Clastres, Patrick
«Der Sport ist einer der letzten Orte, wo Rassismus öffentlich und allzu oft ungestraft zum Ausdruck kommt», sagt Professor Patrick Clastres. Der in Toulouse und Paris ausgebildete internationale Experte für Sport- und Olympiageschichte zieht die Alarmglocke. Das Phänomen wird in Europa vor allem im mediatisierten Profisport thematisiert, ist jedoch im Amateursport in verdeckter Form genauso verbreitet. Laut Clastres kann diese Tatsache allerdings auch als Chance betrachtet werden. Denn durch seine Universaliät bietet er auch ein hervorragendes Terrain, um den Rassismus an der Wurzel zu bekämpfen, sofern die Trainer und Sportfunktionäre für die Problematik sensibilisiert und entsprechend ausgebildet sind.
Seit wann befasst sich die europäische Forschung mit dem Problem des Rassismus im Sport?
Schauen wir zuerst, was in den USA passierte, wo der Soziologe Harry Edwards sein Standardwerk über schwarze Sportlerinnen und Sportler The revolt of the Black Athlete (1969) publizierte. Dieses Buch orchestrierte die Rebellion der afroamerikanischen Athletinnen und Athleten an den Olympischen Spielen in Mexiko 1968 und zeigt, wie der sportliche Wettkampf Rassismus hervorbringt, indem Schwarze dem Naturhaften und dem Animalischen zugeordnet werden. Das Buch inspirierte die europäische Forschung, zuerst in England in den 1980er-Jahren, dann zehn Jahre später auch in Deutschland und Frankreich. Hier in Frankreich gibt es erst seit 2015 ein Standardwerk zu diesem Thema: «Le sport en France à l’épreuve du racisme», eine Gemeinschaftsarbeit, die ich mitgeleitet habe. Ich setze mich bei meinen Kollegen der Soziologie und Geschichte, unabhängig davon ob sie Sportspezialisten sind oder nicht, dafür ein, dass sie sich vermehrt mit diesem wichtigen gesellschaftlichen Thema auseinandersetzen.
Ihre Diagnose ist eindeutig. Gemäss neuesten Studien ist der westliche Sport mehr als jeder andere Bereich von Rassismus betroffen. Wie konnte es dazu kommen?
Rassistische Parolen werden in der Öffentlichkeit (Arbeit, Schule usw.) immer weniger toleriert, doch der Sport ist eine der letzten Inseln, wo der Rassismus frei und allzu oft ungestraft zum Ausdruck kommt. Weshalb? Weil die Welt des Sports wie eine ideale, neutrale und gleichberechtigte Gesellschaft mit eigenen Regeln und Gesetzen präsentiert wird. So muss sich ein Sportler, der einen Gegner körperlich oder verbal angreift, nur vor seinem Verband verantworten und nicht vor der ordentlichen Justiz. Doch diese Lex Sportiva endet sehr oft im Gesetz des Schweigens. Da der Sport die Individuen entsprechend ihrer körperlichen Stärke hierarchisiert, rassifiziert dies den Blick. Die strategischen und psychologischen Qualitäten der schwarzen Athleten werden oft verschleiert. In den meisten Fällen ist der Rassismus im Sport nicht rational konstruiert. Er ist auf Emotion und Identifikation des Einzelnen mit einem Kollektiv begründet und hat eine enthemmende Funktion, die Gewaltimpulse und Abneigung gegenüber den anderen freisetzt.
Sie erwähnen auch die Gefahr einer medialen Grundtendenz, das Nationalgefühl anzuheizen…
Seit etwa zwanzig Jahren ist weltweit eine Nationalisierung des Images des Sports zu beobachten. Dies gilt insbesondere während den Olympischen Spielen. Um das Publikum für sich zu gewinnen, konzentrieren sich die Medien auf die nationalen Athletinnen und Athleten. Der internationale Friede durch den Sport, der Coubertin so wichtig war, ist nur noch ein Mythos. Die Reaktivierung des sportlichen Nationalismus ist nicht ungefährlich und dient als Terrain für Rassismus.
Es gibt verschiedene Ausdrucksformen von Rassismus: Rassismus als Verhalten, ideologischer Rassismus, Rassismus aus Vorurteil und institutioneller Rassismus. Welcher Kategorie lässt sich der Rassismus im Sport am ehesten zuordnen?
Der Sport ist zweifellos von allen diesen vier Ausdrucksformen betroffen. Der Rassismus als Verhalten ist vor allem auf dem Feld und auf den Tribünen präsent. Der ideologische Rassismus findet sich bei den radikalsten Hooligans. Der Rassismus aus Vorurteil stützt sich auf Stereotype, die weit verbreitet bleiben: der schwarze Athlet ist kräftiger und schneller, der asiatische beweglicher und disziplinierter und der weisse strategischer und fairer. Solche Vorurteile sind vererbt aus der Zeit der Sklaverei und des Kolonialismus. Der institutionelle Rassismus zeugt von einem Fehlen von Minderheitengruppen auf der Führungsebene, was bereits Edwards 1969 kritisiert hat. Alle diese Formen von Rassismus scheinen in vielen Reden und Medien durch.
Erlauben Sie mir, in diesem Zusammenhang den Auszug eines Porträts eines afrikanischen Spielers in der Tagespresse vorzulesen: «Fussball ist für ihn ein Spiel, keine Arbeit. Wie ein Kind strotzt Mohamed vor Lebensfreude. Und Basel darf sich rühmen, an der Ausbildung beteiligt gewesen zu sein». Was sagen Sie zu dieser Beschreibung?
Solche Sätze sind typisch für Sportfunktionäre und Sportjournalisten. Der afrikanische Spieler erscheint wie ein wildes Kind, das es zu zähmen gilt. Afrikanische Sorglosigkeit gegen europäische Rationalität. Diese Art der rassifizierten Sprache – die von einer guten Absicht ausgeht, indem ein gesellschaftlicher Erfolg aufgezeigt wird – ist deshalb nicht weniger tückisch und nur schwer auszutilgen.
Kann der im mediatisierten Sport zum Ausdruck kommende Rassismus paradoxerweise das Anliegen des Antirassismus vorantreiben?
Das hängt vor allem von der Reaktionsbereitschaft der Funktionäre und Medienschaffenden ab. Sie haben häufig die Tendenz, der Frage auszuweichen, anstatt klar gegen den alltäglichen Rassismus Stellung zu beziehen. Denn das Thema verkauft sich nicht, nur wenige Sportmagazine behandeln diese Frage. Offensichtliche und brutale Manifestationen von Rassismus können hingegen zu einer heilsamen Mobilisierung des Publikums, der Sportler, der Verantwortlichen und der Sponsoren führen. Die Reaktionen bleiben allerdings zu marginal und zu kurzlebig, um die Sache des Antirassismus tatsächlich voranzutreiben.
Seit wann nehmen sich die internationalen Sportverbände des Problems des Rassismus überhaupt an?
Ausser im Fussball haben wenige Verbände eine Gewissensprüfung vorgenommen und effektive Massnahmen ergriffen. Die internationalen Instanzen im Fussball haben erst spät in den 2000er-Jahren damit begonnen. Dies in der Folge der öffentlichen Empörung über eine Häufung von Bananenwürfen und Affenlauten in den Stadien gegen schwarze Spieler. Einige von ihnen waren stark genug, sich aufzulehnen. Sie waren Millionen wert, was ihnen eine Stimme und eine gewisse Macht verlieh. Aber die Reaktionen auf der Führungsebene waren eher durch Marketing-interessen motiviert als durch einen echten Reformwillen. In den Amateursport sind sie nicht tief genug eingedrungen.
Ist diese späte Bewusstwerdung damit zu erklären, dass Migranten in den Leitungsgremien des Sports kaum vertreten sind?
Ja, zweifellos. Im Sport lassen sich die Klubpräsidenten und Trainer mit dunkler Hautfarbe fast an einer Hand abzählen. Wird es genügen, die Sportler mit Migrationshintergrund auszubilden, damit sie Verantwortung übernehmen? Müsste man nicht umgehend wie in den USA eine Politik der positiven Diskriminierung betreiben?
Ein Mitautor Ihres Buchs sagt: «Das neue juristische Instrumentarium hat im professionellen Fussball nicht zu einer signifikanten Verringerung rassistischer Akte in den Stadien bei den Fans geführt». Teilen Sie diese Einschätzung?
Das repressive juristische Instrumentarium ist nicht stark genug. Dies weil die Position der Klubs heikel ist. Einerseits sind sie nicht verantwortlich für das Verhalten gewisser Fans. Andererseits müssen sie die Fans schonen, die zu ihrem finanziellen Gleichgewicht beitragen.
Wie steht es mit dem Amateursport in Europa?
Allgemein leidet der westliche Amateursport noch mehr unter Rassismus als der Profisport. Die Verwendung von Rassenkategorien in der Alltagssprache wird hier total banalisiert. Und diskriminierende Ausdrücke werden geleugnet, was ein Unbehagen widerspiegelt. Die Schiedsrichter und Trainer sind nicht dagegen gewappnet und fühlen sich allein gelassen.
Wer ist schlussendlich verantwortlich?
In erster Linie ist es ein gesellschaftliches Problem. Die Funktionäre, die für den Sport zuständigen Politiker und die Medienschaffenden haben eine moralische Vorbildfunktion. Sie sind nicht untätig. Aber oft sind sie auch machtlos gegenüber der Herausforderung des Rassismus. Den Rassismus im Sport zu bekämpfen ist einerseits eine gute Chance, und andererseits eine enorme Herausforderung.
Wenn Sie einen Zauberstab hätten, was würden Sie tun, um den Rassismus im Sport zu verhindern und zu eliminieren?
Ich empfehle, dass alle Verantwortlichen im Sport - Funktionäre und Trainer - sich weiterbilden lassen. Anstatt Millionen in weltumspannende Kommunikationskampagnen zu stecken, stünde es den Verbänden gut an, ihr Geld in die Aus- und Weiterbildung der eigenen Funktionäre auf allen Ebenen zu stecken. Die Organisationen und Vereine, die Rassismus bekämpfen, sind bereit, diese Rolle zu übernehmen. In der Praxis ist es einfach, die kleinen Gruppen von Hooligans einzugrenzen, die den Hass gegenüber anderen schüren. Hingegen ist es wesentlich komplizierter, das schmerzliche Problem des alltäglichen Rassimus zu lösen. Ich bin überzeugt, dass auf dem Boden des Amateursports der grösste Kampf gegen den Rassismus geführt werden muss und die grössten menschlichen Siege gefeiert werden können.
Das Gespräch führte Samuel Jordan