Der vorliegende Artikel befasst sich mit der Urteilssammlung zu Artikel 261bis StGB der EKR. Es soll erläutert werden, welche Funktion die Datenbank hat, welche Daten verarbeitet werden und welche Aussagen auf Grundlage der Urteilssammlung gemacht werden können. Zusätzlich wird auch auf die polizeiliche Kriminalstatistik und die Urteilsstatistik des BFS eingegangen, um die vorhandenen Differenzen zur Urteilsstatistik der EKR erklären zu können.
Das Interesse der Öffentlichkeit an Statistiken und Zahlen zu rassistischen Vorfällen, Urteilen zu Artikel 261bis StGB und Rassismus im Allgemeinen ist gross. Von den Medienschaffenden werden vor allem genaue Zahlen und eindeutige Aussagen wie «Die Muslimfeindlichkeit hat um X Prozent zugenommen» oder «rassistische Diskriminierungen am Arbeitsplatz haben um Y Prozent abgenommen» gewünscht. Das Problem dabei ist, dass es eine Vielzahl von Statistiken zum Thema Rassismus gibt, die jeweils mit anderen Quellen und unterschiedlicher Methodik arbeiten. Die Ergebnisse sind dementsprechend nicht vergleichbar und lassen sich nur bedingt zu einer gemeinsamen Aussage verdichten. Dies führt häufig zu Verwirrungen und Aussagen, die differenziert und relativiert werden müssen.
So hat die im Februar 2014 erschienene Studie Zusammenleben in der Schweiz rassistische, antisemitische und fremdenfeindliche Einstellungen der Schweizer Bevölkerung untersucht. Die Studie kam unter anderem zum Schluss, dass muslimfeindliche Einstellungen abgenommen haben. Diese Aussage bezog sich jedoch nur auf die Einstellung gegenüber Muslimen, nicht jedoch auf rassistische Vorfälle gegenüber Muslimen, wie sie von den verschiedenen Beratungsstellen vermehrt dokumentiert werden. Auch die von der EKR geführte Statistik zu Urteilen nach Artikel 261bis StGB bildet nur einen Aspekt des Themenbereichs Rassismus ab. Die Datenbank gibt einen Überblick über strafrechtlich relevante Vorfälle rassistischer Diskriminierung, die den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten zur Kenntnis gebracht wurden. Es kann also nicht deutlich genug gesagt werden, dass immer darauf geachtet werden muss, auf welche Quellen sich eine Statistik stützt, welche Methoden angewendet werden und welchem Ziel das jeweilige Monitoring-Instrument dient, bevor Statistiken miteinander verglichen und Schlussfolgerungen gezogen werden.
Die EKR wurde vom Bundesrat beauftragt, konkrete Tatbestände im Zusammenhang mit Rassismus in der Schweiz sowie ihre individuellen und gesellschaftlichen Auswirkungen zu analysieren. Im Rahmen dieser Aufgabe analysiert und dokumentiert die EKR Urteile und Entscheide zu Artikel 261bis StGB. Über die Webseite der EKR ist die Urteilssammlung zu Artikel 261bis StGB der Öffentlichkeit zugänglich. Die erfassten Urteile und Entscheide können über die vorgegebene Suchmaske nach verschiedenen Stichworten durchsucht werden. Das interessierte Publikum kann also gezielt nach Einzelfällen suchen und juristische Fachpersonen können sich bequem einen Überblick über den Stand der Rechtsprechungspraxis zu Artikel 261bis StGB verschaffen. Zusätzlich erstellt die EKR auch Statistiken zu den Opfergruppen, den Tätergruppen und der Art der Entscheide (formelle/materielle, Freisprüche/Schuldsprüche). Zweck der Urteilssammlung ist es, eine Grundlage für die qualitative Auswertung der Rechtsprechung zu Artikel 261bis StGB zu schaffen.
Die der Urteilssammlung zugrunde liegenden Entscheide und Urteile erhält die EKR vom Nachrichtendienst des Bundes NDB. Aufgrund der Mitteilungsverordnung kantonaler Strafentscheide sind die kantonalen Gerichte und Staatsanwaltschaften verpflichtet, Einstellungsverfügungen, Strafbefehle, Verurteilungen und Freisprüche zu Artikel 261bis StGB an den Nachrichtendienst zu schicken. Nichtanhandnahmen sind in der Mitteilungsverordnung nicht explizit genannt, aber dazu später. Die Entscheide werden vom NDB anonymisiert und an die EKR weitergeleitet. Die Vollständigkeit der Urteilssammlung hängt demnach stark davon ab, wie gewissenhaft die kantonalen Gerichte und Staatsanwaltschaften dieser Verpflichtung nachkommen.
Wie oben erwähnt, werden Nichtanhandnahmen, also die Verfügungen der Staatsanwaltschaften, kein Verfahren einzuleiten, in der Mitteilungsverordnung nicht explizit erwähnt und müssen folglich von den kantonalen Behörden nicht an den NDB weitergeleitet werden. Obwohl die EKR dennoch eine gewisse Anzahl Nichtanhandahmen erhält, ist demnach davon auszugehen, dass der prozentuale Anteil von Nichtanhandnahmen deutlich grösser ist, als es aus den Statistiken der Urteilssammlung der EKR hervorgeht. Auch die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS), welche die polizeilich registrierten Straftaten nach Artikel 261bis StGB erfasst, bestätigt diese Vermutung. In der PKS werden alle polizeilich registrierten Straftaten betreffend Artikel 261bis StGB erfasst. Da Artikel 261bis StGB ein Offizialdelikt ist, meldet die Polizei in der Regel jede polizeilich registrierte Straftat der Staatsanwaltschaft, die dann einen Entscheid verfügt. Die Zahl der polizeilich registrierten Straftaten müsste also ungefähr (es gibt einige Ausnahmen) mit der Zahl der Entscheide (Nichtanhandnahmen, Einstellungsverfügungen und Strafbefehle) der Staatsanwaltschaft übereinstimmen. Die Zahl der polizeilich registrierten Straftaten liegt jedoch regelmässig um ein vielfaches höher als das Total der erfassten Entscheide in der Urteilssammlung der EKR. Auf die Vollständigkeit überprüfen kann die EKR die Entscheide nicht, da es keine offizielle Statistik gibt, die Nichtanhandnahmen, Einstellungsverfügungen und Freisprüche erfasst. Eine gewisse Rückkontrolle ist nur bei den Verurteilungen möglich, da hier ein Abgleich mit der Urteilsstatistik des BFS möglich ist. In der Urteilsstatistik des BFS werden alle im Strafregister eingetragenen Verurteilungen und Strafbefehle nach Artikel 261bis StGB erfasst. Der Abgleich zeigt, dass bei den Urteilen ein gewisser Teil (ca. 50 %) der Verurteilungen in der Urteilssammlung der EKR fehlt. Die Vermutung, dass von den kantonalen Behörden nicht alle Entscheide zu Artikel 261bis StGB an den NDB weitergeleitet werden, wird dadurch bestätigt.
Zu unterstreichen ist noch einmal, dass die Urteilssammlung die Grundlage für eine qualitative Auswertung ist. Die Urteilsstatistik des BFS hingegen ist eine rein quantitative Auswertung der im Strafregister eingetragenen Verurteilungen nach Artikel 261bis StGB und hat im Gegensatz zur Urteilssammlung der EKR einen Anspruch auf Vollständigkeit der zugrunde liegenden Daten.
Die Aussagekraft der Statistiken zu den Opfergruppen, den Tätergruppen, den Tatmitteln usw. ist von den oben genannten Erkenntnissen über fehlende Entscheide nicht betroffen. Es gibt keinen handfesten Grund für die Annahme, dass z. B. das Verhältnis der verschiedenen Opfergruppen ein grundlegend anderes wäre, wenn die zugrunde liegenden Entscheide zu Artikel 261bis StGB vollständig wären. Anders ist es mit den Statistiken zum Verhältnis zwischen materiellen (Verurteilungen und Freisprüche) und formellen (Nichtanhandnahmen, Einstellungsverfügungen) Entscheiden. Wie bereits ausgeführt, ist davon auszugehen, dass in der Urteilssammlung der EKR nur ein sehr kleiner Teil der Nichtanhandnahmen erfasst ist. Aus diesem Grund ist es möglich, dass das Verhältnis zwischen formellen und materiellen Entscheiden zugunsten der materiellen Entscheide verzerrt ist. Es entsteht also der (falsche) Eindruck, dass die Staatsanwaltschaften auch bei noch so aussichtslosen Strafanzeigen ein Verfahren einleiten und nur in seltenen Fällen eine Nichtanhandnahme verfügen würden – obschon vom Gegenteil auszugehen ist.
Obwohl das Hauptanliegen der EKR eine qualitative Auswertung der Entscheide zu Artikel 261bis StGB ist, bemüht sich die EKR selbstverständlich dennoch um eine möglichst vollständige Urteilssammlung. Da bei den Verurteilungen ein Abgleich mit der Urteilsstatistik des BFS möglich ist, hat die EKR mit dem BFS Kontakt aufgenommen und einen Abgleich vorgenommen. Die fehlenden Verurteilungen konnten so identifiziert werden. Im Laufe dieses Jahres wird die EKR bei den betreffenden Gerichten und Staatsanwaltschaften gezielt die fehlenden Verurteilungen anfordern. Ziel ist es dann, die Verurteilungen möglichst vollständig auswerten zu können. Ob sich hieraus neue Erkenntnisse ergeben, bleibt abzuwarte