassismus in der Schweiz.1 Das forsche und medial vielbeachtete Auftreten der Rechtsextremen einerseits, der Ruf nach Gegenmassnahmen und nach Prävention andererseits stärkte den ideologisch geprägten Rassismusbegriff: Rassismus als Ideologie, die diskriminierenden Haltungen und Taten vorausgeht.

Rassismusbekämpfung als staatliche Aufgabe

2001 entschied der Bundesrat, dass der Einsatz gegen Rassismus und für Menschenrechte eine langfristige Bundesaufgabe sei, die systematisch und in Koordination mit den Kantonen, den Gemeinden und der Zivilgesellschaft angegangen werden müsse. Die Fachstelle für Rassismusbekämpfung FRB wurde geschaffen und Finanzhilfen für Projekte gegen Rassismus und für Menschenrechte wurden gesprochen. Sensibilisierungs- und Präventionsaktivitäten konnten nun auf breiterer Ebene angeregt, vernetzt und, teilweise, finanziert werden.2 Projekte kamen von Hilfswerken, NGOs, Schulen und Schülern, von spontanen Aktionsgruppen und im Laufe der Jahre immer öfter von städtischen und kantonalen Institutionen. Die Erkenntnis begann sich durchzusetzen, dass rassistische Diskriminierung eine Bedrohung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt darstellt, dass sie aber als gesellschaftliches Problem wie andere auch beobachtet, analysiert und behandelt werden kann – und muss. Mit den seit 2014 laufenden Kantonalen Integrationsprogrammen KIP wurde die Bekämpfung von Rassismus und Diskriminierung klar verortet und an Massnahmen für alle Bevölkerungsgruppen geknüpft – also auch für Schweizerinnen und Schweizer, die aufgrund von Hautfarbe, Name, Religion oder Lebensweise diskriminiert werden. Bund und Kantone haben verbindliche Ziele und Indikatoren zur Überprüfung der Wirksamkeit der Massnahmen festgelegt.

Diesem pragmatischen Ziel ist das Mandat der FRB gewidmet: Dazu beizutragen, dass im Alltag, in allen Lebensbereichen die Regelstrukturen chancengleiche Bedingungen ermöglichen und dass Opfer rassistischer Diskriminierung fachgerechte Beratung erhalten. Nicht die Auseinandersetzung mit «Rasse» und «Rassismus» steht im Zentrum des Interesses, sondern die gesellschaftliche Kohäsion bzw. deren Bedrohung durch Ausgrenzung, Diskriminierung, Hassrede. Diese können zwar jeden und jede treffen, doch betroffen sind mehrheitlich Menschen mit Migrationshintergrund – bei rund einem Drittel der in der Schweiz lebenden Menschen ein wesentlicher Teil der Schweizer Gesellschaft. Integration, Chancengleichheit, Diskriminierungsbekämpfung – die Förderung der Integrationspolitik von Bund, Kantonen, Städten und Gemeinden ist eine der zentralen Aufgaben der FRB: mit fachlicher und finanzieller Unterstützung, aber auch mit der Bereitstellung der notwendigen Informationen und Daten.3

Umfassendes Monitoring

2007 widmete die EKR ein zweites Mal eine Ausgabe von Tangram (Nr. 20) dem Thema Monitoring. Der Präsident der Kommission, Georg Kreis, schrieb:

«Wer Vogel-Strauss-Haltungen vorzieht, wer die Monitoren wie die Überbringer unangenehmer Botschaften gleich für die Verursacher des Festgestellten und Berichteten hält, täuscht sich, wenn er im Monitoring einen Versuch sieht, die Dinge grösser zu machen, als sie ohnehin schon sind.»

Da Rassismus und rassistische Diskriminierung eine Vielfalt von unterschiedlichen Phänomenen umfassen, gibt es auch kein erschöpfendes und einheitliches System zur Erhebung von entsprechenden Daten: Daten zu Vorfällen, zu Einstellungen, Indikatoren und Wahrnehmungen und Massnahmen.

Das Versprechen, in den kommenden Jahren eine regelmässige Berichterstattung vorzunehmen, konnte schliesslich ab 2013 mit den nun alle zwei Jahre erscheinenden Berichten der FRB zur rassistischen Diskriminierung in der Schweiz eingelöst werden. Diese bieten jeweils einen Überblick über die unterschiedlichen Erfassungs-, Interventions- und Präventionsstrategien von Bund, Kantonen und Gemeinden nach Lebensbereichen – Recht, Wohnen, Arbeitswelt, Spital, Gang zur Behörde, Sport, Freizeit. Zudem gehen sie auf die spezifischen Ausformungen des Rassismus und die Sicht potentieller Opfer ein.

Der erste Bericht schuf den Referenzrahmen, auf dessen Grundlage Lücken identifiziert und langfristige Evaluationsachsen entwickelt werden; der zweite, im März 2015 erschienene Bericht bearbeitet drei Evaluationsachsen vertieft.4 Erstens werden die heterogenen Datenquellen zu einem Gesamtbild zusammengefasst. Zweitens wird ein erster Überblick über die Massnahmen gegen Diskriminierung im Rahmen der Kantonalen Integrationsprogramme KIP ermöglicht; und drittens enthält der Bericht die Ergebnisse der ersten systematischen Erhebung diskriminierender Haltungen in der Schweiz, sowohl als Gesamtüberblick wie auch auf die einzelnen Lebensbereiche bezogen.

Die Ergebnisse stammen aus der vom Forschungsinstitut gfs.bern durchgeführten Pilotstudie.5 Diese diente zur Erarbeitung eines Erhebungsinstruments, das in Zukunft vom Bundesamt für Statistik BFS im Rahmen der Volkszählung alle zwei Jahre erhoben wird.6 In den Zwischenjahren ermöglichen kürzere Zusatzbefragungen die Behandlung spezifischer Aspekte und Problembereiche. Damit werden nun zu rassistischer Diskriminierung, wie zu anderen Lebensbereichen auch – ob Arbeitslosigkeit oder Beherbergungsstatistik – Grundlagendaten erhoben, die es ermöglichen, dies zu beobachten, zu analysieren und anzugehen.

Die Ergebnisse der Umfragen werden allen Interessierten für eigene Analysen zur Verfügung stehen und als Teil der alle zwei Jahre erfolgenden Berichterstattung in das Monitoring der FRB einfliessen.

Neue Fragen und Herausforderungen

Die Pilotstudie des gfs.bern war auf fünf Jahre hin angelegt und umfasste drei Befragungswellen. Sie ermöglichte mit ausführlichen, rund 50 Minuten persönlich (face to face) durchgeführten Befragungen bei rund 1000 Schweizerinnen und Schweizern und 700 Ausländerinnen und Ausländern auch eine grundlegende Überprüfung bekannter Erklärungsansätze für Rassismus und verwandte Phänomene. Nach 20 Jahren vorwiegend theoretischer Diskussionen wurde so erstmals empirisch getestet, wie sich rassistische Einstellungen äussern, welche Faktoren dazu beitragen, wer, unter welchen Umständen, in welchen Lebensbereichen und gegenüber welchen Personengruppen eher oder eher nicht dazu neigt. Das brachte weitreichende Erkenntnisse, die für die künftige Sensibilisierungs- und Präventionsarbeit wesentlich sind, warf aber, wie jede gute Forschung, auch neue Fragen auf.

So stellt sich etwa die Frage, weshalb trotz der Zunahme von aggressiven Äusserungen gegenüber Jüdinnen und Juden im Sommer 2014 die kurz danach erfolgte telefonische (Kontroll-)Umfrage keine erhöhten Werte bei den antisemitischen Einstellungen ergab; oder ob es neben den «traditionellen» Ausprägungen neue Formen des Antisemitismus gibt, die besser erfasst werden müssen. Bezüglich Muslimfeindlichkeit legen die klar unterschiedlichen Einstellungen gegenüber Musliminnen und Muslimen einerseits und gegenüber dem Islam andererseits nahe, dass ein undifferenziertes Konzept wie «Islamophobie» nicht geeignet ist, die reale Lage zu erfassen. Auch hier stellt sich die Frage nach geeigneteren Analyseinstrumenten.

Eine wesentliche Erkenntnis aus der Pilotstudie ist schliesslich, dass der Begriff «Rassismus», wie er bisher diskutiert und verwendet wurde, die aktuellen Phänomene nicht (mehr) zureichend zu erklären vermag. Erklärungskonzepte wie Autoritarismus, autoritärer Charakter, politische Entfremdung oder Anomie greifen zumindest für die Schweiz zu kurz. Vielmehr scheinen die Ursachen von Rassismus – verstanden als Stereotypisierung und Entindividualisierung von Menschen, die man als «fremd» erachtet, für minderwertig hält und deshalb ausgrenzen darf – nicht allein weltanschaulicher Natur zu sein. Es handelt sich vielmehr um situativ zu interpretierende Folgen der sozialen Verhältnisse, der Einschätzung der Migrations- und Integrationspolitik, aber auch der Präsenz von Diskriminierung und Gewalt im Alltag. Auf dieser nun solideren Grundlage werden FRB und EKR sowie weitere Interessierte den Rassismusbegriff alltagsnäher weiter vertiefen können. Denn heute ist die Wahrnehmung von rassistischer Diskriminierung als gesellschaftliches Problem nicht mehr auf ein paar Aktive beschränkt. Zwar betrachten einige Vogel-Strauss-Politiker noch immer die Überbringer schlechter Nachrichten als Verursacher des Problems oder zumindest Nestbeschmutzer. Doch verfügt die Schweiz auf nationaler, kantonaler und Gemeindeebene über immer tragfähigere Strukturen, gezielte und effektive Präventionsarbeit zu leisten.

1 Die FRB hat die wichtigsten Forschungsergebnisse des NFP 40+ in kurzer, leicht lesbarer Form publiziert: «Strategien gegen Rechtsextremismus in der Schweiz» gibt einen Überblick über die Forschungslage, und in zwei Broschüren werden die wichtigsten Resultate von fünf Projekten dargelegt: «Jugendliche und Rechtsextremismus: Opfer, Täter, Aussteiger» und «Rechtsextremismus bekämpfen: wirksame Massnahmen und griffige Arbeitsinstrumente für Gemeinden».

2 Bundesratsbeschluss vom 27. Juni 2001.

3 Der Bundesrat gab der FRB am 22. August 2007 den Auftrag zur Erarbeitung eines Instruments zur Erhebung von rassistischen, antisemitischen und muslimfeindlichen Tendenzen in der Schweiz, mit dem Ziel, aussagekräftige Informationen zu rassistischen Einstellungen in der Schweizer Bevölkerung, deren Ursachen sowie zur Wirkung von Integrations- und Antidiskriminierungsmassnahmen zu erhalten.

4 «Übersicht und Handlungsfelder - Bericht der Fachstelle für Rassismusbekämpfung 2012»; «Rassistische Diskriminierung in der Schweiz – Bericht der Fachstelle für Rassismusbekämpfung 2014».

5 Kurzbericht «Zusammenleben in der Schweiz 2010-2014» Verbreitung und Entwicklung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Muslimfeindlichkeit und Judenfeindlichkeit. Studie im Auftrag der Fachstelle für Rassismusbekämpfung, Dezember 2014.

6 Bundesratsbeschluss vom 11. Februar 2015.