TANGRAM 42

Unteilbar Gemeinschaftliches im Mittelpunkt. Eine vielfältige Gesellschaft braucht eine kohärente Inklusion

Autor

Thomas Kessler, erster Integrationsbeauftragter des Kantons Basel-Stadt, hat zur Definition der aktuellen Integrationspolitik beigetragen.
thomas.kessler@id-kessler.ch

Die Basler Integrations- und Anti-Diskriminierungspolitik blickt auf 20 erfolgreiche Jahre zurück. Als Vorreiter-Kanton leistete Basel-Stadt Pionierarbeit bei der Entwicklung der nationalen Integrationspolitik. Rückblick und Bilanz.

Die 1998 geschaffene Stelle des Delegierten für Migration und Integration war von Beginn weg auch als Anlaufstelle für Fragen der Diskriminierung konzipiert. Die Formel: «Fördern und Fordern ab erstem Tag – verbindlich» war geboren. Die Politik verstand, dass es für die «Eingliederung ins Ganze» den aktiven Ausgleich von Geben und Nehmen sowie Rechten und Pflichten braucht. Das war eine klare Absage an Beliebigkeit und an weitere «Reparatur-Politik». Die Kosten-Nutzen-Analyse der vormaligen Ausländerpolitik zeigte nämlich Desaströses. Der Staat handelte hauptsächlich defizitorientiert, mit hohen Kosten für die Folgen fehlender Integration. Die Symptome: Schulversagen, Pausenrandale, Lehrabbrüche, Arbeitslosigkeit, Sozialhilfeabhängigkeit, Krankheit und Delinquenz. Und als die Politik verstand, dass ein Vollzugstag im Gefängnis mehr kostet als eine Nacht im Nobel-Hotel Drei Könige, und dass ein Kind im Schulheim pro Jahr mehr kostet als die Vollpensen zweier Kindergärtnerinnen, wurde ein ansehnliches Investitionsbudget für Integration und Anti-Diskriminierung bewilligt. Den Bund freute es, er brauchte Vorreiter-Kantone. Anfangs der 2000er-Jahren floss bis zur Hälfte der nationalen Projektförderung nach Basel-Stadt, weil hier systematisch investiert werden konnte – von Beginn weg stets in Kooperation mit Baselland und Solothurn.

Fakten sollen zählen

So wurde in der Nordwestschweiz zusammen mit dem Bund eine unabhängige Anlaufstelle in Diskriminierungsfragen geschaffen, als ergänzendes niederschwelliges Angebot zu den kantonalen Integrations- und Ombudsstellen. Das Pionierprojekt wurde gestartet, um Bedarf und Wirkung des Angebots systematisch zu erfassen. Parallel wurde die Öffentlichkeitskampagne «Tatsachen gegen Vorurteile» lanciert, getragen auch von der Zivilgesellschaft und mitfinanziert von Spenderinnen. «Die Muslime feiern den Freitag, die Juden den Shabbat, und was machen Sie so am Sonntag?» stand auf einem der vielen Plakate. Die Texte waren nicht moralisierend, sondern fragend und informativ. Vorurteile sollten ausdiskutiert werden, die Kampagne richtete sich sowohl an Skeptiker und Ängstliche als auch an Kulturrelativisten. Die Botschaft: Fakten sollen zählen, und Menschen wollen eigenständig ernstgenommen werden, fern von Vermutungen oder neokolonialem Paternalismus.

Entsprechend vielfältig waren die ersten Erfahrungen. Die Anfragen bei der neuen Anlaufstelle blieben trotz Öffentlichkeitsarbeit überschaubar. Die Betroffenen suchten oft weiterhin den Weg zu Personen und Institutionen, die sie bereits kannten – wie klassische Beratungs-, Ombuds- und Integrationsstellen oder Schulleiter. Nebst der Beratung von Einzelfällen wurden auch Schulungen durchgeführt, etwa zum Thema Racial Profiling bei Staatsanwaltschaft und Polizei. Die Angliederung der Integrationsstelle an das Polizei- und Militärdepartement erwies sich dabei als Vorteil. Über die Medien konnte viel Wissen verbreitet werden, der öffentliche Diskurs war relativ sachlich.

Schliesslich hat Basel-Stadt ein modernes Integrationsgesetz erlassen und nach zehn Jahren bereits aktualisiert – neu mit Gratis-Sprachkursen und der regelmässigen Überprüfung des Integrationserfolgs im ersten Aufenthaltsjahr. So wurde das Prinzip «Fördern und Fordern» laufend ausgebaut. Die Basler Stimmbevölkerung nahm das Gesetz mit über 60 Prozent Ja-Stimmen an.

Wie lautet das Fazit nach 20 Jahren?

Die rechtlichen Grundlagen und Instrumente haben sich als belastbar und wirksam erwiesen. Das Gleichheitsgebot und das Diskriminierungsverbot nach biologischen, kulturellen oder anderweitigen Merkmalen werden in der Praxis verstanden, ebenso die Verpflichtung der Behörden zur Durchsetzung des Diskriminierungsverbots nach Art. 35 der Bundesverfassung. Mit proaktiver Aufklärungsarbeit, Präsenz in den Quartieren und Vereinen sowie der Implementierung der Integrationsarbeit in die Regelstrukturen lässt sich auch die Pflicht, Diskriminierung unter Privaten zu verhindern (Art. 35 Abs. 3 BV), bestmöglich umsetzen. Das Antirassismusgesetz musste praktisch nie bemüht werden, es wirkt insbesondere gegen Holocaust-Leugner, notorische Antisemiten und aktive Neonazis. Diese Rechtspraxis geniesst hohes Vertrauen.

Die reflektierte, professionelle Unterstützung vor Ort in den tatsächlichen Lebenswelten stärkt die bestmögliche Gleichbehandlung aller Menschen am effektivsten. Über die Quartierarbeit müssen auch jene Menschen erreicht werden, die den gesellschaftlichen Wandel negativ erleben. Sogenannte Globalisierungsverlierer und Vereinsamte müssen ernst genommen und ihre oft materiellen und sozialen Probleme zielgerichtet angegangen werden. Die Universalität der Menschenrechte muss in der pluralen Realität also konkret werden, es geht um die konsequente Umsetzung von Verfassung und Gesetz – unserer verbindlichen Rechtsordnung. Dazu gehört eine angemessene Äquidistanz. Einerseits zu jenen, die im Umgang mit dem Terminus «Rasse», diesem Begriff aus der Tierzucht, ideologisch unterwegs sind; andererseits zu jenen, die in die Falle des Exotismus getappt sind und damit den Blick für die Bedürfnisse der zugezogenen Menschen aus 190 Nationen und der grossen Vielfalt der Einheimischen zu verlieren drohen.

Die konkreten Probleme sind dabei meist nicht akademischer Natur und auch nicht aus dem angelsächsischen Diskurs übertragbar, sondern alltagsbezogen. Sie beginnen mit der hierzulande gepflegten Sozialdistanz, gehen über die Besonderheiten der hiesigen Regelkonformität und des Bildungssystems bis hin zu Einzelanliegen aus der Wohn- und Arbeitswelt, Freizeit oder Behördentätigkeit. Die Menschenrechte sind unteilbar. Da es bereits Beratungs- und Ombudsstellen gibt, ist die Koordinationsarbeit und der Kompetenzgewinn bei den Schulen, Spitälern und allen Behörden wesentlich. Je vielfältiger die Gesellschaft wird, umso kohärenter muss die Inklusion erfolgen, und je weniger sind Parallelstrukturen angezeigt. Die Bekämpfung der Diskriminierung darf die Tendenz zur Aufsplitterung der Gesellschaft und Re-Tribalisierung nicht befeuern, sondern muss im Gegenteil das unteilbar Gemeinschaftliche in den Mittelpunkt stellen.