Prof. Dr. Walter Kälin ist Direktor des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte SKMR. Das SKMR ist ein Dienstleistungszentrum mit ausgewiesenen Menschenrechtskompetenzen vor allem in den Themenbereichen Migration, Polizei und Justiz, Geschlechterpolitik, Kinder- und Jugendpolitik, institutionelle Fragen und Menschenrechte und Wirtschaft. Das SKMR hat die Aufgabe, den Prozess der Umsetzung internationaler Menschenrechtsverpflichtungen in der Schweiz zu fördern und Behörden auf allen Stufen, die Zivilgesellschaft und die Wirtschaft dabei zu beraten und zu unterstützen.
Urs Güney hat Germanistik studiert und ein Praktikum bei der Fachstelle für Rassismusbekämpfung FRB absolviert. Ausserdem schreibt er als freier Journalist für NZZ Campus und andere Publikationen.
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Der weitreichende Menschenrechtschutz in der Schweiz führt dazu, dass viele Schweizerinnen und Schweizer die Bedeutung der Menschenrechte unterschätzen. Wer glaubt, diese seien nur für «die anderen», liegt falsch. Walter Kälin erklärt, wie Diskriminierung die Grundrechte untergräbt.
Kommt die Rede auf Verletzungen von Menschenrechten, denkt kaum jemand zuerst an die Schweiz. Zu Recht?
Ja und nein. Ja, weil die Schweiz nicht nur im Vergleich mit Staaten wie Syrien oder Libyen, sondern auch mit demokratischen Ländern einen ausserordentlich hohen Menschenrechtsstandard besitzt. Nein, insoweit als auch unser Land in verschiedenen Bereichen Menschenrechte nicht voll verwirklicht und punktuell im Vergleich zu anderen Staaten Nachholbedarf aufweist. Gerade im Bereich des Diskriminierungsschutzes sind uns verschiedene europäische Staaten voraus.
Einerseits sind die Menschenrechte fest in unserem Staat verankert, anderseits wurden sie in den vergangenen Jahren im politischen Diskurs immer wieder in Frage gestellt. Woher kommt dieser Widerspruch?
Menschenrechte sind etwas Paradoxes: Sie gelten für alle Menschen vorbehaltlos, werden für die Einzelnen aber erst wirklich wichtig, wenn sie bedroht sind. Da ich nicht befürchten muss, wegen Kritik am Bundesrat verhaftet und misshandelt zu werden, ist das Folterverbot für mich als Individuum bedeutungslos. Unsere Freiheit, religiös zu sein oder den Kirchen den Rücken zu kehren, stellt niemand in Frage, und sogar im Fall einer ungerechtfertigten Strafanzeige vertrauen die meisten von uns darauf, ein faires Verfahren zu bekommen. Der hohe Grad an Menschenrechtschutz in der Schweiz bedeutet, dass die Menschenrechte für die grosse Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer im Alltagsleben irrelevant geworden sind.
Wer ist aus dieser Mehrheit ausgeschlossen?
Urteile des Bundesgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte werden in der Öffentlichkeit vor allem thematisiert, wenn es um Angehörige religiöser Minderheiten, Ausländerinnen und Ausländer oder Familien geht, die als Folge der Ausweisung eines kriminellen Angehörigen auseinandergerissen würden. Das weckt bei einem wachsenden Teil der Bevölkerung das Gefühl, Menschenrechte seien nicht für «uns», sondern für Menschen, die nicht wirklich zu uns gehören. Das ist natürlich falsch. Menschenrechte sind die Grundlage für Freiheit, Gleichheit und Sicherheit von uns allen. Aber bei uns sind sie zu selbstverständlich geworden, als dass ihre grosse Bedeutung erkannt würde.
In welchem Verhältnis stehen Rassismus und Menschenrechte?
Zuerst einmal ist der Anspruch auf Schutz vor Rassismus und Rassendiskriminierung selbst ein Menschenrecht. Dies ist nicht nur in der Anti-Rassismuskonvention der UNO so verankert, sondern auch in anderen Menschenrechtsverträgen. Gleichzeitig kann, wer Opfer von Rassismus ist, andere Menschenrechte nicht wahrnehmen. Es ist nachvollziehbar, dass Opfer von alltäglichem Rassismus oft eingeschüchtert sind und nicht wagen, ihre eigene Meinung zu äussern. Wer wegen seiner Herkunft keine Lehrstelle findet, ist in seiner Berufswahlfreiheit beeinträchtigt. Und wo beispielsweise ungerechtfertigter Polizeigewalt rassistische Motive zugrunde liegen, geht es um besonders schwere Verstösse gegen das Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung.
Schutz vor Rassismus ist also ein Menschenrecht. Gilt dies allgemein für Diskriminierungen?
Durchaus, Rassismus ist aber eine besonders schlimme Form von Diskriminierung. Meine Hautfarbe und wo ich herkomme, macht genauso einen Teil meiner Persönlichkeit aus wie mein Geschlecht oder mein Alter. Menschen ohne diese Merkmale existieren nicht. Diskriminierung ist ein Angriff auf das, was die Identität und Persönlichkeit eines Individuums ausmacht. Sie wirkt besonders verletzend, weil Menschen nicht wegen dem, was sie tun, sondern wegen dem, was sie sind, mit Hass übergossen, ausgegrenzt und herabgesetzt werden. Zudem halten die Menschenrechtskonventionen fest, dass dort, wo Menschenrechte im öffentlichen Interesse eingeschränkt werden, dies ohne jede Diskriminierung geschehen muss. Mit anderen Worten: Wenn zum Beispiel aus Gründen der Anstaltsordnung religiöse Aktivitäten in Gefängnissen eingeschränkt werden, dürfen sich diese Eingriffe nicht nur gegen Juden oder Hindus wenden.
In welchen Lebensbereichen kommen Diskriminierungen besonders häufig vor?
In der Schweiz wissen wir, dass die ungleiche Entlöhnung von Männern und Frauen als Form der Geschlechterdiskriminierung nach wie vor eine weit verbreitete Realität ist. Fälle von Rassendiskriminierung sind ebenfalls recht gut dokumentiert, aber das volle Ausmass ist nicht bekannt, weil Opfer sich häufig nicht melden. In Bereichen wie der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen oder Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung ist die Datenlage nochmals schlechter. Allerdings lässt sich sagen, dass staatliche Diskriminierung eher selten ist und die hauptsächlichen Probleme im Bereich der Beziehungen zwischen Privaten liegt. Private sind zwar nicht direkt an die Menschenrechte gebunden, der Staat ist aber menschenrechtlich verpflichtet, Diskriminierungsopfern Schutz zu gewähren.
Welche Massnahmen halten Sie für wirkungsvoll?
Der Kampf gegen Diskriminierung ist auf verschiedenen Ebenen zu führen, die ineinandergreifen und sich ergänzen müssen. Es braucht Sensibilisierung dafür, was Diskriminierung ist, ebenso wie niedrigschwellige Beratungs- und Unterstützungsangebote für Opfer. Ohne gute Gesetze allerdings greifen alle anderen Bemühungen zu kurz. Verfahren müssen ohne grosse Kosten und andere Hürden möglich sein. Mit anderen Worten: Es sind nicht so sehr einzelne Massnahmen, die wirksam sind, sondern letztlich die Kohärenz der Bemühungen im Kampf gegen den Rassismus.
Le racisme menace les droits humains
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Il razzismo minaccia i diritti umani
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