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Walter Leimgruber ist seit 2012 Präsident der Eidgenössischen Migrationskommission (EKM). Er ist Ordinarius und Leiter des Seminars für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie an der Universität Basel. Er studierte Geschichte, Volkskunde und Geographie an der Universität Zürich. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören nebst Migration die gesellschaftlichen Mechanismen der Integration und Ausgrenzung.
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Zur Integration gehört auch der Kampf gegen Diskriminierung. Dabei geht es aus Sicht von EKM-Präsident Walter Leimgruber nicht nur um den Abbau von Hindernissen, sondern auch um eine klare Akzeptanz.
Welchen Einfluss hat das Thema Migration auf Rassismus?
Walter Leimgruber: Das Thema Migration hat viel und gleichzeitig auch wenig Einfluss. Und es beeinflusst auf verschiedene Arten. So ruft die Fluchtmigration die heftigsten rassistischen Äusserungen hervor, obschon sie nur einen ganz kleinen Teil der weltweiten Migration ausmacht. Migration ist mit der Globalisierung insgesamt verbunden. Diese Neustrukturierung der Welt führt zu Verunsicherung und Ängsten. Rassistische Positionen sind für die Menschen verlockend, um die mit der Globalisierung verbundenen Schwierigkeiten einzuordnen. Denn es ist extrem einfach, einen Sündenbock für alles verantwortlich zu machen, was nicht gut läuft. Eine Gruppe auszuschliessen und die Probleme einem Sündenbock zuzuschieben, dafür braucht es keine Migration. Dies sieht man bei der Diskriminierung von Gruppen, die schon immer hierzulande gelebt haben, wie etwa den Juden oder den Jenischen und Sinti.
Wie nehmen Sie den aktuellen politischen Diskurs wahr?
Rassismus ist nicht zwingend mit einem grossen gesellschaftlichen Wandel verknüpft. Doch derzeit befinden wir uns in Westeuropa in einer Umbruchsituation. Die Menschen merken, dass es punkto Wohlstand und sozialer Sicherheit nicht mehr so aufwärts geht wie in den letzten 50 Jahren. Diese Wahrnehmung eines linearen Aufschwungs ist durchbrochen. Derzeit ist die Angst spürbar, dass alles, was bisher als sicher galt, in Zukunft anders sein könnte. Das befördert die Suche nach Schuldigen. Weil man sein Unwohlsein nicht an komplexen Vorgängen wie der Globalisierung oder dem Freihandel festmachen kann, werden die Probleme den Flüchtlingen zugeschoben.
Gilt dies auch für die Schweiz?
In der ganzen westlichen Welt nehmen die Kräfte zu, die mehr oder weniger offen rassistisch, fremdenfeindlich oder migrationsskeptisch sind und die für Abschottung plädieren – sei es beim Handel oder bei der Zuwanderung. In der Schweiz ist diese Entwicklung durch den direktdemokratischen Prozess mitunter früher spürbar. Doch nun sieht man, dass diese Auseinandersetzung in anderen Ländern mindestens so heftig geführt wird.
Der Bund sieht in seiner Integrationspolitik auch Massahmen zum Schutz vor Diskriminierung vor. Inwiefern kann man durch Integration Rassismus bekämpfen?
Das kommt darauf an, wie man Integration versteht. Aus Sicht der EKM betrifft das Thema alle. Integration heisst für uns, dass die Gesellschaft in einem Aushandlungsprozess Lösungen findet für das Zusammenleben aller. Dabei einigt man sich auf Kriterien, die gelten sollen, damit jeder in der Gesellschaft seinen Platz hat. Wenn man Integration in diesem erweiterten Sinne versteht, gehört selbstverständlich der Kampf gegen Diskriminierung und Rassismus dazu.
In den Ausführungsbestimmungen zum Ausländer- und Integrationsgesetz finden sich aber kaum konkrete Massnahmen gegen Diskriminierung. Weshalb?
In der Gesetzgebung und den Ausführungsverordnungen des Bundes drückt stark ein engeres integrationspolitisches Verständnis durch. Die einseitigen Anforderungen an Sprachkenntnisse und wirtschaftliche Selbst-ändigkeit zeigen auf, dass Integration als eine Leistung verstanden wird, die bloss eine Gruppe erbringen muss. In diesem engen Verständnis von Integration werden Anti-Diskriminierungsmassnahmen als nicht sehr wichtig angesehen. Der Slogan «Fordern und Fördern» sollte sich aber nicht nur auf die Einwanderer beziehen, sondern auch auf die eigene Gesellschaft und deren Institutionen. Die EKM spricht sich gegen ein Integrationsverständnis aus, das sich lediglich als «Messinstrument» versteht. Wir haben dazu Ende 2017 eine Reihe von Empfehlungen publiziert (siehe Kasten).
Wurde die Chance verpasst, Anti-Diskriminierungsmassnahmen stärker in den Ausführungsbestimmungen zur Integrationsgesetzgebung zu verankern?
Die Ausführungsverordnungen atmen den Zeitgeist. Und dieser Zeitgeist ist anders als zu den Anfängen der Integrationsdebatte. Damals war die Einsicht da, dass die Gesellschaft nicht so tun kann, als gehe sie Integration nichts an. Doch in den letzten 20 Jahren wurde der Ruf nach fordernden und sanktio-nierenden Massnahmen immer lauter – und dieser Ruf wurde auch stärker gehört. Deutlich ist auch, dass diejenigen, die das Fordern betonen, nicht überaus sensibilisiert sind für Diskriminierungs- und Rassismusfragen. Mit dieser Tonlage des Gesetzgebers ist auch die EKM nicht glücklich.
Besteht das Risiko, dass der Kampf gegen Diskriminierung durch die Zuordnung zur Integrationspolitik an Bedeutung verliert oder gar zwischen Stuhl und Bank fällt?
Wenn dies passieren würde, wäre dies hochproblematisch. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass Integration, Diskriminierung und Rassismus breit und differenziert verstanden werden. Migrationspolitik ist nicht gleichzusetzen mit Politik gegen Rassismus und Diskriminierung. Am Beispiel der Juden wird jedem klar, dass Antisemitismus nichts mit Migrationsfragen zu tun hat. Wichtig ist, dass die Integrationsstellen in den Kantonen auch mit Personal ausgestattet werden, das über Rassismus-Knowhow verfügt. Umgekehrt sollten Anlaufstellen zu Rassismus auch über Integrations- und Migrationswissen verfügen.
Die EKM empfiehlt, den Abbau von Barrieren und Hemmnissen als Teil der Integration zu verstehen. Reicht das zur Bekämpfung von Diskriminierung?
Die EKM legt ihren Fokus auf die Migrantinnen und Migranten. Darauf beziehen sich auch unsere Empfehlungen, was Diskriminierung betrifft. Insofern ist der Abbau von Barrieren ein erster und entscheidender Schritt. Weitere Schritte müssen aber folgen: Integration ist im besten Falle ein Aufeinander-Zugehen. Wenn sich Menschen kennenlernen, entstehen häufig Reibungsflächen. Aus Erfahrung wissen wir, dass sich dadurch Stereotypen im Laufe der Zeit auflösen. Man setzt sich auf Augenhöhe auseinander, um Lösungen für alle zu finden. Wenn Integration funktioniert, reduziert das auch die Diskriminierung. Es geht somit nicht nur um den Abbau von Hindernissen, sondern auch um eine klare Akzeptanz.
Wo sehen Sie bei den Akteuren Handlungsbedarf?
Der Ball liegt bei den Kantonen und Gemeinden, weil dort die konkrete Umsetzung der Integrationsprogramme geschieht. Man muss die Behörden darauf aufmerksam machen, dass Integrationsmassnahmen nichts bringen, wenn gewisse Gruppen diskriminiert und ausgegrenzt werden. Ansonsten kann die Gesellschaft das vorhandene Potenzial gar nicht nutzen. Dies bedingt öffentliche Aufklärung aber auch Beratungsangebote, die sich nicht nur an die Betroffenen, sondern auch an Institutionen richten. Viele Institutionen kümmern sich kaum um Diskriminierung, weil sie denken, es gehe sie nichts an. Solange man aber nicht dagegen angeht, wenn beispielsweise Mitarbeitende von Call-Centern dazu angehalten werden, für ihre Arbeit einen schweizerisch klingenden Namen zu verwenden, haben die Betroffenen ein Handicap. Und dies wirkt sich wiederum auf die ganze Gesellschaft aus. Für diese Probleme fehlt in der Schweiz nach wie vor ein Bewusstsein. Man ist der Überzeugung: Wir machen es gut mit der Integration, weil es hierzulande kaum Ghettos gibt. Das trifft zwar zu, aber auch weniger offensichtliche und schleichende Formen der Diskriminierung sind ein Problem. Handeln müssen aber auch die Wirtschaft und die Zivilgesellschaft.
Laut einer Erhebung des Bundesamtes für Statistik zum Zusammenleben in der Schweiz sind 56 Prozent der Bevölkerung überzeugt, dass die Integration gut funktioniert. Gleichzeitig erachten rund zwei Drittel Rassismus als ernstes gesellschaftliches Problem.
Wenn zwei Drittel Rassismus als Problem anerkennen, ist das eigentlich eine erfreuliche Feststellung. In einer Welt, die stets vielfältiger wird, merken offenbar immer mehr Menschen, dass der Umgang miteinander nicht einfach ist und bestimmter Regeln bedarf. In der Schweiz leben 25 Prozent Ausländerinnen und Ausländer. Rund 40 Prozent haben einen Migrationshintergrund, und nimmt man noch die Grosseltern dazu, sind wir schon bei rund der Hälfte. Über 40 Prozent der Ehen sind binational. Dies führt dazu, dass die Auseinandersetzung mit dem «Anderen» heute praktisch in jeder Familie präsent ist. Was die Integration betrifft: Trotz aller Kritikpunkte, die wir besprochen haben, muss ich festhalten, dass die Integration in der Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern tatsächlich gut funktioniert.
Sie betonen immer wieder die Wichtigkeit von Integration für die Kohäsion. Was meinen Sie damit?
Integration ist der eigentliche Ausgangspunkt für Kohäsion: Eine Gesellschaft, die eine Form des Zusammenhaltes entwickelt, indem man sich auf gewisse Grundregeln einigt. Dies ist unmöglich ohne Partizipation. Teilhabe kann es nur geben, wenn alle den gleichberechtigten, nicht diskriminierenden und angstfreien Zugang zur Diskussion haben. Jede Diskussion über jedwelches Thema ist auch ein Integrationsprozess. Die Frage ist nur: Machen wir den Integrationsprozess auf eine gleichberechtigte, demokratische Art oder auf eine nicht gleichberechtigte, autoritäre Art? In einem demokratischen Staat gehören Integration, Kohäsion und Partizipation zusammen. Insofern ist Migrationspolitik Gesellschaftspolitik. Wir müssen darauf hinarbeiten, dass dies eine klare Mehrheit der Bevölkerung auch so sieht.
Unter dem Titel «Integration – kein Messinstrument, sondern die Aufgabe aller!» hat die Eidgenössische Migrationskommission EKM Ende 2017 eine Reihe von Empfehlungen publiziert. Sie basieren auf dem Grundsatz, dass Integration und soziale Kohäsion nur dann erfolgreich sind und gelingen, wenn sowohl Einzelpersonen als auch die Gesamtgesellschaft und deren Institutionen ihren Beitrag leisten. Die Bekämpfung von Diskriminierung ist als Teil der Integration zu verstehen. Der Abbau von Barrieren ist dafür eine wesentliche Voraussetzung. Weiter sollen Institutionen «integrations-fit» gemacht werden: Angebote und Dienstleistungen müssen so konzipiert sein, dass sich alle Bevölkerungsgruppen angesprochen fühlen. Die Formel «Fördern und fordern» soll demnach nicht für Individuen, sondern auch für Institutionen gelten. Integrationsförderung soll an Potenzialen ausgerichtet werden und sich nicht bloss am Beheben von «Defiziten» orientieren. Insofern soll Diversität als Chance und nicht als Problem gesehen werden. Für das Gelingen von Integration steht auch die Aufnahmegesellschaft – also die einheimische Bevölkerung – in der Pflicht. Nicht zuletzt soll Integration als Partizipation verstanden werden. Wer als Citoyen betrachtet wird und an gesellschaftlichen Prozessen teilhaben kann, «integriert» sich automatisch.
Das Gespräch führte Theodora Peter