Autor
Thomas Facchinetti war während über zwanzig Jahren kantonaler Delegierter für Ausländerfragen in Neuenburg und entwickelte 1990 eine Strategie zur Integration von Ausländerinnen und Ausländern.
Thomas.Facchinetti@ne.ch
Europa wird von einem bedenklichen Wiederaufleben des Populismus und identitärer Bewegungen erschüttert. Das Phänomen ist, wie so häufig in der Geschichte, begleitet von zunehmender Intoleranz, von Rassismus und Ablehnung des Fremden. Die Schweiz bildet diesbezüglich keine Ausnahme. Auch die hiesige Migrationspolitik tendiert dazu, zwischen «erwünschten» und «unerwünschten» Ausländerinnen und Ausländern zu unterscheiden. In einer Zeit, in der die Grundpfeiler der Demokratie ins Wanken geraten, kann nur mit einer effektiven Politik der Prävention und der Bekämpfung von Rassismus verhindert werden, dass die Integrationspolitik mit Forderungen verbunden wird, die im Widerspruch zu den grundlegenden Menschenrechten stehen.
Ganz Europa sieht sich mit einer starken Zunahme verschiedener Formen von Populismus und nationalistischer, identitärer Bewegungen konfrontiert. Intoleranz, Ablehnung von Andersartigkeit, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sind omnipräsent und kommen bisweilen sogar auf Regierungsebene zum Ausdruck. Die Gründe für diese Phänomene sind vielfältig, aber häufig ein Symptom der Ernüchterung und eines Gefühls der Ohnmacht von Menschen, die in einer Welt leben, die ihnen entgleitet und immer weniger historisch und national verankerten Schutz bietet; Menschen, die sich durch die konfliktbedingten Migrationsbewegungen beunruhigt, von der Komplexität neuer Herausforderungen überfordert oder von der Globalisierung ausgeschlossen fühlen.
Die Schweiz ist von diesen Entwicklungen nicht ausgenommen. Die Angst vor einem sozialen Abstieg, vor Arbeitslosigkeit oder vor einer Auflösung der Identitätsmerkmale nährt den Diskurs populistischer Bewegungen, zwischen denen es zwar Diskrepanzen gibt, die sich in einigen Punkten jedoch häufig ähneln: der ständige Verweis auf das Volk, die Infragestellung der Eliten und der traditionellen politischen Parteien, die Ablehnung der Zuwanderung und die Vormachtstellung der nationalen Souveränität.
In der Öffentlichkeit herrscht zunehmend ein Klima der Angst, das grosse Teile der Gesellschaft in einem Zustand der Abschottung, des sicherheitssuchenden identitären Rückzugs und einer providenziellen Erwartungshaltung verharren lässt, was dazu führt, dass die Menschen an ihren Fähigkeiten und ihren Potenzialen zweifeln. Europa befindet sich momentan in einem extrem kritischen Zustand, der die Grundpfeiler der Demokratie bedroht.
Es gilt, die Rückzugstendenzen zu überwinden und über die territorialen Grenzen hinweg – in einer menschlichen Schicksalsgemeinschaft, die auf Freiheit, gesellschaftlicher Verantwortung, Solidarität und gleichberechtigter Würde jedes Menschen beruht – eine Entwicklung der Zuversicht anzustossen.
Obwohl die Integration von Migrantinnen und Migranten in der Schweiz heute einen breiten Konsens findet, widerspiegeln die politisch tatsächlich umgesetzten und auf Gemeinde-, Kantons- und Landesebene unterschiedlich ausgestalteten Inhalte die Härte der aktuellen Tendenzen hin zu einer identitären Abschottung und einer ausgesprochen exklusiven nationalen Privilegierung.
Die Integration von Zugewanderten ist nicht selten auf ein blosses Begleitprogramm der schweizerischen Migrationspolitik beschränkt. Das Streben nach einem sozialen Zusammenhalt unter gegenseitiger Achtung und Toleranz ist zwar in der Schweizer Gesetzgebung verankert, kommt im öffentlichen Raum jedoch nur zaghaft zum Vorschein. So heisst es in Artikel 4 Absatz 1 des Bundesgesetzes über die Ausländerinnen und Ausländer (AuG): «Ziel der Integration ist das Zusammenleben der einheimischen und ausländischen Wohnbevölkerung auf der Grundlage der Werte der Bundesverfassung und gegenseitiger Achtung und Toleranz».
Die schweizerische Migrationspolitik tendiert dazu, zwischen «erwünschten» und «unerwünschten» Ausländerinnen und Ausländern zu unterscheiden – und zwar nicht nur bei der Einwanderung in die Schweiz, sondern auch bei der Integration. Dies beeinträchtigt den sozialen Zusammenhalt und das Gleichgewicht der Beziehungen zwischen der einheimischen Bevölkerung und den Migrantinnen und Migranten.
Die Integration nicht als Ziel, sondern als Mittel für einen besseren sozialen Zusammenhalt zu verstehen, bleibt daher eine Haupt-herausforderung für unsere Gesellschaft. In diesem Sinne fordert Integration auch Anpassungen, damit ein soziales Gleichgewicht, ein gegenseitiges Verständnis und Kompromisse für ein harmonisches Zusammenleben gefunden werden können. Aber wie weit sollen die Kompromisse gehen?
Die Schweizer Verfassung und Demokratie legen in der Theorie die wichtigsten Prinzipien fest, die es zu respektiert gilt. In der Praxis besteht durch die wachsende Fremdenfeindlichkeit jedoch das Risiko, dass Integration immer mehr als Assimilation verstanden und dadurch die Menschenwürde eines Teils der Bevölkerung missachtet wird.
Mit einer effektiven Politik der Prävention und Bekämpfung von Rassismus muss verhindert werden, dass die Integrationspolitik mit Forderungen verbunden wird, die den grundlegenden Menschenrechten widersprechen. Die Integrationspolitik und die Bekämpfung von Rassismus müssen kohärent aufeinander abgestimmt werden. Es ist daher wichtig, dass in den gemeinsamen Integrationsprogrammen von Bund und Kantonen (KIP) auch Ziele gegen Diskriminierung – und insbesondere gegen rassistische Diskriminierung – formuliert werden. Allerdings gilt es dabei die beiden Bereiche auseinanderzuhalten und ihre jeweiligen Ziele nicht miteinander zu verwechseln, damit beide ihrer je spezifischen Rolle gerecht werden.
Die Weiterentwicklung einer nationalen Präventionsstrategie im Kampf gegen Intoleranz und fremdenfeindliche und rassistische Diskriminierung, die sich nicht nur auf die Migrationspolitik beschränkt, ist entscheidend für die Stärkung der grundlegenden Menschenrechte. Integration ist nicht das Wundermittel für alle Herausforderungen des sozialen Zusammenhalts.
Die Ausgestaltung und Umsetzung einer Politik, die den aktuellen Herausforderungen gerecht wird, stösst zunehmend auf Widerstand, ein Zeichen für die Veränderungen des sozialen und politischen Klimas. Die öffentlichen Strategien zur Integration von Menschen und Gemeinschaften mit Migrationshintergrund hängen einerseits stark von der nationalen Migrationspolitik ab, andererseits von der Vielfalt der politischen Ausrichtungen in den Kantonen und auch von der administrativen Angliederung der Migrationspolitik bei der Sicherheit, der Infrastruktur, der Bildung, der Fürsorge, der Gesundheit, der Wirtschaft oder der Raumplanung.
Die heterogene Ausrichtung und die spezifischen Schwerpunkte der Kantone, Gemeinden und Städte sind an sich eine Bereicherung des Schweizer Föderalismus. Allerdings kommen dabei der soziale Zusammenhalt, der Respekt der Würde und die Nichtdiskriminierung im Vergleich zu anderen politischen Zielen häufig zu kurz.
Es braucht eine politisch stärkere und breiter aufgestellte nationale Präventionsstrategie im Kampf gegen Rassismus. Wichtig ist insbesondere die effektive Bekämpfung der weit verbreiteten Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt. Dazu braucht es die enge Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern und die Stimme der Menschen, die von dieser Ungerechtigkeit betroffenen sind. Nur so kann ein grösseres Bewusstsein der Problematik entwickelt werden. Das Engagement der Beratungsstellen auf nationaler Ebene muss in diesem Sinne stärker unterstützt werden.
Wie andere Gemeinden, Städte und Kantone der Schweiz engagiert sich auch der Kanton Neuenburg mit seinem Aktionsplan gegen Rassismus und Diskriminierung gegen eine fremdenfeindliche Abschottung. So betreibt die Stadt Neuenburg eine interkulturelle Integrationspolitik, die sich auf den Einbezug der Zivilgesellschaft stützt und öffentlich Persönlichkeiten ehrt, die sich für die Emanzipation von Minderheiten einsetzen. Der ganze Kanton Neuenburg soll ein Ort der Offenheit und der Solidarität sein.
So hat die Stadt Neuenburg beispielsweise im September 2018 beschlossen, den nach dem berühmten Gelehrten, aber auch aktiven Rassisten, benannten Espace Louis-Agassiz neu in Espace Tilo Frey umzubenennen. Tilo Frey wurde als Tochter einer Fulani-Frau und eines Schweizers in Kamerun geboren und war die erste Neuenburgerin, die ins Schweizer Parlament gewählt wurde.
Die Menschenwürde muss mit allen Mitteln und auf allen Ebenen und mit mehr Engagement verteidigt werden, damit die Schweiz den Kampf gegen Gleichgültigkeit und rassistische Fremdenfeindlichkeit nicht verliert.