TANGRAM 41

Ausgebremst, angeschrien, schlecht behandelt. Rassismus gibt es auch im Radsport

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Sebastian Bräuer ist Sportredaktor bei der «Neuen Zürcher Zeitung».
Sebastian.braeuer@nzz.ch

Eine Debatte über den latenten Rassismus im Radsport wäre überfällig. Doch das Thema wird tabuisiert. Über die Anfeindungen im Peloton will fast niemand reden – doch es gibt ein paar Ausnahmen.

Sébastien Reichenbach ist das Gegenteil eines Selbstdarstellers. Er wirkt bereits leicht angespannt, wenn die Fahrerpräsentation vor einem Radrennen auf grosser Bühne stattfindet. Auf Interview-Anfragen reagiert er zurückhaltend. Und trotz seinem enormen Potenzial in den Bergen ist der Walliser Veloprofi, der für das französische Team FDJ fährt, am liebsten als Helfer unterwegs. Umso eindrücklicher war es, als dem 28-Jährigen einmal der Kragen platzte. «Ich bin schockiert, dass es im Profifeld immer noch Dummköpfe gibt, die rassistische Beleidigungen aussprechen», schrieb Reichenbach Ende April 2017 auf Twitter. «Ihr seid eine Schande für unseren Sport.»

Eine Debatte findet nicht statt

Reichenbachs Tweet richtete sich in erster Linie an Gianni Moscon aus dem Team Sky. Während der Tour de Romandie hatte der Italiener den dunkelhäutigen FDJ-Fahrer Kevin Reza beleidigt. Reza stellte Moscon unmittelbar nach dem Ende des Rennens zur Rede. Auf Bildern ist zu sehen, wie er mit ausgestrecktem Zeigefinger energisch auf ihn einredet. Aber Reichenbach, dem introvertierten Wasserträger aus Martigny, reichte das nicht. Bei ihm hatte sich ganz offensichtlich etwas aufgestaut. Eines erreichte der Walliser mit seiner Kritik: Moscon wurde von seiner Mannschaft Sky für sechs Wochen gesperrt.

Doch eine Debatte über den latenten Rassismus im Radsport vermochte er nicht loszutreten. Dabei gibt es Anzeichen, dass das überfällig wäre. Da sind etwa die Probleme der Kolumbianer. Ein paar von ihnen gehören seit Jahren zur Spitze des Pelotons. Aber der Beste, Nairo Quintana, wies 2010 unmissverständlich darauf hin, dass abfällige Bemerkungen keineswegs der Vergangenheit angehörten. «Es hat sich nichts geändert», sagte Quintana, der gerade die Tour de l'Avenir gewonnen hatte. Es habe Probleme mit Franzosen, Australiern und Amerikanern gegeben. «Sie wollten uns nicht an der Spitze des Feldes, sie haben uns ausgebremst, angeschrien, schlecht behandelt.» Quintana hat seit den negativen Erlebnissen in jungen Jahren seinen Weg gemacht. Aber er ist mental robust. Die Frage ist, was die negativen Erfahrungen mit einem psychisch labileren Jungprofi gemacht hätten.

In den letzten Jahren konnten sich im Radsport einzelne Afrikaner profilieren. Den Langstreckenlauf dominieren die Kenyaner und Äthiopier seit Jahren. Längst könnten sie prinzipiell auch im Radsport eine grössere Rolle spielen. Nur langsam holen ostafrikanische Fahrer auf. Daniel Teklehaimanot aus Eritrea sicherte sich an seiner ersten Tour de France 2015 zwischendurch das Trikot des besten Bergfahrers. Im gleichen Jahr wurde sein Landsmann Natnael Berhane bei der Österreich-Rundfahrt als «fucking nigger» beschimpft. Er und seine Teamkollegen sollen ausserdem mehrfach mit Affenlauten belästigt worden sein. Der Umgangston im Radsport ist rau, das ist bekannt. Aber wie schwer es Neulingen gemacht wird, wenn sie sich etwa bei einem Schlusssprint nicht hinten einreihen, sondern frech dagegenhalten, wird selten thematisiert. Wer noch keinen Namen hat, muss sich vieles anhören. Und wenn er schwarz ist, womöglich noch mehr.

Das südafrikanische Profiteam Dimension Data beschäftigt dieses Jahr drei Fahrer aus Eritrea. Das Management muss permanent um Einreisegenehmigungen kämpfen, um sie zu Rennen nach Europa schicken zu können. Über die Anfeindungen im Peloton will bei Dimension Data niemand reden. «Rassismus existiert natürlich immer noch», sagt ein Mediensprecher des Teams. Damit umzugehen solle aber den offiziellen Stellen überlassen werden.

Einsicht klingt anders

Das Thema wird tabuisiert. Tsgabu Grmay rät jungen afrikanischen Fahrern, verbale Übergriffe auch weiterhin nicht öffentlich zu thematisieren. Er war 2016 der erste Äthiopier, der an der Tour de France teilnahm, und musste sich während seines Aufstiegs einiges anhören. Manchmal wurde er angeschrien, wenn er in einer Abfahrt zu langsam war und Konkurrenten ausbremste. Grmay, der heute zum Team Trek gehört, empfand das nicht als rassistisch, wie er betont. Er sei bergab einfach zu schlecht gewesen. Grmay empfiehlt anderen Fahrern: «Schaut auf euch selbst. Wenn ihr euch auf Negatives fokussiert, hilft euch das nicht weiter. »

Der Sky-Fahrer Moscon, der Reza beleidigt hatte, fährt längst wieder Rennen. Als seine sechswöchige Suspendierung zu Ende war, sagte der Italiener, er habe ein reines Gewissen. Er habe niemanden getötet. Einsicht klingt anders. Im Oktober 2017 eskalierte offenbar sein Konflikt mit Reichenbach. Der Walliser wirft Moscon vor, er habe ihn im ita-lienischen Eintagesrennen Tre Valli Varesine in einer Abfahrt absichtlich zu Fall gebracht. Das wäre, sollte es stimmen, eine inakzeptable Retourkutsche. Reichenbach brach sich den Arm und musste die Saison beenden.

FDJ-Sportdirektor Martial Gayant reagierte im Oktober mit heftiger Kritik an Moscon auf den Vorfall. «Der Sturz hätte noch schlimmer enden können», sagte er. Moscon müsse auf mögliche psychische Probleme untersucht werden. Der Italiener fiel 2017 noch ein weiteres Mal negativ auf. An den Rad-Weltmeisterschaften in Bergen wurde er disqualifiziert, nachdem er sich an einem Teamfahrzeug festgehalten hatte. Aber als es um seinen dunkelhäutigen Fahrer Reza ging, lenkte Gayant das Gespräch in eine unerwartete Richtung. Auf den letzten Kilometern eines Rennens gehe es fast immer eng und hektisch zu, sagte er. Und in der Hitze des Gefechts fielen ab und zu unbedachte Worte. «Jeder will sich seinen Platz sichern», sagt Gayant. «Normalerweise lachen wir im Nachhinein über so etwas.»

Respekt – nicht nur für Teamkollegen

Der Franzose ist schon lange dabei. In den 1980er-Jahren war er selbst ein erfolgreicher Fahrer, bereits seit 2003 ist er Sportdirektor. Jetzt wirkt es, als wünsche sich Gayant, dass dem Radsport die rauen Sitten erhalten bleiben, dieser Kampf auf Biegen und Brechen, durchaus auch verbal. Gayant sagt, früher sei man freier gewesen, sich auch einmal undiplomatisch zu äussern. Heute müsse jeder Fahrer damit rechnen, überall beobachtet und gefilmt zu werden. «Ein falsches Wort, und es prasselt Kritik. »

Reichenbach wiederum hat Respekt für seinen Teamkollegen eingefordert. Und indirekt auch für andere Sportler, die Opfer rassistischer Attacken werden. Gayant will seinen Fahrer dafür natürlich nicht kritisieren, das ginge zu weit. Er sagt nur: «Sébastien ist eben sehr korrekt. » Offenbar korrekter als ein gewisser Teil des Pelotons.

Reza fährt mittlerweile nicht mehr für FDJ. Er wechselte zum Saisonbeginn zur deutlich kleineren Mannschaft Vital Concept Cycling Club. Die Äusserungen Moscons will er nicht mehr kommentieren. Er antwortet auf eine entsprechende Anfrage kurz angebunden: «Ich habe dazu nichts mehr zu sagen oder zu wiederholen. »