TANGRAM 37

Vorurteile erst gar nicht entstehen lassen

Die «Vielfaltbox» fördert die frühkindliche Toleranz

Autorin

Leila Feit ist Geschäftsführerin der GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus. Die Stiftung betreibt Öffentlichkeitsarbeit und unterstützt Projekte in den Bereichen Bildung und Erziehung, Politik und Recht.
l.feit@gra.ch

Mit der «Vielfaltbox» sollen Kinder im Vorschulalter spielerisch einen vorurteilsfreien Umgang mit Unterschieden und Gemeinsamkeiten erfahren. Nach einem erfolgreich verlaufenen Pilotprojekt der GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus steht das praktische Instrument ab Ende 2016 für Kitas und Spielgruppen zur Verfügung.

Die «Vielfaltbox» samt pädagogischem Handbuch wurde von der GRA gemeinsam mit dem Marie Meierhofer Institut für das Kind (MMI) in enger Zusammenarbeit mit zwei Projekt-Kindertagesstätten (Kitas) und einem fachlichen Beirat entwickelt. Die Box soll Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in Kindertagesstätten die Gelegenheit bieten, Toleranz und den respektvollen Umgang mit Mitmenschen zu erleben.

Die Idee der frühkindlichen Toleranzförderung geht auf jahrzehntelange Beobachtungen des Präsidenten der GRA, Ronnie Bernheim, zurück. Ausgrenzendes Verhalten gegenüber einzelnen Menschen und Gruppen beginnt viel früher, als dies in der öffentlichen Erziehung bislang thematisiert wurde. Bernheim stellte sich attraktive Spiele vor, die den Kindern im Vorschulalter und den begleitenden Erwachsenen die Möglichkeit geben, altersgerecht Ausgrenzung und Zivilcourage zu erfahren.

Gefühle und Erfahrungen in Beziehungen beeinflussen uns schon ab der frühsten Kindheit. Deshalb wirken sich frühe Begegnungen und Erlebnisse umfassend und nachhaltig aus. Macht ein Kind in jungen Jahren positive Erfahrungen mit «andersartigen» Kindern, und kann es Erwachsene als Vorbilder für Toleranz nehmen, so ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass sich sein Sinn und seine Kompetenzen für tolerantes Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln positiv entwickeln können.

Box oder Tasche als Prototypen

Als Einstieg in die Thematik besuchten die Teams der am Projekt beteiligten Kitas zu Beginn der Entwicklungsetappe eine eintägige Weiterbildung zum Projekt-Thema «Frühkindliche Bildung zu gegenseitiger Toleranz und zu einem wertschätzenden Umgang mit Vielfalt». Danach wurden in den Kitas Materialien zum Thema gesammelt und Situationen schriftlich und fotografisch festgehalten. Begleitet wurde dieser Prozess von einer Fachperson des MMI. In einem gemeinsamen Workshop wurden die gesammelten Materialien und gemachten Erlebnisse diskutiert und ausgewertet. Dieser Prozess sowie die Ergebnisse und Materialien aus dem Workshop wurden von der Begleitgruppe evaluiert und gemeinsam mit den Kitas weiterentwickelt. Das Ergebnis war der Prototyp der «Vielfaltbox», wovon drei Stück angefertigt wurden. Zusätzlich zu diesen drei ersten Boxen wurden sieben weitere Prototypen entwickelt, die ein anderes Design aufweisen: Die Materialien und das Handbuch werden in einer bunten Tasche angeboten, wodurch die Produktionskosten erheblich gesenkt werden. Zudem soll so getestet werden, wie stark das Aussehen der «Vielfaltbox» die Kinder beeinflusst und welches Design sie stärker dazu animiert, sich mit dem Inhalt auseinanderzusetzen. Die zehn Prototypen werden in unterschiedlichen Kitas getestet. Nach einer letzten Evaluation dieser Testphase werden ab Ende 2016 die «Vielfaltboxen» in Serie hergestellt und möglichst breit gestreut.

Fragen-Fächer und Duplo-Figuren

Das Kernziel des Projekts, die Entwicklung des Prototyps der «Vielfaltbox», wurde in einer weit über die Erwartungen hinausgehenden Weise erreicht: Inhalt sind Materialien, die sich zur Thematisierung von Vielfalt eignen, ausserdem Karteikarten für die aktive Auseinandersetzung mit der Thematik sowie ein Handbuch für die Fachpersonen. Die Box selber widerspiegelt mit ihrem farbenfrohen Äusseren den vielfältigen Inhalt und soll Kinder dazu anregen, sich lustvoll mit den Materialien und der Box auseinanderzusetzen und diese mit allen Sinnen zu erkunden. Das Handbuch bietet eine theoretische Einführung in die Thematik, Informationen zum Projekt sowie Praxisbeispiele und Reflexionsbögen.

Die Box enthält verschiedene Utensilien, darunter einen sogenannten Fragen-Fächer: Offene Fragen sind ein guter Einstieg in spannende Gespräche, weil sie zum Nachdenken über verschiedenste Themen anregen. Die Fragen drehen sich alle um das Thema Vielfalt. Die Kinder dürfen eine Frage aus dem Fächer aussuchen, zum Beispiel: «Wer gehört alles zu deiner Familie?» oder: «Was kannst du besonders gut?» oder: «Wen kennst du, der lange Haare/kurze Haare/eine Brille hat?» Die Fachkraft liest die von Kind ausgewählte Frage vor. Gemeinsam werden Gedanken und Antworten darauf gesucht und ausgetauscht. Die Fachpersonen lassen sich beim Dialog vom Kind leiten. Die dabei entstehenden wechselseitigen Austausche bergen ein hohes Potenzial für frühkindliche Bildungs- und Lernprozesse.

Weiter enthält die Box ein Set an Duplo-Figuren: Kinder, Frauen und Männer mit unterschiedlichstem Aussehen; junge und ältere Personen, Menschen mit einer Beeinträchtigung, Personen mit verschiedenen kulturellen und beruflichen Hintergründen. Das Spiel mit den Figuren soll die Kinder dazu anregen, sich kreativ mit Unterschieden und Gemeinsamkeiten auseinanderzusetzen. Die Fachkräfte können sich gezielt in das Spiel einbringen und die Kinder auf das vielfältige Aussehen, die unterschiedliche Kleidung und die zu den Figuren gehörenden Utensilien hinweisen.

Während der gesamten Entwicklung der «Vielfaltbox» haben die Projekt-Kitas hochmotiviert mitgearbeitet. Neben der Zusammenstellung der Materialien fand eine weit darüber hinausgehende Auseinandersetzung mit der Thematik statt. So wurden spezifische Elternabende und Teamsitzungen abgehalten, Räume umgestaltet sowie Ausflüge unternommen. Das Ziel, die frühkindliche Bildung zur Toleranz und den vorurteilsfreien Umgang mit anderen zu erleben, wurde erreicht und als Bereicherung betrachtet. So fasste eine Erzieherin einer der Projekt-Kitas ihre Eindrücke wie folgt zusammen: «In unserer Kita sind etliche Nationen vertreten, sei es bei den Kindern oder im Team. Aus diesem Grund waren wir mit dem Thema ‚kulturelle Vielfalt’ bereits vertraut. Was es jedoch bedeutet, das Thema Vielfalt und Toleranz nicht nur auf Kulturen, sondern auf alle Bereiche des Lebens zu beziehen, wurde uns erst durch das Arbeiten am Projekt bewusst. (…) Zu Beginn scheint es viel Arbeit zu sein, ein solch breites Thema in der Kita gezielt aufzugreifen. Sobald man sich aber intensiver damit auseinandersetzt und austauscht, schärft sich der Blick für alltägliche Situationen, die dazu genutzt werden können, mit den Kindern über Gemeinsamkeiten und Unterschiede ins Gespräch zu kommen. Bei uns hat die Teilnahme an diesem Projekt dazu beigetragen, den Blick zu erweitern, offener zu sein und ein Bewusstsein für Vielfalt in Bezug auf verschiedene Bereiche des Lebens zu entwickeln.»